Pandemie Spezial

Das (Hydroxy-)Chloroquin-Beben

Zurückgezogene Publikationen erschüttern das Vertrauen in die Wissenschaft bis ins Mark

du | „Chloroquin und Hydroxychloroquin erhöhen die Mortalität von COVID-19-Patienten!“ Diese Nachricht sorgte Ende Mai für den sofortigen Stopp zahlreicher klinischer Studien mit den zuvor viel gepriesenen Hoffnungsträgern. Hintergrund war eine am 22. Mai 2020 in der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ publizierte retrospektive Beobachtungsstudie (s. a. DAZ 2020, Nr. 23, S. 34; [1]). Doch die Studie weckte Zweifel, die in einem offenen Brief an den Chief Editor des Lancet mündete [2]. Jetzt ist nicht nur diese Studie zurückgezogen worden, sondern auch noch eine weitere Publikation zum Einfluss von Herzerkrankungen und deren Therapie auf die Mortalität bei COVID-19. Sie war im „New England Journal of Medicine“ (NEJM) veröffentlicht worden.

Die im Lancet unter Federführung von Mandeep R. Mehra, Brigham and Women’s Hospital/Harvard Medical School Boston, publizierte Datenanalyse von über 96.000 Patienten sorgte schon schnell nach Erscheinen für ein Beben in der Wissenschaftswelt. Die Autoren waren zu dem Schluss gekommen, dass COVID-19-Patienten weder von einer Monotherapie mit Hydroxychloroquin oder Chloroquin noch von deren Kombination mit einem Makrolidantibiotikum profitierten. Im Gegenteil, diese Medikationen sollten sowohl die Mortalität als auch das Risiko für ventrikuläre Arrhythmien bei COVID-19-Patienten erhöhen.

Foto: iuran – stock.adobe.com

Das Vertrauen in renommierte Journals hat schwere Risse bekommen.

Studien wurden gestoppt

Die Ergebnisse waren jedoch für viele nicht nachvollziehbar, die Zweifel bis hin zur Forderung nach einer Rücknahme der Publikation wurden immer lauter.

In einem offenen Brief an Richard Horton, Chief Editor der Zeitschrift „The Lancet“, äußerten über 200 renommierte Kliniker und Forscher aus den Bereichen der Medizin, Statistik und Ethik aus Afrika, Asien, Australien, Europa, Nord- und Südamerika Kritik. Sie reichte von dem Vorwurf eine unzureichende Adjustierung hinsichtlich bekannter und gemessener Störgrößen über die Missachtung standardisierter Praktiken zur Transparenz der Datensätze bis hin zu einem fehlenden Ethik-Review.

So seien beispielsweise die australischen Daten nicht kompatibel mit den offiziellen, von Regierungsseite ver­öffentlichten Berichten. Besonderes Misstrauen erregte der Datensatz aus Afrika mit nicht nachvollziehbaren Zahlen zur Detektion von nicht anhaltenden und anhaltenden ventrikulären Tachykardien.

Ein weiterer Widerspruch: Die durchschnittlichen Hydroxychloroquin-Tagesdosen sollen um 100 mg über den Dosierungsempfehlungen der Food and Drug Administration (FDA) gelegen haben, und das, obwohl 66% aller Daten aus nordamerikanischen Kliniken stammten. Auch das Verhältnis des Einsatzes von Chloroquin zu Hydroxychloroquin war nicht immer plausibel. Zudem konnte das 95%-Konfidenzintervall (KI) der Hazard Ratios von den Unterzeichnern des offenen Briefs nicht mit den publizierten Daten in Einklang gebracht werden. Als Beispiel wurde Australien genannt. Hier hätte aufgrund des 95% KI der Hazard Ratio eine doppelt so hohe Todeszahl registriert werden müssen als die in der Publikation angegebene.

