Pharmakoökonomie

Antidepressiva-Vergleich

Die erste Kosten-Nutzen-Bewertung des IQWiG ist da

Thomas Müller-Bohn | Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) veröffentlichte am 19. November erstmals die Ergebnisse einer Kosten-Nutzen-Bewertung. Sie betrifft die Arzneistoffe Venlafaxin, Duloxetin, Bupropion und Mirtazapin im Vergleich zu anderen Antidepressiva und Placebo. Die Studie geht auf einen Auftrag aus der Zeit vor dem AMNOG zurück und hat nach der derzeitigen Rechtslage keine unmittelbaren Konsequenzen für die Arzneimittelpreise, obwohl das IQWiG daraus Argumente für niedrigere Preise ableitet. Doch könnte die Studie große Bedeutung für die Diskussion über pharmakoökonomische Methoden und politische Verfahren zur Arzneimittelbewertung erlangen.

Vorgeschichte

Um das Projekt einordnen zu können, ist ein Blick auf die Vorgeschichte nötig: Die große Koalition schaffte im April 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz die Rechtsgrundlage für Kosten-Nutzen-Bewertungen durch das IQWiG. Das Institut sollte nicht mehr nur den Nutzen von Arzneimitteln bewerten, sondern mit pharmakoökonomischen Methoden Grundlagen für die Preisbildung liefern. Das IQWiG arbeitete sehr lange an einer neuen Methode dafür, weil der international übliche Ansatz über qualitätsbereinigte Lebensjahre (QALYs) als für Deutschland nicht anwendbar betrachtet wurde. Nach einigen Entwürfen (siehe DAZ 2008, Nr. 8 und 44 und DAZ 2009, Nr. 17) wurde im Oktober 2009 ein Methodenpapier zur Kosten-Nutzen-Bewertung vorgelegt (DAZ 2009, Nr. 43 und 45). In dessen Mittelpunkt stand das international nicht übliche Effizienzgrenzenkonzept (siehe Kasten).


Effizienzgrenze


Eine Therapie (z. B. mit einem bestimmten Arzneimittel) ist im Vergleich zu einer anderen Therapie effizient, wenn sie bei gleichen Kosten mehr Nutzen stiftet oder bei gleichem Nutzen weniger kostet. Wenn der Nutzen (bezogen auf einen bestimmten klinischen Endpunkt) und die pro Patient anfallenden Nettokosten aller bei einer Indikation angewendeten Therapien in einem Koordinatensystem eingetragen werden, kann dort eine Verbindungslinie zwischen denjenigen Therapien eingetragen werden, die gegenüber anderen Therapien effizient sind. Diese Linie wird Effizienzgrenze genannt.

(Ausführliche Erläuterung in DAZ 2008, Nr. 8, S. 45).

Die Verbindungslinie zwischen dem Ursprungspunkt und den Punkten
C, E und A bildet die Effizienzgrenze. Die Therapien, die durch die Punkte
B und D repräsentiert werden, sind nicht effizient, weil sie unterhalb
oder rechts der Linie liegen.
Grafik: DAZ/Hammelehle

Damit werden Arzneimittel jeweils isoliert für eine Indikation betrachtet, um die aus ethischen Gründen nicht gewünschte Debatte über einen Grenzwert für ein qualitätsbereinigtes Lebensjahr zu umgehen. Die Methode wird allerdings in der Fachwelt kritisch betrachtet, sowohl wegen ihrer umstrittenen ökonomischen Fundierung als auch wegen der erwarteten Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung. Doch die damalige Rechtslage sah vor, ausgehend von dieser Bewertung einen Höchstpreis für ein neues Arzneimittel gewissermaßen zu "errechnen". Am 17. Dezember 2009 erteilte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den ersten Auftrag zu einer solchen Bewertung gemäß § 35b SGB V für die vier Antidepressiva Venlafaxin, Duloxetin, Bupropion und Mirtazapin.

Der zwischenzeitliche Regierungswechsel änderte die Rahmenbedingungen jedoch grundlegend. Mit dem AMNOG wurde Anfang 2011 die frühe Nutzenbewertung gemäß § 35a SGB V eingeführt. Auf der Grundlage der Nutzenbewertungen durch das IQWiG sollen Hersteller und GKV-Spitzenverband die Preise für innovative Arzneimittel aushandeln und nicht errechnen. Bei diesem neuen Verfahren kommt die Kosten-Nutzen-Bewertung durch das IQWiG nur in einem Fall zur Anwendung: Wenn nach gescheiterten Preisverhandlungen die Schiedsstelle tätig wurde, kann eine Verhandlungspartei den Schiedsspruch anzweifeln und gemäß § 130b Abs. 8 SGB V eine Kosten-Nutzen-Bewertung durch das IQWiG beantragen, deren Ergebnisse in eine neue Verhandlungsrunde münden. Dieser Fall ist bisher noch nicht eingetreten, dürfte aber mittelfristig relevant werden.

