T-Zell-Reaktivität vernachlässigt

SARS-CoV-2: Ist die Grundimmunität höher als angenommen?

Remagen - 14.10.2020, 07:00 Uhr

Die meisten Experten gehen aktuell davon aus, dass für eine Herdenimmunität gegenüber SARS-CoV-2 mindestens 60 Prozent der Menschen immun/geimpft sein müssen. Manche Wissenschaftler gehen von einer erheblich niedrigeren Herdenimmunitätsschwelle aus. Was steckt dahinter? (x / Foto: pinkeyes / stock.adobe.com)

Die meisten Experten gehen aktuell davon aus, dass für eine Herdenimmunität gegenüber SARS-CoV-2 mindestens 
60 Prozent der Menschen immun/geimpft sein müssen. Manche Wissenschaftler gehen von einer erheblich niedrigeren Herdenimmunitätsschwelle aus. Was steckt dahinter? (x / Foto: pinkeyes / stock.adobe.com)


Was bedeutet das für eine mögliche Herdenimmunität?

Theoretisch folgen Ausbrüche ansteckender Krankheiten einem bestimmten Verlauf. In einer Bevölkerung ohne Immunität verbreiten sich neue Infektionen schnell. Irgendwann sollte eine Beugung dieses Wachstums auftreten, und die Inzidenz beginnt zu sinken. Der Wendepunkt wurde in den 1970er Jahren als „Herdenimmunitätsschwelle“ (HIT) definiert. Sie leitet viele Impfkampagnen und wird häufig zur Festlegung von Impfzielen verwendet.

Die meisten Experten gehen aktuell davon aus, dass für die Herdenimmunität gegenüber SARS-CoV-2 mindestens 60 Prozent der Menschen immun sein müssen. Die Ursprungsformel beruhe jedoch auf zwei Annahmen, nämlich dass die Immunität in einer bestimmten Population gleichmäßig verteilt ist und dass sich die Mitglieder zufällig mischen, gibt Doshi zu bedenken. Eben diese Grundannahmen habe ein internationales Wissenschaftlerteam kürzlich in Zweifel gezogen – es gehe von einer erheblich niedrigeren Herdenimmunitätsschwelle aus.

Prinzip der Herdenimmunität nicht fehlinterpretieren!

Am 15. September betonte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erneut, dass keine Impfpflicht gegen das Coronavirus eingeführt werden soll. Um eine Herdenimmunität zu erreichen, müssten sich in Deutschland 55 bis 65 Prozent der Bürger impfen lassen: „Wir sind sehr, sehr zuversichtlich, dass wir das Ziel einer ausreichend hohen Impfquote freiwillig erreichen.“ 

Im Kontrast dazu hat die WHO am vergangenen Montag vor dem Konzept der Herdenimmunität „via Ansteckung“ gewarnt, wie die Deutsche Presse-Agentur berichtete. „Niemals in der Geschichte des Gesundheitswesens wurde Herdenimmunität als eine Strategie gegen einen Ausbruch eingesetzt, geschweige denn gegen eine Pandemie“, wird WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus zitiert. Eine Herdenimmunität – also die Schwelle, ab der sich ein Virus nicht mehr in einer Bevölkerung verbreiten kann – müsse ähnlich wie bei den Masern und der Kinderlähmung durch Impfungen, nicht durch Ansteckungen erreicht werden, zumal weiter unklar sei, wie sehr eine Infektion vor einer zweiten schütze. In einem Brief hatten Forscher aus verschiedenen Ländern zuletzt für Herdenimmunität geworben. Der Begriff „Herdenimmunität“ für sich allein stehend darf also nicht fehlinterpretiert werden. (dpa/dm)

Eine andere Gruppe, die von Professor Sunetra Gupta an der Universität Oxford geleitet wird, stütze diese Annahme. Sie habe eine Methode zur Berechnung der Schwellenwerte für die Herdenimmunität entwickelt, die eine Variable für vorbestehende angeborene Resistenz und Kreuzreaktion miteinbezieht. Wenn es in einer Population auch Menschen mit vorbestehender Immunität geben sollte, könne die Herdenimmunitätsschwelle basierend auf einem R0-Wert von 2,5 von besagten 60 Prozent auf nur 10 Prozent gesenkt werden, so die Berechnung der Gupta-Gruppe – abhängig von der Menge und Verteilung der vorbestehenden Immunität unter den Menschen. 

So erklärt das RKI den R0-Wert: 

„Am Anfang einer Pandemie gibt es den Startwert R0 (auch: Basisreproduktionszahl), der beschreibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Mittel ansteckt, wenn die gesamte Bevölkerung empfänglich für das Virus ist (weil es noch keine Immunität in der Bevölkerung gibt), noch kein Impfstoff verfügbar ist und noch keine Infektionsschutzmaßnahmen getroffen wurden.

Bei SARS-CoV-2 liegt R0 zwischen 2,4 und 3,3, das heißt, jeder Infizierte steckt im Mittel etwas mehr als zwei bis etwas mehr als drei Personen an.“

Andere Forscher allerdings dämpfen die Erwartungen an die ersten Corona-Impfstoffe, wie DAZ.online bereits berichtete: Man könne nicht davon ausgehen, dass COVID-19-Impfstoffe, selbst wenn sie nachweislich die Schwere der Krankheit wirksam reduzieren, die Virusübertragung in vergleichbarem Maße verringern werden. Die Vorstellung, dass eine durch COVID-19-Impfstoffe induzierte Immunität der Bevölkerung eine Rückkehr zur Normalität vor COVID-19 ermöglicht, könnte eine Illusion sein.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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