Keine Datenoffenlegung

Wegen der Tragweite der Studie hatten die Unterzeichner die Firma Surgi­sphere, von der die Daten stammten, aufgefordert, die Herkunft der Daten offenzulegen. Eine unabhängige Überprüfung entweder durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder eine andere unabhängige, angesehene Institution und eine erweiterte Analyse seien dringend erforderlich, um die Schlussfolgerungen zu validieren. Und zu guter Letzt sollten die Einverständniserklärungen der Patienten offengelegt werden, um sicherzustellen, dass alle ethischen und gesetzlichen Vorschriften zum Schutz der Privatsphäre der Patienten eingehalten worden sind.

Da die Firma Surgisphere dieser Aufforderung nicht nachgekommen ist und lediglich in einer Stellungnahme die Einhaltung von Standards bei der Datenerfassung beteuert hat (s. Kasten „Surgisphere: „Standards strikt eingehalten!“), hatten die Herausgeber des Lancet zunächst in Form eines „Expression of Concern“ darauf verwiesen, dass bedeutende wissenschaftliche Fragen zu den Daten der Publikation von Mandeep R. Mehra et al. aufgetreten seien. Eine unabhängige Überprüfung der Herkunft und Validität der Daten sei von den Autoren in Auftrag gegeben worden. Hier sollte die Herkunft und Gültigkeit der Daten unter die Lupe genommen werden. Doch die unabhängige Überprüfung war wohl nicht möglich. Drei der vier Autoren der Lancet-Studie – Mandeep R. Mehra, Frank Ruschitzka und Amit N. Patel – haben nun die Arbeit im Lancet zurückgezogen mit der Begründung, dass Surgisphere nicht den vollständigen Datensatz, die Kundenverträge und den vollständigen ISO-Audit-Report seiner für die Analyse eingesetzten Server zur Verfügung stellen konnte, weil dies wohl nicht in Einklang mit den von Surgisphere geschlossenen Verträgen zu bringen sei. Vor diesem Hintergrund sei kein Peer-Review-Prozess möglich [3].

Surgisphere: „Standards strikt eingehalten!“

Die Firma Surgisphere hat auf ihrer Website eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie einleitend auf Art und Validierung ihrer Datengewinnung eingeht. Dabei betont sie die strikte Einhaltung von Standards im Hinblick auf die Datensicherheit. Die Daten werden elektronischen Patientenakten entnommen, die in einer Datenbank mit anonymisierten Patientenangaben kooperierender Kliniken zahlreicher Länder hinterlegt seien. Die Auswertung der Daten erfolge mit einer Software der Firma Quartz­Clinical auf der Basis des maschinellen Lernens.

Was die in der Kritik stehende und inzwischen zurückgezogene Lancet-Studie anbelangt, so werden in der Stellungnahme lediglich zwei Punkte aufgeführt. Das ist zum einen eine geografisch nicht korrekte Einstufung eines Krankenhauses, was aber keinen Einfluss auf das Studienergebnis haben soll. Dasselbe gelte für eine in der Publikation aufgeführte Tabelle im Anhang. Es handelt sich dabei um die Tabelle S3 Summary Data by Continent mit Patientendaten und dem Outcome, aufgelistet nach Kontinenten. An dieser Tabelle wird von Kritikern der Studie die Homogenität der Daten bei den Patienten aus fünf verschiedenen Kontinenten angezweifelt. Aber auch eine Aktualisierung der Tabelle habe keinen Einfluss auf das Studiener­gebnis, so die Stellungnahme von Surgisphere („There was no error in analysis, and none of the results of the paper are affected“).

pj

Surgisphere-Daten auch für weitere Publikationen

Surgisphere ist eine Firma mit Sitz in Chicago, die sich auf die maschinelle Auswertung von Datensätzen mithilfe einer speziellen Software zum maschinellen Lernen spezialisiert hat. Die Größe der Firma, bestehend aus dem CEO Sapan S. Desai und zwei weiteren Mitarbeitern, hatte Zweifel aufkommen lassen, ob diese Firma überhaupt die Validität der Daten garantieren kann. Datensätze dieser Firma dienten allerdings schon in der Vergangenheit als Grundlage für unterschiedliche Analysen, unter anderem auch für eine Publikation im NEJM, in der der Frage nach dem Einfluss von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der Rolle von ACE-Hemmern und Angiotensin-Rezeptorantagonisten auf das Sterberisiko von COVID-19-­Patienten nachgegangen worden war. Dass Herzerkrankungen das Risiko erhöhen, wurde bestätigt. Eine Risikoerhöhung durch die Therapie konnte nicht festgestellt werden [4].