Unabhängig von dieser neuen Rechtslage blieb der Auftrag des G-BA von 2009 bestehen – und nun hat das IQWiG nach knapp drei Jahren einen Vorbericht vorgelegt, der fast 500 Seiten umfasst (s. Kasten Internet). Neben 118 Studien sind auch Nutzenbewertungen des IQWiG in die Arbeit eingegangen. Zu dem Vorbericht können bis zum 14. Januar Stellungnahmen abgegeben werden. Danach wird das IQWiG die endgültige Fassung erstellen. Inwieweit der G-BA indirekte Konsequenzen aus der Bewertung ableiten wird, bleibt abzuwarten.


Internet


Den Vorbericht der Studie "Kosten-Nutzen-Bewertung von Venlafaxin, Duloxetin, Bupropion und Mirtazapin im Vergleich zu weiteren verordnungsfähigen medikamentösen Behandlungen" finden Sie hier:

https://www.iqwig.de > Projekte & Ergebnisse > G09-01

Zweck der Studie

Nach der derzeitigen Rechtslage können aus der Kosten-Nutzen-Bewertung keine direkten Eingriffe in die Preisbildung abgeleitet werden. Doch der IQWiG-Vorsitzende Prof. Dr. Jürgen Windeler erklärt die Motivation so: "Wir wollten testen, ob die von uns favorisierte Methode der Effizienzgrenze tauglich ist und zu belastbaren Ergebnissen führt, die für die Selbstverwaltung hilfreich sein können." Vermutlich wollte das IQWiG damit auch Kritikern entgegentreten, die die Durchführbarkeit der Methode anzweifeln. Außerdem vermittelt die Studie nun den Verhandlungspartnern bei der frühen Nutzenbewertung einen Eindruck, was sie im Streitfall von einer Kosten-Nutzen-Bewertung durch das IQWiG zu erwarten hätten.

In einer Pressemitteilung erklärte Priv.-Doz. Dr. Andreas Gerber-Grote, Leiter des IQWiG-Ressorts Gesundheitsökonomie, es gebe ein klares Ergebnis: "Das Nutzen-Kosten-Verhältnis der vier Wirkstoffe ist sehr unterschiedlich, und theoretisch müssten die Preise zum Teil erheblich sinken, um im Verhältnis zu den Therapiealternativen effizient zu sein." Allerdings erwähnt das IQWiG auch Probleme. Es fehle ein konsentiertes Verfahren zur Aggregation von Nutzen und Schaden und es gebe zu wenig frei verfügbare Kostendaten. Windeler urteilte daher vorsichtiger: "Trotz dieser Probleme und noch offener methodischer Fragen können die Ergebnisse von Kosten-Nutzen-Bewertungen ein wichtiger Baustein sein, wenn es darum geht, über Preise zu verhandeln und Entscheidungen über Erstattungen zu treffen." Er spricht also von einem "Baustein" für Verhandlungen und nicht von einer Methode für die Bestimmung von Höchstpreisen, was vor einigen Jahren noch der Anspruch an das Verfahren war. Weiter erklärt Windeler: "Wir brauchen nun allerdings eine Diskussion darüber, welchen Stellenwert dieser Baustein für Entscheidungen im Gesundheitswesen haben soll und wie viel Aufwand wir betreiben wollen. Denn auch bei unseren Berichten sollten Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis stehen."

Konzept der Kosten-Nutzen-Bewertung

Einige kritische Betrachtungen zu der vorliegenden Kosten-Nutzen-Bewertung des IQWiG sollen einen Eindruck vermitteln, wie problematisch sie ist und welcher Aufwand hier getrieben wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass außer den zusätzlichen Monitoringkosten für ein Elektrokardiogramm beim Einsatz von trizyklischen Antidepressiva keine unterschiedlichen Kostenpositionen bei den verschiedenen Arzneimitteln eingegangen sind. Dies ist ein besonders einfacher Idealfall – und dennoch darf die Untersuchung als aufwendig bezeichnet werden. Allerdings wurden Kostendaten für andere Therapiekomponenten als die Arzneimittel ebenfalls verarbeitet. Obwohl elf hochwertige Kostenstudien zum Thema gefunden wurden, lieferte keine davon geeignete Daten für das verwendete gesundheitsökonomische Modell. Als Kostendaten zog das IQWiG Routinedaten der GKV und eigene Berechnung aufgrund von Leitlinien heran. Die Bewertung erfolgt aus der Perspektive der GKV-Versichertengemeinschaft und schließt Zuzahlungen der Patienten ein.

