Pandemie Spezial

Das Dilemma der SARS-CoV-2-Impfstoffbeurteilung

Ein Gastkommentar

Impfen gilt als die beste Strategie, um die COVID-19-Pandemie zu überwinden ‒ vorausgesetzt es stehen wirksame und sehr sichere Impfstoffe zur Verfügung. Denn da Gesunde geimpft werden, hat das Prinzip des „primum non nocere“ eine herausragende Bedeutung. Welch große Verantwortung auf den zulassenden Behörden lastet und in welchem Dilemma sie stecken, kommentiert Dr. Roberto Frontini, der seit 2019 alternierendes Mitglied des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der Europäischen Arzneimittelagentur ist.
Foto: Roberto Frontini

Dr. Roberto Frontini war bis zu seiner Pensionierung 2018 Direktor der Klinikapotheke am Universitätsklinikum Leipzig. Zwischen 2009 und 2015 war er der Präsident der European Association of Hospital Pharmacists. Er ist alternierendes Mitglied des Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) der EMA.

Schon im letzten Jahr entwickelte die European Medicines Agency (EMA) in Anbetracht der pandemischen Situation Strategien, um möglichst schnell, transparent und gleichzeitig ohne Einschränkung bei Sicherheitsaspekten Zulassungen zu ermöglichen. Dazu gehörte die Implementierung einer Task Force für SARS-CoV-2-Impfstoffe und zusätzliche, flexible Termine der zwei zuständigen Ausschüsse CHMP (Committee for Medicinal Products for Human Use) und PRAC (Pharmacovigilance Risk Assessment Committee). Auch gibt es zwei regulatorische Möglichkeiten, um Impfstoffe schneller Verfügbar zu machen: Das Rolling-Review-Verfahren, das heißt die Evaluation der vorhandenen Daten sofort nach Verfügbarkeit und nicht – wie sonst üblich – erst beim Antrag auf Zulassung, und die Erteilung einer Conditional Marketing ­Authorisation, einer bedingten Zulassung. Diese ist – anders als die in einigen Ländern erteilte Notzulassung – eine vollwertige Zulassung, die allerdings nach einem Jahr bestätigt werden muss. An die bedingte Zulassung ist die monatliche Prüfung der Sicherheit durch das PRAC geknüpft. Auf diese Weise konnten bisher vier Impfstoffe zugelassen werden:

  • Comirnaty® (Biontech/Pfizer am ­21. Dezember 2020),
  • COVID-19 Vaccine Moderna (am 6. Januar 2021),
  • Vaxzevria® (zuerst unter der Bezeichnung COVID-19 Vaccine AstraZeneca am 29. Januar 2021) und
  • COVID-19 Vaccine Janssen (am 11. März 2021).

Drei weitere Impfstoffe befinden sich im Rolling-Review-Verfahren: CVnCoV von CureVac, NVX-CoV2373 von Novavax und Sputnik V von Russia’s Gamaleya National Centre of Epidemio­logy and Microbiology.

Zu heftigen Diskussionen führten Berichte über Todesfälle durch zerebrale Sinusvenenthrombosen im Zusammenhang mit der Anwendung von Vaxzevria®, die zum Teil den Stopp der Impfungen zur Folge hatte. In Deutschland lösten auch die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut (STIKO) Verwirrung aus: Zuerst empfahl die STIKO, Vaxzevria® nicht bei älteren Personen, später dagegen nur bei Personen über 60 Jahren einzusetzen. Nach eingehender Prüfung stufte die EMA am 7. April 2021 Vaxzevria® trotz der bestätigten Todesfälle ohne Einschränkungen weiter als wirksam und sicher ein [1].

Solche Informationen führen unweigerlich zur Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger und sind auch für Apothekerinnen und Apotheker unangenehm, die mit Fragen dazu konfrontiert werden. Was ist richtig, wie lässt sich das erklären? Und wie soll man Kundinnen und Kunden beraten? Zuerst ist festzuhalten, dass CHMP und PRAC wissenschaft­liche Kommissionen der EMA sind, die nur vorhandene Daten bewerten und Empfehlungen zum Nutzen-Risiko-Verhältnis eines Arzneimittels bzw. Impfstoffes aussprechen. Die Zulassung selbst erteilt die Europäische Kommission auf Basis der Empfehlungen. Bei allen zugelassenen Impfstoffen (und nicht nur bei den COVID-19-Vikzinen) wird das Nutzen-­Risiko-Verhältnis als extrem positiv eingeschätzt. Das bedeutet, dass das Risiko, durch die Impfung Schaden zu nehmen, um mehrere Potenzen geringer ist, als das Risiko, sich zu infizieren und schwer zu erkranken. Aber auch beim besten Impfstoff ist ein Restrisiko niemals auszuschließen.

Wann ist ein Signal „auffällig“?

