Interview nach sechs Monaten E-Rezept

„Wir brauchen mehr verbindliche Standards bei technischen Neuerungen“

Berlin - 01.07.2024, 07:00 Uhr

Die stellvertretende DAV-Chefin Anke Rüdinger fordert, Lehren aus der E-Rezept-Einführung zu ziehen. (Foto: ABDA)

Die stellvertretende DAV-Chefin Anke Rüdinger fordert, Lehren aus der E-Rezept-Einführung zu ziehen. (Foto: ABDA)


Seit einem halben Jahr ist das E-Rezept Pflichtanwendung für Ärztinnen und Ärzte. Über den holprigen Start, die Entwicklung in den vergangenen sechs Monaten und das angespannte Verhältnis des Deutschen Apothekerverbands (DAV) und der anderen Gematik-Gesellschafter zum Bundesministerium für Gesundheit sprach die DAZ mit Anke Rüdinger, stellvertretende DAV-Chefin, Vorsitzende des Digital-Hub und Vorsitzende des Berliner Apotheker-Vereins.

DAZ: Frau Rüdinger, seit einem halben Jahr ist das E-Rezept weitgehend Standard in der Arzneimittelversorgung. Wie lautet ihr Fazit aus den ersten sechs Monaten E-Rezept-Pflicht?

Rüdinger: Es war eine tolle Leistung der Apotheken, das E-Rezept zum Laufen zu bringen. Einfach war es nicht, auch wenn die Apotheken seit September 2022 technisch vorbereitet waren. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Zahl der elektronischen Verordnungen mit dem Jahreswechsel tatsächlich so schlagartig in die Höhe schnellen würde, wie wir es dann erlebt haben. Das hat die Apotheken vor große Herausforderungen gestellt. Noch hatten sie ja kaum Übung im Umgang mit dem E-Rezept. Es fehlte eine Übergangsphase, in der es langsam das Muster-16-Formular hätte ablösen können. Dass dieser plötzliche Wechsel nicht zu gravierenden Versorgungsproblemen geführt hat, ist insbesondere den Apothekenteams zu verdanken, die sich wirklich reingekniet haben.

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Welche Schwierigkeiten mussten die Teams bewältigen?

Die Herausforderungen waren vielfältig. Zum einen war die Umsetzung in den Warenwirtschaftssystemen sehr unterschiedlich. Das ist eine Lehre, die wir aus der E-Rezept-Einführung ziehen müssen: Wir brauchen mehr verbindliche Standards, wenn es um solch tief greifende technische Neuerungen geht. Zum anderen mussten sich die Teams auf die neuen Abläufe einstellen, die das E-Rezept mit sich brachte. Und natürlich lief auch in den Praxen zunächst nicht alles rund. Die Kombination aus diesen drei Aspekten hat uns alle zumindest in den ersten Wochen vor Probleme gestellt. Für manche Apotheken war es schwerer als für andere, aber zu kämpfen hatten wir alle.

Hat sich die Situation inzwischen spürbar verbessert?

Das E-Rezept ist in der Versorgung angekommen, aber es läuft noch nicht reibungslos. Immer wieder meldet die Gematik technische Störungen – meist ist dabei nicht der Fachdienst betroffen, sondern zum Beispiel das Versichertenstammdatenmanagement einzelner Krankenkassen. Positiv ist, dass wir in der Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft viel erreicht haben. Es wird immer einzelne Praxen geben, die wenig kooperativ sind, aber das ist eher die Ausnahme. Sowohl auf der Versorgungsebene als auch was den Austausch mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung angeht, haben wir große Fortschritte gemacht und konnten einige Schwierigkeiten ausräumen.

Welche Baustellen beschäftigen den Berufsstand aktuell noch immer?

Neben den technischen Störungen ist das vor allem der Zeitaufwand. Im Vergleich zum Einscannen eines Papierrezepts dauert es deutlich länger, ein E-Rezept aus dem Fachdienst abzurufen. Dieser Prozess muss unbedingt noch schneller ablaufen, als es aktuell der Fall ist. Probleme gibt es auch im Zusammenhang mit den Lieferschwierigkeiten, die uns ohnehin sehr beanspruchen. Wenn man ein E-Rezept in die Warenwirtschaft holt, wird relativ schnell die Quittung erstellt. Dann ist das E-Rezept gesperrt. Das ist vor allem bei Medikamenten ein Problem, die dauerhaft schwer zu beschaffen sind, etwa Ozempic, Trulicity und Victoza. Findet die Patientin oder der Patient doch noch eine Apotheke, die eine Packung auf Lager hat, kann ich das E-Rezept nicht mehr an den Fachdienst zurückgeben, wenn meine Warenwirtschaft bereits die Quittung gezogen hat. Dieses Problem müssen die Softwareanbieter dringend lösen.

Wie ist allgemein die Situation bei den Warenwirtschaftssystemen? Hat sich die Qualität der Umsetzung inzwischen angeglichen?

