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Pandemie Spezial
Provozieren für den Erkenntnisgewinn?
Probanden gezielt infizieren – und das Risiko auf ein akzeptables Maß reduzieren
Infektionsstudien beim Menschen (human infection studies), auch Modelle zur kontrollierten Infektion beim Menschen (controlled human infection models, CHIM) oder Provokationsstudien (human challenge trials, HCT) genannt, beinhalten die absichtliche Exposition von Freiwilligen gegenüber Krankheitserregern. Sie können dazu dienen, den Verlauf einer Infektionskrankheit näher zu untersuchen oder auch Impfstoffe oder Behandlungen zu erproben [1].
Nicht für alle Erreger
Für solche Versuche gibt es bislang keinen harmonisierten internationalen Rechtsrahmen [2]. Als Anleitung für nationale Regulierungsbehörden, Impfstoffentwickler, Prüfer und Ethikkommissionen hat die Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2016 ein Dokument mit regulatorischen Überlegungen zu Provokationsstudien für die Entwicklung von Impfstoffen herausgegeben [3]. Hiernach können diese in Betracht gezogen werden, wenn die Krankheit, die ein Organismus verursacht, einen akuten Beginn hat, leicht und objektiv erkannt werden kann und wenn es wirksame Behandlungen (ob kurativ oder palliativ) dafür gibt. Sie kommen also keineswegs für alle Organismen infrage.
Wofür werden Challenge-Studien durchgeführt?
Mögliche Zwecke von Provokationsstudien mit Impfstoffen können laut WHO unter anderem sein:
- Charakterisierung des Provokationsstandards und des Modellsystems,
- klareres Verständnis der Pathogenese und Immunität gegen den Organismus,
- Identifizierung potenzieller Immunkorrelate des Schutzes, die dann in einer traditionellen Wirksamkeitsstudie validiert werden müssten,
- Entwicklung des optimalen Studiendesigns für traditionelle zulassungsrelevante Wirksamkeitsstudien,
- Proof of Concept, ob ein bestimmter Impfstoffkandidat Schutz bieten könnte oder nicht,
- Vorselektion potenzieller Impfstoffkandidaten,
- Untersuchung nach der Zulassung, ob die Immunität gegen Impfungen nachlässt und ob oder wann Auffrischungsdosen erforderlich sein könnten.
Vorteile von human infection studies
In der Impfstoffforschung wird in solchen Studien eine kleine Gruppe junger freiwilliger Probanden (eher im Zehner- als im Hunderterbereich) mit einem Impfstoffkandidaten geimpft und zwei bis vier Wochen später mit einer kontrollierten Dosis des Zielerregers infiziert. Erkranken die Probanden nicht, so bedeutet dies, dass der Impfstoff wirkt. Wer krank wird, erhält eine bestehende wirksame Behandlung [4]. Der Ansatz klingt bestechend, denn mit der kontrollierten Infektion lässt sich die Schutzwirkung eines Impfstoffs viel schneller und mit weniger Studienteilnehmern untersuchen, weil man nicht auf zufällige Ansteckungen im Alltag warten muss. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Studien unter extrem kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden. Der Gesundheitszustand der Freiwilligen wird genau überwacht, um zu sehen, wie eine Krankheit fortschreitet und wie sein Körper auf einen getesteten Impfstoff oder eine Behandlung reagiert. Deswegen besitzen Infektionsstudien am Menschen das Potenzial, Impfstoff- und Behandlungsversuche schneller, billiger und effektiver zu machen [1].
Nachteile und Risiken für die Teilnehmer
Aber sie haben auch ganz klare Einschränkungen. So könnte die Aussagekraft solcher Studien begrenzt sein, wenn sie zunächst aus Sicherheitsgründen auf gesunde junge Freiwillige beschränkt werden, denn die Ergebnisse lassen sich wahrscheinlich nicht für alle Altersgruppen und die am stärksten gefährdeten Personen, nämlich ältere und Personen mit prädisponierenden Erkrankungen verallgemeinern [2]. Als pivotale Zulassungsstudien sind Provokationsstudien deswegen kaum geeignet und sie machen große Phase-III-Studien keineswegs überflüssig [3]. Außerdem bergen kontrollierte Infektionen beim Menschen inhärente Risiken [4, 5]. Die Studienteilnehmer können nach einer absichtlichen Infektion schwere Erkrankungen oder Komplikationen entwickeln. Im Falle von SARS-CoV-2 ist vor allem auch an mögliche Spätfolgen (Long-COVID) zu denken.