Auch wenn bei der Zulassung die Daten der klinischen Studien ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis belegen, kann sich das im Laufe der Zeit ändern, wenn seltene oder gravierende unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auftreten. Eine Bewertung übernimmt das PRAC in periodischen Abständen, die mehrere Jahre oder – im Falle der COVID-19-Impfstoffe – nur einen Monat ­betragen. Signale über solche unerwünschten Wirkungen werden in Post-Marketing-Studien erkannt, zu ­denen die EMA Hersteller bei der Zulassung verpflichtet. Die Signale beruhen auf Meldungen der Heilberufe oder auf Spontanmeldungen, die in der EudraVigilance-Datenbank als Verdachtsfälle auch von Patienten aufgenommen werden. Hier wird das erste Dilemma einer wissenschaftlichen Bewertung durch das PRAC deutlich: wie auffällig ist ­auffällig? Unerwünschte Wirkungen können durch andere Arzneimittel oder im Zusammenhang mit Komorbiditäten auftreten. Sind nur sehr wenige Fälle bekannt, die sich von der normalen Inzidenz solcher Ereignisse in der Allgemeinbevölkerung kaum unterscheiden, ist eine wissenschaftliche Aussage kaum möglich, ob es sich um eine UAW oder einfach um Zufall handelt. Oft werden deswegen Zusammenhänge nicht erkannt, wie z. B. beim Auftreten von Thrombosen bei jungen Frauen, die orale Kontrazeptiva an­wenden. Möglich ist auch, dass unerwünschte Wirkungen nicht gemeldet werden (under-reporting). Das Ergebnis ist gleich: Die Zahlen bleiben niedrig und ein Signal kann unmöglich festgestellt werden. Das erklärt, warum die EMA noch vor wenigen Wochen nichts Definitives über die bereits bekannten, sehr seltenen zerebralen Thrombosen bei Vaxzevria® aussagen konnte. Wird – wie im Fall der Corona-Impfstoffe – eine unerwünschte Wirkung in vielen Medien kommuniziert, schnellen die spontanen Meldungen innerhalb weniger Tage hoch. Das Risiko ist hier ein Confirmation Bias: es werden auch Verdachtsfälle gemeldet, die sehr wahrscheinlich andere Ursachen haben, weil eben diese UAW erwartet wird. Die EMA hat auf die steigende Zahl von UAW-Meldungen reagiert und eine Ad-hoc-Expertengruppe gebildet. Viele Verdachtsmeldungen konnten zwar mit der Impfung in Zusammenhang gebracht werden, aber hier lauert das zweite Dilemma der wissenschaft­lichen Bewertung: Korrelation ist nicht gleich Kausalität.

Korrelation ist nicht gleich ­Kausalität

Um den Verdacht einer Kausalität zu erhärten, müssen die Daten nach den sogenannten Bradford-Hill-Kriterien bewertet werden, die z. B. auch eine plausible pathophysiologische Erklärung beinhalten. Erst nach dieser (in Rekordzeit erstellten) Auswertung konnte die EMA am 7. April 2021 die sehr seltene UAW bestätigen. Legt man die gleichen wissenschaftlichen Maßstäbe an, muss erwähnt werden, dass obwohl in der Gruppe der Frauen unter 60 Jahren vermehrt zerebrale Sinus­venenthrombosen auftraten, keine Risikogruppe identifiziert werden konnte. Das heißt, dass die Häufung durchaus andere Ursachen haben könnte. Nach wissenschaftlichen Kriterien kann also nur bestätigt werden, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis für alle zu Impfenden positiv ist und bleibt. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich das Nutzen-Risiko-Verhältnis für Vaxzevria® und auch für andere Impfstoffe trotz weiterer Meldungen ändern wird: Schon jetzt liegen Daten zu Millionen von Impfungen vor, die beruhigen. Wir werden vielleicht mehr unerwünschte Wirkungen entdecken, aber gravierende werden sehr selten bleiben.

Emotionen nicht unterschätzen

Die wissenschaftliche Bewertung der Daten kann nicht das größte Dilemma zwischen Wissen und dessen Anwendung lösen: Das Thema Impfen ist emotional belastet, da kein Leidensdruck wie bei einer Krankheit dahintersteht. Rationalität ist nicht die einzige positive Eigenschaft des Menschen: Auch Emotionalität ist berechtigt und ernst zu nehmen. Die Politik muss diesen Aspekt in ihren Entscheidungen genauso berücksichtigen wie die pandemische Situation, die Verfügbarkeit von Intensivbetten oder den Anteil eines Impfstoffes an der gesamten Impfstoffkapazität. All diese Punkte spiegeln sich in Europa von Land zu Land in sich stark unterscheidenden Zahlen und Vorgehensweisen wider. Das gleiche, von der EMA objektiv festgestellte Risiko, kann im nationalen Zusammenhang durchaus zu einer unterschiedlichen Bewertung führen. Das war ein wichtiger Punkt der Mitteilung der EMA und erklärt, warum es durchaus vernünftig ist, dass die STIKO in Deutschland andere Empfehlungen ausgesprochen hat als die EMA oder z. B. Großbritannien, wo Vaxzevria® eine viel größere Rolle spielt.

Wissenschaftliche Behörden wie die EMA können uns zwar z. B. sagen, wie gefährlich das Autofahren ist. Sie können die Risiken benennen und quantifizieren. Ob wir diese Risiken auf uns nehmen oder andere, sicherere Alternativen benutzen, ob wir Risiken re­duzieren, indem wir z. B. langsamer fahren, hängt von vielen Faktoren ab. Nicht selten spielen emotionale und kulturelle Aspekte eine Rolle. Die verwirrend erscheinenden Empfehlungen um den Impfstoff von Astra­Zeneca sind ein lehrreiches Beispiel. |

Literatur

AstraZeneca’s COVID-19 vaccine: EMA finds possible link to very rare cases of unusual blood clots with low blood platelets. News der EMA vom 7. April 2021. www.ema.europa.eu

Hinweis: Der Beitrag spiegelt die Meinung des Autors wider und nicht die der EMA.

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