Rückblick 2023: Reichen die Maßnahmen des ALBVVG?

Der Kampf gegen die Lieferengpässe

Stuttgart - 28.12.2023, 07:00 Uhr

Der Blick in den leeren Schub ist nach wie vor typisch in Apotheken. (Foto: ABDA)

Der Blick in den leeren Schub ist nach wie vor typisch in Apotheken. (Foto: ABDA)


Dass Arzneimittel-Lieferengpässe ein ernst zu nehmendes Problem sind, weiß man in Apotheken schon seit vielen Jahren. Doch 2022 nahmen sie Ausmaß und Formen an, dass auch die Politik sie nicht länger ignorieren kann. Vor allem wichtige Kinderarzneimittel wurden zur Mangelware. Mit dem Engpassgesetz ALBVVG soll alles besser werden ...

Vor einem Jahr, kurz vor Weihnachten 2022, hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) seine Eckpunkte für ein Gesetz vorgelegt, das Lieferengpässe vermeiden, die Versorgung mit Kinderarzneimitteln verbessern und den Produktionsstandort EU stärken sollte. Denn die Lage ist prekär: Die Zahl der Lieferengpässe ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen – und immer wieder führen sie auch zu Versorgungsengpässen, etwa, wenn Präparate gegen onkologische Erkrankungen betroffen sind (z. B. Tamoxifen, Folinate), aber auch bei Antibiotika und Arzneimitteln zur Fiebersenkung bei Kindern. Auch Lauterbach räumt ein, dass die Globalisierung und der starke Kostendruck auf Generika mitursächlich sind: Bei patentfreien Arzneimitteln habe man es „mit der Ökonomisierung übertrieben“, erklärt er wiederholt. Tatsache ist: Viele Wirkstoffe und Arzneimittel werden nur noch an wenigen Standorten hergestellt, vor allem in günstigen Drittstaaten wie China und Indien. Läuft an einem Ort was schief, kann das schnell weitreichende Konsequenzen haben. Im vergangenen Winter war die Situation allerdings auch deshalb so dramatisch, da die Infektionswelle so heftig ausfiel. Nachdem sich die Menschen in der Pandemie sozial distanziert hatten und die Maske zum Alltag gehörte, schienen sie nun alle Krankheitserreger auf einmal auf sich zu ziehen. Die Nachfrage nach Arzneimitteln war entsprechend hoch – darauf war der Markt, der in der Pandemie eher heruntergefahren war, nicht vorbereitet.

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Lauterbachs Stellschrauben

Lauterbachs Ansatz, um solche Situa­tionen künftig zu vermeiden: Für bestimmte Kinderarzneimittel, die der beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ange­siedelte Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen zuvor bestimmt hat, soll Schluss sein mit Rabattverträgen und Festbeträgen. Zudem sollen Apotheken dauerhaft flexibilisierte Austauschregeln nach dem Vorbild der Pandemieregeln (SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung) eingeräumt werden, wenn ein verordnetes Arzneimittel nicht verfügbar ist. Allerdings ist zunächst eine erhebliche Einschränkung vorgesehen: Die erleichterten Austauschregeln sollen nur noch für solche Arzneimittel gelten, für die der BfArM-Beirat zuvor eine kritische Versorgungslage festgestellt hat. Zudem sehen schon die Eckpunkte für das kommende Engpassgesetz vor, dass Apotheken künftig einen Zuschlag von 50 Cent erhalten sollen, wenn sie nach den neuen gesetzlichen Vorgaben substituieren. Weiterhin soll künftig bei Rabattvertragsausschreibungen für bestimmte Generika (zum Start: Antibiotika) ein Los auch die europäische Wirkstoffproduktion berücksichtigen. Auch die Lagerhaltungsfristen sollen erhöht werden. Und die Festbeträge dürfen in bestimmten Fällen steigen.

Das Schicksal der geschätzten Pandemie-Austauschregeln

Im Februar legt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) den Referentenentwurf für das Arzneimittel-Liefer­engpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) vor, mit dem die Eckpunkte umgesetzt werden sollen. Die ABDA hatte zwar schon lange gefordert, dass die flexiblen Austauschregeln der Pandemie gesetzlich verstetigt werden. Aber so wie es jetzt geplant ist, hatte sie es sich nicht vorgestellt. Der 50-Cent-Zuschlag sei eine „Frechheit“ und keinesfalls eine Wertschätzung der tagtäglich in Apotheken geleisteten Arbeit. Und auch die geplante Einschränkung auf vom BfArM gelistete Arzneimittel kommt bei den Apotheken gar nicht gut an.