Sowohl die Lancet-Publikation als auch die NEJM-Publikation listet neben Mandeep R. Mehra und Amit N. Patel mit Sapan S. Desai den CEO von Surgisphere als Coautor auf. Auch die im New England Journal publizierte Studie „Cardivascular Therapy, Drug Therapy and Mortality in COVID-19“ wurde jetzt von den Autoren mit der Begründung zurückgezogen, dass nicht alle Autoren Zugang zu den Rohdaten gehabt hätten und diese auch nicht für Dritte für eine unabhängige Überprüfung zugängig gemacht werden könnten [5].

Eine weitere Studie, ebenfalls mit Surgi­sphere-Daten erstellt und unter Mitwirkung von Mehra, Desai und Petal als Preprint veröffentlicht, ist inzwischen nicht mehr verfügbar. Sie sollte gezeigt haben, dass das Anthelminthikum Ivermectin zu einer dramatischen Reduktion der Mortalität bei COVID-19 geführt hat [6].

RECOVERY zeigt keine Wirkung

Mit Bekanntwerden der Lancet-Studie waren weltweit klinische COVID-19-­Studien mit Hydroxychloroquin und Chloroquin gestoppt worden (s. a. Interview S. 34), so unter anderem auch der entsprechende Arm in der SOLIDARITY-Studie der WHO. Er soll nun fortgeführt werden. Gleichzeitig wurde eine Zwischenauswertung der RECOVERY-Studie und damit erstmals Ergebnisse aus einer randomisierten Studie bekannt, nach der Hydroxychloroquin zwar keine erhöhte Toxizität gezeigt hatte, aber auch keine Wirkung. In einem Arm der Studie waren 1542 Patienten mit Hydroxychloroquin behandelt und mit 3132 Standard-behandelten Patienten verglichen worden. Dieser Studienarm wurde nun gestoppt [7]. |

Literatur

[1] Mehra MR, Desai SS, Ruschitzka F, Patel AN. Hydroxychloroquin or chloroquine with or without a macrolide for treatment of COVID-19: a multinationnal registry analysis. Lancet published online 22. Mai 2020

[2] Watson J et al. An open Letter to Mehra et al and to Richard Horten. https://zenodo.org/record/3871094#.XtoiyHvgq70

[3] Mehra MR, Ruschitzka F, Patel AN. Retraction – Hydroxychloroquine or chloroquine with or without a macrolide for treatment of COVID-19: a multinational registry analysis. 4. Juni 2020 https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)31324-6

[4] Mehra MR, Desai SS, KuySR, Henry TD, PAtel AN. Cardiovascular Disease, Drug Therapy an Mortality in COVID_19.New Engl J Med 1. Mai 2020.DOI: 10.1056/NEJMoa2007621

[5] Mehra MR, Desai SS, Kuy S,Henry TD. Retraction: Cardiovascular Disease, Drug Therapy and Mortality in Covid-19. N Engl J Med. DOI: 10.1056/NEJMoa2007621; 4. Juni 2020. DOI: 10.1056/NEJMc2021225

[6] Pille C, Servcik K. Two elite medical journals retract coronavirus papers over data integrity questions. 4. Juni 2020 HealthScientific CommunityCoronavirusdoi:10.1126/science.abd1697

[7] Pressemitteilung der Universität Oxford vom 5. Juni 2020 http://www.ox.ac.uk/news/2020-06-05-no-clinical-benefit-use-hydroxychloroquine-hospitalised-patients-covid-19
 

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