Die vier untersuchten Antidepressiva wurden mit selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern und trizyklischen Antidepressiva, jeweils als homogene Gruppen ohne weitere Differenzierung, sowie Agomelatin und Trazodon verglichen. Dabei ist zu fragen, inwieweit diese Antidepressiva überhaupt vergleichbar sind und bei welchem Patienten sich die Wahl zwischen allen diesen Arzneistoffen stellt. Denn typischerweise werden Antidepressiva insbesondere aufgrund der individuellen unerwünschten Wirkungen und des Nicht-Ansprechens auf vorherige Behandlungsversuche ausgewählt. So wurde hier möglicherweise eine Frage untersucht, die sich in der Praxis kaum stellt.

Konstruktion der Effizienzgrenzen

Gemäß seinem Bewertungskonzept hat das IQWiG etliche Endpunkte betrachtet, nämlich Remission, Ansprechen, gesundheitsbezogene Lebensqualität, Therapieabbruch aufgrund unerwünschter Ereignisse, Rückfall und Rezidiv, jeweils nach zwei Monaten und nach einem Jahr. Doch lassen sich für einige Endpunkte keine Effizienzgrenzen oder nur solche für einen Teil der Arzneimittel konstruieren; für den einjährigen Betrachtungszeitraum gelang es gar nicht. Weitere Auswertungen sind also nur für solche Endpunkte möglich, zu denen genügend Daten vorhanden sind. Somit hängen die Ergebnisse letztlich davon ab, zu welchem Endpunkt zufälligerweise gute Daten vorliegen. Dies erinnert an die Nutzenbewertung, in die auch nur solche Aspekte eingehen, die mit Studien hinreichender Evidenz belegt werden können. Doch so kann nur ein unvollständiges Bild von den Effekten eines Arzneimittels entstehen. In der vorgelegten Studie werden die Endpunkte Remission und Ansprechen für die Herleitung der theoretischen Erstattungspreise herangezogen. Unerwünschte Wirkungen gehen dabei nicht ein; eine Abwägung von Nutzen und Schaden findet also nicht statt.

Bei den Sensitivitätsanalysen hat das IQWiG sehr großen Aufwand getrieben. Damit wird untersucht, wie robust die Ergebnisse gegenüber veränderten Ausgangsdaten sind und welche eingehenden Größen für die Ergebnisse entscheidend sind. Es zeigte sich insbesondere, dass die Bewertungen erheblich vom Vergleich mit dem Therapieverlauf ohne Arzneimittelanwendung abhängen, über den jedoch keine Daten vorliegen. Dies ist ein großer Unsicherheitsfaktor für alle Berechnungen.

Theoretische Erstattungspreise

Ausgehend von den Kosten-Wirksamkeits-Relationen zwischen den Arzneimitteln hinsichtlich der Endpunkte Remission und Ansprechen hat das IQWiG zusatznutzenbereinigte Erstattungspreise errechnet. Auf diese Beträge müssten die Preise der untersuchten Arzneimittel theoretisch gesenkt werden, um sie nach den Maßstäben des IQWiG im Vergleich zu den anderen Antidepressiva angemessen zu honorieren. Für das Ansprechen wurden bei Trizyklika die höchsten Wahrscheinlichkeiten gefunden, für die Remission die zweithöchsten Werte nach Agomelatin. Die untersuchten Arzneimittel hätten demnach aus der Sicht des IQWiG einen negativen Zusatznutzen, der durch sinkende Preise zu kompensieren wäre. Aus klinischer Sicht wäre zu entgegnen, dass schlechter wirksame Arzneimittel ohnehin nicht eingesetzt werden sollten. Wenn die Arzneimittel aber Vorteile an anderer Stelle hätten, müssten diese Nutzenaspekte auch berücksichtigt werden, sodass das hier angewendete Bewertungsverfahren unangemessen wäre.