Daher müssen sie in Quarantäneeinheiten streng beobachtet werden und es muss eine sofortige angemessene medizinische Versorgung und Behandlung gewährleistet sein. Durch Sekundärinfektion von Studienpersonal könnte der experimentelle Virusstamm außerdem einen Ausbruch in der Bevölkerung verursachen [6].
Impfstoff-Erfolge mit Provokationsstudien
Challenge-Versuche und -Studien sind in der Impfstoffforschung schon seit Jahrhunderten Realität und keineswegs selten [7]. Seit den 1980er-Jahren wurden sie erheblich breiter eingesetzt. Zu den untersuchten Krankheitserregern bzw. Krankheiten gehörten Adenovirus, Campylobacter, Candida albicans, Cholera, Coronaviren, Cytomegalovirus, Dengue, Escherichia coli, Hepatitis A und Hepatitis B, Hakenwürmer, Influenza, Gonorrhoe, Helicobacter pylori, Malaria, Norovirus, Parvovirus, Pneumokokken, Rhinovirus, Krätze, Streptokokken, Shigella spp. und Typhus. Provokationsstudien spielten beispielsweise eine Rolle bei der Entwicklung zugelassener Impfstoffe gegen Typhus (Vi-Tetanus-Toxoid-Konjugatimpfstoff), Cholera (Dukoral®, Vaxchora®) und Malaria (Mosquirix®), der ersten antiparasitären Impfung, die erst kürzlich von der WHO eine Präqualifikation für den Einsatz beim Menschen erhalten hat [8].
WHO-Dokumente zu Infektionsstudien mit SARS-CoV-2
Unter dem Druck der Corona-Pandemie berief die Weltgesundheitsorganisation im April 2020 eine multidisziplinäre, internationale Expertengruppe ein, um das Konzept der Challenge-Studien mit SARS-CoV-2 aus verschiedenen Perspektiven zu diskutieren. Als erstes Ergebnis publizierte die WHO im Mai 2020 eine Leitlinie zu den Schlüsselkriterien für die ethische Akzeptabilität solcher Versuche mit dem neuartigen Coronavirus [9]. Im Dezember folgte dann ein ausführlicheres Dokument zur Machbarkeit, zum potenziellen Wert und den Grenzen eines Herausforderungsmodells für experimentelle COVID-19-Infektionen bei gesunden jungen erwachsenen Freiwilligen [6].
In engen Grenzen denkbar
Insgesamt erkennt die WHO an, dass gut konzipierte Challenge-Studien die Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen beschleunigen und es auch wahrscheinlicher machen könnten, dass diese wirksamer sind [9]. Außerdem könnten sie die Testung auch in schwachen Pandemiephasen mit niedrigen Übertragungsraten ermöglichen. Die Weltgesundheitsorganisation verbindet SARS-CoV-2-challenge-Studien derzeit jedoch noch mit einem höheren Risiko und einer größeren Unsicherheit als andere, allgemein akzeptierte Human-challenge-Studien, weil die Pathogenese von COVID-19 immer noch wenig verstanden ist und es noch keine zuverlässige „Rettungsbehandlung“ gibt. Auch bei den am wenigsten risikobehafteten jungen gesunden Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren, die als Teilnehmer anvisiert werden, träten seltene Todesfälle auf und es würden zunehmend schwere thromboembolische Ereignisse erkannt, gibt die WHO zu bedenken [6].
Dennoch gelangt die WHO-Beratungsgruppe zu dem Schluss, dass ein SARS-CoV-2-Infektionsmodell an jungen gesunden Freiwilligen für bestimmte Zwecke infrage kommen könnte, etwa um festzustellen, ob eine initiale Challenge-Infektion einen signifikanten Schutz vor einer nachfolgenden Provokation bietet, um immunologische Korrelate des Schutzes vor klinischen Erkrankungen und der Ausscheidung von Viren zu untersuchen oder um die Wirkung verschiedener COVID-19-Impfstoffkandidaten abzuschätzen oder sie miteinander zu vergleichen [6]. Die Weltgesundheitsorganisation hat für die Durchführung von SARS-CoV-2-Challenge-Studien acht ethische Kriterien formuliert (Tab. 1), die allesamt eingehalten werden sollen, um solche Versuche zu genehmigen [9].