Klar ist überdies: Da das ALBVVG vor Ostern nicht unter Dach und Fach zu bekommen ist, muss auch eine Übergangslösung her. Denn am Karfreitag 2023 läuft die SARS-CoV-2-Arznei­mittelversorgungsverordnung aus, die den Apotheken fast drei Jahre das Leben erleichtert hat. Auch wenn sie ursprünglich bezweckte, Kontakte zu reduzieren, erwies sie sich als Segen, um die Menschen in Zeiten der Engpässe überhaupt vernünftig und ohne Retaxgefahr versorgen zu können. Je näher Ostern rückt, desto nervöser wird die Apothekerschaft. Mitte März – bemerkenswerterweise einen Tag bevor die ABDA eine Pressekonferenz anberaumt hat, in der sie nochmals dringlich eine Anschlussregelung einfordern will – wird die Politik tatsächlich aktiv. Die Ampelfraktionen bringen einen Änderungsantrag zu einem Gesetz zur Neustrukturierung der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland („UPD-Gesetz“) ein. Er sieht vor, die Austauschregeln der Pandemie-Verordnung eins zu eins als Übergangsregelungen sowohl ins Sozialgesetzbuch als auch in die Apothekenbetriebsordnung (für Selbstzahler und Privatversicherte) zu überführen – befristet bis zum 31. Juli 2023. Das UPD-Gesetz befindet sich bereits in den letzten Zügen des parlamentarischen Verfahrens und soll vor Ostern in Kraft treten. Obwohl es am 31. März vom Bundesrat gebilligt wird, lässt die Veröffentlichung im Bundesanzeiger aus unerfindlichen Gründen auf sich warten. Glücklicherweise setzt sich das BMG angesichts dieser so nicht beabsichtigten Hängepartie für die Apotheken ein und fordert die Kassen zum Retax-Verzicht in der Schwebezeit auf. Erst am 16. Mai tritt die gesetz­liche Übergangsregelung in Kraft.

ALBVVG-Entwurf im Wandel

Während dieser Zeit nimmt das ALBVVG Formen an. Dem Referentenentwurf folgt eine Kabinettsvorlage, der Anfang April ein nochmals ver­änderter Kabinettsbeschluss folgt – die Regelungen im Detail sind dabei im steten Wandel. So nimmt Lauterbach Abstand von der Verknüpfung der flexibleren Austauschregeln mit einer neuen BfArM-Liste. Die neue Regelung (§ 129 Abs. 2a SGB V) stellt nun darauf ab, dass das Arzneimittel „nicht verfügbar“ ist, d. h. nicht innerhalb einer angemessenen Zeit beschafft werden kann (dazu sind zwei unterschiedliche Anfragen bei vollversorgenden Großhändlern zu stellen). Dafür fällt erstaunlicherweise das Retax-Verbot für die Kassen in diesen Engpassfällen unter den Tisch.

Unterstützung aus den Ländern

Das parlamentarische Verfahren startet. Zunächst steht aber ein erster Durchgang im Bundesrat an. Und die Länder sehen in vielen Punkten Nachbesserungsbedarf – auch mit Blick auf die Apotheken. Der Engpass-Austausch soll aus ihrer Sicht einfacher gestaltet und vor Retaxationen geschützt sein. Die Länder plädieren zudem für ein weitergehendes Nullretax-Verbot auch in anderen Konstellationen sowie den Verzicht auf eine Präqualifizierung bei der Abgabe apothekenüblichlicher Hilfsmittel. Nicht zuletzt fordern sie die Bundesregierung auf, die Vergütung der Apotheken auf eine auskömmliche Grundlage zu stellen.

Auch in der Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages hagelt es Kritik. Die ABDA fordert z. B. die erleichterten Austauschregeln daran zu knüpfen, dass ein Arzneimittel nicht vorrätig ist. Zudem soll auch der Austausch gegen andere Darreichungs­formen oder selbst hergestellte Arzneimittel möglich sein. Und: Sie fordert 21 Euro statt 50 Cent fürs Engpass­management. Den Ländervorstoß zur Abschaffung der Präqualifikation greift die ABDA ebenfalls gerne auf.

Ende Juni steht das Paket

Ende Juni beschließt der Bundestag das Gesetz. Ansatzpunkt für die flexibleren Austauschregeln ist letztlich ein „nach Maßgabe des Rahmenvertrags“ nicht verfügbares Arzneimittel (es reicht eine erfolglose Verfügbarkeitsfrage, wenn die Apotheke von nur einem vollversorgenden Großhändler beliefert wird). In diesem Fall kann gegen ein verfügbares wirkstoffgleiches Arzneimittel ausgetauscht werden. Und ohne Rücksprache mit dem Arzt dürfen Apotheken von der Verordnung im Hinblick auf Folgendes abweichen, sofern hierdurch die verordnete Gesamtmenge des Wirkstoffs nicht überschritten wird:

  • die Packungsgröße, auch mit einer Überschreitung der nach der Packungsgrößenverordnung maßgeb­lichen Messzahl,
  • die Packungsanzahl,
  • die Abgabe von Teilmengen aus der Packung eines Fertigarzneimittels, soweit die verordnete Packungs­größe nicht lieferbar ist, und
  • die Wirkstärke, sofern keine pharmazeutischen Bedenken bestehen.