Im Rahmen der Sensitivitätsanalysen, die die Unsicherheit der eingehenden Größen berücksichtigen, ergaben sich für die zusatznutzenbereinigten Erstattungspreise große Korridore. So liegt die Hälfte der ermittelten Werte für Duloxetin zwischen 22,94 Euro und 69,66 Euro beim Endpunkt Remission bzw. zwischen 0,35 Euro und 21,95 Euro beim Endpunkt Ansprechen, während der tatsächliche Preis für den betrachteten Versorgungszeitraum 241,18 Euro beträgt. Dies ergäbe eine gewaltige Preissenkung, aber auch einen riesigen Verhandlungskorridor, denn welcher Endpunkt sollte herangezogen werden?

Für Mirtazapin sind die Abweichungen deutlich geringer. Dem tatsächlichen Preis von 46,46 Euro (vermutlich ohne Berücksichtigung von Rabattverträgen) stehen hier zusatznutzenbereinigte Erstattungspreise von 31,66 Euro bzw. 24,28 Euro, je nach Endpunkt, gegenüber; die Ergebniskorridore sind hier enger.

Im nächsten Schritt hat das IQWiG ermittelt, wie die Ausgaben sinken würden, wenn 75 Prozent der Verordnungen, die gemäß der Studie nicht effizient sind, durch Mirtazapin bzw. Venlafaxin ersetzt und diese zu den zusatznutzenbereinigten Erstattungspreisen abgerechnet würden. Für Mirtazapin ergäben sich, je nach betrachtetem Endpunkt, in drei Jahren Einsparungen von 2,9 Millionen Euro bzw. 4,8 Millionen Euro für die betrachtete Zielpopulation von 315.252 Versicherten. Im Jahr 2010 betrugen die indikationsbezogenen Ausgaben für diese Patienten 560 Millionen Euro; die Einsparungen lägen damit deutlich unter einem Prozent der Gesamtausgaben.

Bei solchen Hochrechnungen wird stillschweigend unterstellt, dass die untersuchten Produkte austauschbar sind, auch wenn dies unrealistisch erscheinen mag (s. o.). Das IQWiG weist auch darauf hin, dass alle Berechnungen nur für die Indikation Depression gelten und nichts über angemessene Preise der Arzneimittel bei anderen Indikationen aussagen. Doch in der Praxis müssen Preise für ein Produkt mit allen seinen Indikationen ausgehandelt werden.

Konsequenzen

Das IQWiG konnte somit zeigen, dass das langwierig entwickelte Verfahren prinzipiell durchführbar ist, wenn auch mit sehr großem Aufwand. Doch die Diskussion über die Aussagekraft der Ergebnisse wird nun wohl erst richtig beginnen. Für die beteiligten Interessengruppen dürften die folgenden Konsequenzen abzuleiten sein:

  • Die pharmakoökonomische Wissenschaft hat neue Nahrung für die Diskussion über das Effizienzgrenzenkonzept erhalten – sowohl für Befürworter als auch für Gegner der Methode.

  • Die Verhandlungspartner bei der frühen Nutzenbewertung sollten erkennen, dass die Kosten-Nutzen-Bewertung kein "Wundermittel" ist, mit dem nach einem möglicherweise strittigen Schiedsspruch ein "fairer" Preis "errechnet" werden könnte. Umso größer wird damit für beide Seiten der Stellenwert konsensorientierter Verhandlungen.

  • Die Politik erhält eine weitere Bestätigung für die Erkenntnis, dass Evaluationsverfahren zwar Argumente für Verhandlungen liefern, diese aber nicht ersetzen können. Wenn die Verhandlungen aber nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen, sollten die Verhandlungsregeln angepasst werden.

Obwohl das IQWiG seine jüngste Studie als Erfolg präsentiert, mischen sich auch dort kritische Töne in die Bewertung, wie ein Zitat des IQWiG-Vorsitzenden Windeler erkennen lässt: "Unabhängig davon, wie viele Ressourcen wir in dieses Verfahren stecken: Keine Kosten-Nutzen-Bewertung kann alleiniges Instrument zur Steuerung des Gesundheitssystems werden; andere medizinische, ethische und soziale Aspekte müssen einbezogen und abgewogen werden, wie es auch in anderen Ländern üblich ist."


Autor

Dr. Thomas Müller-Bohn, Apotheker und Dipl.-Kaufmann, Seeweg 5A, 23701 Süsel



DAZ 2012, Nr. 48, S. 68

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