Ja, aber es gibt weiterhin Unterschiede. Der DAV steht in regelmäßigem Austausch mit dem Bundesverband Deutscher Apotheken-Softwarehäuser (ADAS) und gemeinsam konnten wir viele Schwierigkeiten bereits aus der Welt schaffen. Kleine Störungen wird es immer mal wieder geben, aber das war auch in der analogen Welt so. Ich gehe davon aus, dass die Fehlerquote in absehbarer Zeit auf ein Minimum sinken wird.

Gelegentlich hört man von Kolleginnen und Kollegen, dass E-Rezepte auf unterschiedliche Weise vermeintlich verschwinden und letztlich nicht abgerechnet werden können. Sind das Einzelfälle oder ist erkennbar, dass es sich um ein größeres Problem handelt?

Ich habe gelernt, dass E-Rezepte nicht einfach verschwinden. Sie sind nur manchmal aus verschiedenen Gründen für den einen oder anderen nicht sichtbar. So etwas ist absolut ärgerlich, denn wir haben so viel zu tun in den Apotheken, dass solche Situationen für viel Frust sorgen. Zumal oft gar nicht nachvollziehbar ist, wo die Zuständigkeit liegt und wen man anrufen muss. Da wird dann auch gern mal Pingpong gespielt zwischen den Anbietern und jeder schiebt die Verantwortung weiter. Dennoch kann ich nur alle Kolleginnen und Kollegen ermutigen, hartnäckig zu bleiben und sich vom Softwarehersteller nicht abwimmeln zu lassen. Zudem ist es wichtig, ein Ticket bei der Gematik zu erstellen und das Problem dort sichtbar zu machen. Denn die Gematik kann nur reagieren, wenn sie um die Schwierigkeiten weiß, die im Alltag auftauchen.

Große Sorge hatten die Kolleginnen und Kollegen auch vor möglichen Retax-Wellen, die ihnen im Zuge der E-Rezept-Einführung drohen könnten. Vor wenigen Tagen hat der DAV darüber informiert, dass es gelungen ist, eine Friedenspflicht mit dem GKV-Spitzenverband auszuhandeln. Sicher kein leichtes Unterfangen – wie kam es, dass der Kassenverband nun doch eingelenkt hat?

 Der DAV hat sich relativ schnell ans BMG gewandt und um Unterstützung gebeten, nachdem die Gespräche mit dem GKV-Spitzenverband wenig erfolgversprechend verliefen. Im Februar hat das BMG dann in einem Schreiben die Krankenkassen gebeten, E-Rezepte nicht zu beanstanden, wenn z. B. die ärztliche Berufsbezeichnung fehlt. Es benötigte dennoch etliche Gesprächstermine, bis wir uns mit dem GKV-Spitzenverband auf eine Zusatzvereinbarung einigen konnten, die nun auch von beiden Seiten zugestimmt wurde.

In welchen Fällen greift die Friedenspflicht und unter welchen Umständen können Apotheken weiterhin retaxiert werden?

Wir haben uns mit dem GKV-Spitzenverband geeinigt, dass wir gemeinsam darauf hinwirken, dass in naher Zukunft tatsächlich nur noch korrekt ausgestellte E-Rezepte in den Fachdienst gelangen können. Bis dahin darf das Fehlen der Berufsbezeichnung der verschreibenden Person nicht zu einer Absetzung führen. Auch das Fehlen der Darreichungsform, der Wirkstärke, der Packungsgröße oder der Menge ist kein Retaxgrund, weil diese durch die Angabe der Pharmazentralnummer (PZN) eindeutig festgelegt sind. Wenn die Telefonnummer fehlt, reicht es aus, wenn die verschreibende Person der Apotheke bekannt ist. Die Apotheke hat keine Prüfpflicht auf Richtigkeit der Telefonnummer oder eine Ergänzungspflicht. Insgesamt werden die Krankenkassen aufgefordert, formale Abweichungen von einer ordnungsgemäßen elektronischen Verordnung mit Augenmaß zu behandeln.

Ursprünglich war versprochen worden, fehlerhafte E-Rezepte würden es technisch nicht in den Fachdienst schaffen und die Retax-Gefahr würde damit deutlich sinken. Das hat sich nicht bewahrheitet. Was ist aus dem Referenzvalidator geworden, der das sicherstellen sollte?

Der Referenzvalidator ist an technischen Schwierigkeiten gescheitert. Das Konzept hätte in den Praxisverwaltungssystemen umgesetzt werden müssen, das ist aber nicht gelungen. Für uns ist das sehr ärgerlich, denn das hätte den Apotheken Sicherheit geben können. Glücklicherweise haben wir jetzt auf dem Verhandlungsweg eine Lösung gefunden und werden gemeinsam mit dem GKV-Spitzenverband darauf hinwirken, dass das Versprechen an die Apotheken zeitnah Realität wird.

Aus Sicht der Apothekerschaft gibt es also noch viel zu tun beim 
E-Rezept. Wie beurteilen Sie den Nutzen aus Sicht der Patientinnen 
und Patienten?