wissenschaftliche Bewertungen | ethische Bewertungen | |
---|---|---|
Kriterium 1 | wissenschaftliche Begründung | starke wissenschaftliche Begründung |
Kriterium 2 | Bewertung von Risiken und potenziellem Nutzen | es muss vernünftig sein zu erwarten, dass der potenzielle Nutzen von SARS-CoV-2-Challenge-Studien die Risiken überwiegt |
Konsultation und Koordinierung | ||
Kriterium 3 | Konsultation und Beteiligung | Konsultation und Einbeziehung der Öffentlichkeit sowie relevanter Experten und politischer Entscheidungsträger |
Kriterium 4 | Koordinierung | enge Koordinierung zwischen Forschern, Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern und Regulierungsbehörden |
Auswahlkriterien | ||
Kriterium 5 | Standortwahl | Standorte, an denen die Forschung nach den höchsten wissenschaftlichen, klinischen und ethischen Standards durchgeführt werden kann |
Kriterium 6 | Teilnehmerauswahl | Auswahlkriterien der Teilnehmer müssen das Risiko begrenzen und minimieren |
Überprüfung und Einwilligung | ||
Kriterium 7 | Expertenüberprüfung | durch spezialisiertes unabhängiges Komitee |
Kriterium 8 | Einwilligung nach Aufklärung | Einwilligung nach gründlicher Aufklärung |
Ein niederländisches Wissenschaftlerteam hat die Risiken von Human-challenge-Studien mit SARS-CoV-2 sowie etwaige Maßnahmen zur Minderung dieser Risiken kürzlich detailliert analysiert [10]. Die Experten vertreten die Auffassung, dass die Risiken durch verschiedene Ansätze durchaus auf ein akzeptables Maß reduziert werden könnten. Die hierfür erforderlichen Strategien würden jedoch letztendlich zur Auswahl von Studienteilnehmern führen, die nicht unbedingt die Zielpopulation für SARS-CoV-2-Impfstoffe oder -Therapeutika widerspiegeln. Das Restrisiko sollte daher sorgfältig gegen den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wert einer solchen kontrollierten Infektion beim Menschen abgewogen werden, so ihr Fazit.
Human challenge trials in Großbritannien
In Großbritannien hat eine Ethikkommission im Februar dieses Jahres weltweit die erste Genehmigung zur Durchführung einer Human-challenge-Studie mit dem SARS-CoV-2-Virus erteilt [11]. Sie soll dabei helfen, ein Modell zu entwickeln, mit dem in Zukunft Impfstoffe und Behandlungen für COVID-19 auf ihre Wirksamkeit getestet werden können.
Für die Studie (www.UKCovidChallenge.com, NCT04865237) sollen bis zu 90 gesunde Freiwillige im Alter zwischen 18 und 30 Jahren ohne Vorgeschichte oder Symptome von COVID-19 und ohne Risikofaktoren rekrutiert werden. In der ersten Studienphase soll die geringste Virusmenge ermittelt werden, die benötigt wird, um bei den Probanden eine Infektion zu verursachen. In der zweiten Phase könnte dann ein Impfstoffkandidat, der sich in klinischen Studien als sicher erwiesen hat, getestet werden. Ende März teilte das Imperial College mit, dass die ersten Teilnehmer ihre Quarantänezeit im Royal Free Hospital in London abgeschlossen hätten [12]. Es soll keine Komplikationen gegeben haben und die Probanden sollen bei guter Gesundheit sein. Weitere Details wurden in diesem frühen Stadium nicht bekannt gegeben. Daneben haben Forscher der Universität Oxford im Mai dieses Jahres ebenfalls eine Provokationsstudie mit SARS-CoV-2 auf den Weg gebracht (NCT04864548) [13]. Sie wollen untersuchen, welche Art von Immunantwort verhindern kann, dass Menschen sich erneut infizieren und wie das Immunsystem beim zweiten Mal reagiert. Teilnehmer, die Symptome entwickeln, sollen mit der monoklonalen Antikörperkombination REGN-COV2 behandelt werden. Die gesamte Dauer der Studie beträgt zwölf Monate, einschließlich mindestens acht Nachsorgeterminen nach der Entlassung. Auch in den Niederlanden [14] und in den USA werden human challenge trials für die Entwicklung von SARS-CoV-2-Impfstoffen angedacht. Auf der Website der gemeinnützigen Organisation 1Day Sooner (https://1daysooner.org) haben bereits mehr als 38.000 freiwillige Teilnehmer aus rund 160 Ländern ihre Bereitschaft bekundet, an solchen Versuchen teilzunehmen [15].