Die Ampel besinnt sich darauf, dass es in diesen Fällen keine Retaxationen geben darf. Es bleibt bei den 50 Cent zzgl. Mehrwertsteuer als Engpass-Zuschlag. Eine weitere Neuerung: Können die Arzneimittel nur noch in Kleinpackungen abgegeben oder muss aus einer Packung eine Teilmenge entnommen werden, wird die Zuzahlung für die Versicherten auf die abgegebene Menge begrenzt.

Zudem fällt die Präqualifikation für apothekenübliche Hilfsmittel tat­sächlich und es werden verschiedene explizite Retaxausschlüsse gesetzlich fixiert. Der Gesetzgeber kommt den Apotheken bei diesen langjährigen Forderungen wohl entgegen, da ihm doch bewusst ist, was sie in den vergangenen Jahren geleistet haben, er aber offensichtlich nicht gewillt ist, das Fixum zu erhöhen.

Das ALBVVG tritt Ende Juli in Kraft und ab 1. August gelten die neuen Austauschregeln. Es zeigt sich allerdings, dass Deutscher Apothekerverband (DAV) und GKV-Spitzenverband unterschiedliche Ansichten haben, wie die neuen Regeln zu interpretieren sind. Der DAV bittet daher das BMG um Auslegungshilfe und bekommt diese auch – leider nicht in seinem Sinne. Das BMG stützt vielmehr die restriktiven Annahmen des GKV-Spitzenverbandes. Insbesondere sind nach wie vor alle Stufen der Abgaberangfolge nach dem Rahmenvertrag zu prüfen – eine spürbare Erleichterung für Apotheken sieht anders aus. Zudem bekräftigt das BMG, dass die neuen Vorgaben zum Retaxschutz nur für Beanstandungen gelten, die nach Inkrafttreten des ALBVVG ausgesprochen wurden – und nicht für alle zu diesem Zeitpunkt anhängigen (DAZ 44, S. 14).

Nachschlag bei „dringlichen“ Kinderarzneimitteln

Es dauert nicht lange, bis der Minister merkt, dass die Versorgungslage vor allem bei Kinderarzneimitteln trotz ALBVVG auch in der nächsten Erkältungssaison brenzlig werden könnte. Denn gerade die neuen Anreize für Hersteller zeigen keine schnelle Wirkung. Als Lauterbach im August den Großhandelsverband Phagro bittet, dieser möge dafür sorgen, dass die Großhändler ihre Vorratshaltung für Kinderarzneimittel „intensivieren“, die das BfArM auf einer flink erstellten „Dringlichkeitsliste“ vermerkt hat, bekommt er eine Abfuhr. Auch wenn das ALBVVG erhöhte Vorratspflichten mit sich bringt, kann der Phagro nur entgegnen: Wo nichts ist, kann auch nichts bevorratet werden. Im September trifft sich Lauterbach mit Vertretern von Apotheker- und Ärzteschaft sowie der Pharmaindustrie und präsentiert anschließend einen Plan zur Sicherung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln in diesem Herbst und Winter. Dabei betont er, Deutschland sei jetzt schon „deutlich besser auf­gestellt“ als im vergangenen Jahr. Die Produktionsmengen kritischer Kinderarzneimittel und Antibiotika seien gegenüber Herbst-Winter 2022/23 deutlich gesteigert. Dennoch soll es künftig regelmäßige Situationsanalysen geben. Zudem sollen die Austauschmöglich­keiten für Apotheken bei Kinderarzneimitteln der „Dringlichkeitsliste“ aus­geweitet werden: Hier soll auch eine wirkstoffgleiche Rezeptur oder eine andere Darreichungsform ohne Retaxgefahr abgegeben werden dürfen.

Wenig später konkretisiert ein Änderungsantrag zum Pflegestudiumstärkungsgesetz die Pläne zur flexibleren Substitution. Die ABDA kritisiert jedoch die Verknüpfung mit der Dringlichkeitsliste scharf. Im Oktober beschließt der Bundestag die Gesetzesänderung, im November gibt auch der Bundesrat grünes Licht. Mitte Dezember treten die Neuerungen in Kraft. Auch wenn die BfArM-Dringlichkeitsliste bereits vor dem 1. Dezember grundlegend überarbeitet und präzisiert wurde und Absprachen mit der ABDATA getroffen wurden: Die ABDA hält die Liste für wenig praktikabel. Zudem: Anders als beim Engpassaustausch, der mit dem ALBVVG eingefügt wurde, ist für den Austausch der Kinderarzneimittel der Dringlichkeitsliste (§ 129 Abs. 2b SGB V) nicht einmal ein 50-Cent-Zuschlag vorgesehen.

Auch wenn der Gesetzgeber 2023 den Kampf gegen Engpässe begonnen hat – gewonnen hat er ihn noch nicht.


Kirsten Sucker-Sket
redaktion@daz.online


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