Auch für sie muss das E-Rezept noch mehr Komfort mit sich bringen. Beim Abruf über die Gesundheitskarte sehen die Versicherten zum Beispiel nicht, was verordnet wurde. Das ist nicht akzeptabel. Es steckt so viel Geld in der E-Rezept-App der Gematik, da hätte ich mir wesentlich mehr Engagement vonseiten des BMG und der Gematik gewünscht, diese zum Laufen zu bringen. Dann bräuchten wir auch CardLink nicht. Ich habe den Eindruck, in diesem Punkt mangelt es schlicht am politischen Willen. Jetzt entwickeln alle möglichen Anbieter ihre eigenen Apps – das kostet viel Geld und wäre nicht nötig gewesen. Immerhin haben sich viele von ihnen dazu entschlossen, für das CardLink-Verfahren den Provider der Gedisa zu nutzen, sodass wir wenigstens in diesem Punkt eine standeseigene Lösung haben.

Was bedeutet das konkret?

Die Gesellschaft digitaler Services der Apotheken, kurz Gedisa, ist ein Unternehmen von 16 Landesapothekerverbänden und -vereinen und betreibt vor allem das Apothekenportal und die Kunden-App ApoGuide. Sie hat eine eigene CardLink-Lösung entwickelt und dafür auch schon eine Zulassung von der Gematik beantragt. Die App dient dabei vereinfacht gesagt als Kartenlesegerät, für die Anfrage an den E-Rezept-Fachdienst braucht es aber den Provider. Die Lösung der Gedisa können alle App-Partner kostenlos nutzen. Für die Apotheken bedeutet das, dass sie im Apothekenportal diese Apps ganz einfach als Kanäle buchen können, wenn sie sie ihren Kundinnen und Kunden eine CardLink-Lösung anbieten möchten.

Wenn Sie jetzt zurückblicken: Glauben Sie, der E-Rezept-Start hätte besser vorbereitet werden müssen? Oder war der Sprung ins kalte 
Wasser nötig?

Es war nicht unser Wunsch, so abrupt zu starten. Vor dem Hintergrund, dass die Rollout-Versuche in den Testregionen gescheitert sind, wäre es sinnvoll gewesen, die Einführung sanfter zu gestalten als die E-Rezept-Pflicht vollumfänglich zum 1. Januar 2024 wirksam werden zu lassen. Dazu hätte man zum Beispiel Quoten 
vorgeben können, etwa dass 20 Prozent der Gesamtverordnungen digital erfolgen müssen. Das wäre für mein Dafürhalten der bessere Weg gewesen.

Darin steckt auch Kritik am Vorgehen des BMG. Das Verhältnis zum Ministerium ist auch auf Ebene der Gematik angespannt – insbesondere, weil es in den vergangenen Monaten mehrfach seine Stimmenmehrheit genutzt hat, um bestimmte Entscheidungen gegen den Willen der Selbstverwaltung durchzusetzen. Wie läuft aktuell der Austausch innerhalb der Gematik zum E-Rezept?

Auf der Arbeitsebene ist der Austausch sehr konstruktiv, sowohl unter den Leistungserbringern als auch mit der Gematik. Aber die Alleingänge des BMG wie etwa bei der CardLink-Entscheidung sehe ich kritisch. So kann man mit den anderen Gesellschaftern der Gematik nicht umgehen. Das ist alles andere als wertschätzend gegenüber der Selbstverwaltung und eine Entwicklung, die uns allen nicht gefällt.

Frau Rüdinger, vielen Dank für das Gespräch!

Korrektur: In einer ursprünglichen Version des Artikels hieß es fälschlicherweise, die CardLink-Zulassung sei erteilt. Sie ist lediglich beantragt. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.


Christina Grünberg (gbg), Apothekerin, Betriebswirtin (IWW), DAZ-Redakteurin
cgruenberg@daz.online


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2 Kommentare

Zulassung schon erteilt? Wirklich?

von Tobias Kast am 01.07.2024 um 7:20 Uhr

Wann wurde das Interview geführt?
"Sie hat eine eigene CardLink-Lösung entwickelt und dafür auch schon eine Zulassung von der Gematik erhalten."

Jetzt am 01.07. kurz nach 7 Uhr steht für die Gedisa genau eine laufende Zulassung im Fachportal der gematik: Anbieter KIM seit Ende Dezember...

https://fachportal.gematik.de/zulassungs-bestaetigungsuebersichten

Und unter dem Produkttyp eHealth-CardLink steht die Gedisa auch nicht...?

» Auf diesen Kommentar antworten | 1 Antwort

AW: Zulassung schon erteilt? Wirklich

von DAZ-Redaktion am 01.07.2024 um 9:14 Uhr

Lieber Herr Kast,

das war tatsächlich ein Fehler. Die Zulassung ist beantragt. Wir haben das korrigiert.

Grüße
Ihre Redaktion

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