Zusammenfassung
Während der Nutzen von Provokationsstudien zur Entwicklung von Impfstoffen in der Wissenschaftswelt grundsätzlich unstrittig zu sein scheint, bestehen mit Blick auf die unzureichenden Erkenntnisse zu SARS-CoV-2 noch große Bedenken. Trotzdem könnten Provokationsstudien auch nach Einführung von Impfstoffen der ersten Generation noch eine wichtige Rolle spielen, etwa wenn es darum geht, bereits in frühen Phasen der klinischen Entwicklung die Spreu der Kandidaten vom Weizen zu trennen und damit kostspielige Phase-III-Studien, die ohnehin zu nichts führen, zu vermeiden. Eine entscheidende Komponente für die Machbarkeit solcher Studien ist die Identifizierung einer ausreichend risikoarmen Teilnehmergruppe, die das Modell sicher machen könnte, jedoch eventuell um den Preis der wissenschaftlichen Aussagekraft. Insgesamt bleiben solche Studien mit SARS-CoV-2 gegenwärtig noch eine Gratwanderung und nur ein einziger medienwirksamer Fehlschlag könnte das Vertrauen in die klinische Forschung insgesamt nachhaltig untergraben. |
Literatur
[1] Wellcome Trust. What are human infection studies and why do we need them? 2. Juni 2021, https://wellcome.org/news/what-are-human-infection-studies-and-why-do-we-need-them-covid-19
[2] Kirchhelle C, Vanderslott S. Editorial: The Need for Harmonised International Guidelines ahead of COVID-19 Human Infection Studies. Public Health Rev 2021;42:1603962, doi: 10.3389/phrs.2021.1603962. eCollection 2021
[3] Human Challenge Trials for Vaccine Development: regulatory considerations. World Health Organization 2016, www.who.int/biologicals/expert_committee/Human_challenge_Trials_IK_final.pdf
[4] Baay M, Neels P. Controlled Human Infection to Speed Up SARS-CoV-2 Vaccine Development. Front Immunol 2021;12:658783, doi: 10.3389/fimmu.2021.658783. eCollection 2021
[5] Kuiper VP, Rosendaal FR et al. Assessment of Risks Associated With Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Experimental Human Infection Studies. Clin Infect Dis 2021;73(5):e1228-e1234, doi: 10.1093/cid/ciaa1784
[6] Feasibility, Potential Value and Limitations of Establishing a Closely Monitored Challenge Model of Experimental COVID-19 Infection and Illness in Healthy Young Adult Volunteers. World Health Organization (WHO), 2. Dezember 2020, www.who.int/publications/m/item/feasibility-potential-value-and-limitations-of-establishing-a-closely-monitored-challenge-model-of-experimental-covid-19-infection-and-illness-in-healthy-young-adult-volunteers
[7] Jamrozik E, Selgelid MJ. History of human challenge studies. In: Jamrozik E, Selgelid MJ. human challenge studies in endemic settings. Ethical and Regulatory Issues (Cham: Springer), 2021:9–23, 10.1007/978-3-030-41480-1_2, https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-41480-1_2
[8] WHO-Empfehlung für Mosquirix. Forscher sieht Malaria-Impfstoff als „Meilenstein“ für Afrika. 7. Oktober 2021, www.deutschlandfunk.de/who-empfehlung-fuer-mosquirix-forscher-sieht-malaria.676.de.html?dram:article_id=503997
[9] Key criteria for the ethical acceptability of COVID-19 human challenge studies. World Health Organization (WHO), 6. Mai 2020. www.who.int/ethics/publications/key-criteria-ethical-acceptability-of-covid-19-human-challenge/en/
[10] Kuiper VP, Rosendaal FR et al. Assessment of Risks Associated With Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Experimental Human Infection Studies. Clin Infect Dis 2021;73(5):e1228-e1234, doi: 10.1093/cid/ciaa1784
[11] Blasius H. Corona-Forschung. Erster Human Challenge Trial mit SARS-CoV-2 in Großbritannien. DAZ.online vom 25. Februar 2021, www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2021/02/25/erster-human-challenge-trial-mit-sars-cov-2-in-grossbritannien
[12] O‘Hare R. First volunteers on COVID-19 human challenge study leave quarantine. 25. März 2021, www.imperial.ac.uk/news/218294/first-volunteers-covid-19-human-challenge-study/
[13] Human challenge trial launches to study immune response to COVID-19. University of Oxford, 19. April 2021, www.ox.ac.uk/news/2021-04-19-human-challenge-trial-launches-study-immune-response-covid-19
[14] Human-Challenge COVID-19 Vaccine Study Contemplated. 27. November 2020, www.precisionvaccinations.com/human-challenge-covid-19-vaccine-study-contemplated
[15] 1Day Sooner. COVID-19 Human Challenge Trials. https://1daysooner.org/
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