ACE2 und COVID-19

Diabetes und Corona: Ein Henne-Ei-Problem?

Stuttgart - 10.07.2020, 17:50 Uhr

Die Diabetes-Medikation muss bei einer (COVID-19-) Infektion angepasst werden. (s / Foto: IndiaPix / stock.adobe.com)

Die Diabetes-Medikation muss bei einer (COVID-19-) Infektion angepasst werden. 
(s / Foto: IndiaPix / stock.adobe.com)


Corona, ACE2 und Bluthochdruck-Patienten sind drei Dinge, die während der aktuellen Pandemie schon breit diskutiert wurden. Auch Diabetes-Patienten standen als COVID-19-Risikopatienten immer wieder im Fokus. Und auch hier könnte mechanistisch ACE2 eine Rolle spielen, wie jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse vermuten lassen. Doch könnte SARS-CoV-2 sogar verantwortlich sein, dass ein Diabetes erstmals neu auftritt?

Laut Robert Koch-Institut (RKI), „Informationen und Hilfestellungen für Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf“ scheinen verschiedene Grunderkrankungen wie Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Erkrankungen des Atmungssystems, der Leber, der Niere, Krebserkrankungen oder Faktoren wie Adipositas und Rauchen das Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf zu erhöhen. Diese pauschale Aussage kritisierte die DDG (Deutsche Diabetes Gesellschaft) Anfang Mai in einer Mitteilung. Menschen mit Diabetes seien nicht grundsätzlich COVID-19-Risikopatienten, hieß es. Die DDG warnte vor „Stigmatisierung“ von Bevölkerungsgruppen während der Corona-Pandemie. Menschen mit einem gut eingestellten Diabetes mellitus erkranken laut DDG nicht häufiger an COVID-19 als die Durchschnittsbevölkerung. Allerdings gebe es Hinweise darauf, dass der Krankheitsverlauf bei dieser Patientengruppe schwerer sein kann, doch die meisten an COVID-19 Verstorbenen mit Diabetes sollen hochbetagt gewesen sein und weitere Erkrankungen gehabt haben. 

Können Coronaviren Diabetes auslösen?

Am 12. Juni wurde nun ein neuer Aspekt in einem Brief adressiert, der nicht nur die oben geschilderte Sichtweise verändern könnte. Er wurde im „New England Journal of Medicine“ (NEJM) veröffentlicht. Absender ist eine internationale Gruppe von Endokrinologen. Darin heißt es, dass COVID-19 und Diabetes nicht nur dadurch verbunden seien, dass Diabetes-Patienten das Risiko tragen, schwer an COVID-19 erkranken zu können – vielmehr könnte Diabetes infolge einer Corona-Infektion erst entstehen. Dem Brief zufolge wurden Fälle beobachtet, in denen es bei COVID-19-Patienten zu neu aufgetretenem Diabetes und schweren metabolischen Komplikationen eines bereits bestehenden Diabetes gekommen ist – einschließlich Ketoazidose und Hyperosmolarität. Bei anderen Coronaviren soll es schon ähnliche Hinweise zur Beeinflussung eines Diabetes gegeben haben. 

Zelluläre Aufnahme des SARS-CoV-2 über ACE2

In der DAZ 22/2020 wurde beschrieben, welche Rolle das Enzym ACE2 bei einer SARS-CoV-2-Infektion spielt: „Die Infektion beginnt für gewöhnlich im oberen Respirationstrakt durch den Kontakt mit Virus-enthaltenden Aerosolen. SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus 2) ist ein behülltes RNA-Virus. Über sogenannte spike-Proteine bindet SARS-CoV-2 an das membranständige Protein Angiotensin-konvertierendes Enzym 2 (ACE2) in der Wirtszelle und wird gemeinsam mit ACE2 internalisiert. Vermittelt durch die transmembrane Serinprotease 2 (TMPRSS2) kommt es dabei zur Spaltung des spike-Proteins.“ 

ACE2-Expression konnte in vielen Organen nachgewiesen werden, was die Ursache für Manifestationen von COVID-19 außerhalb der Lunge sein könnte. Mehr dazu lesen Sie in: „Leichtes Spiel für SARS-CoV-2?“ 

Offenbar könnte dabei erneut das im Zusammenhang mit Blutdruckpatienten viel besprochene Enzym ACE2 eine Rolle spielen, an welches SARS-CoV-2 im menschlichen Körper bindet: ACE2 werde in wichtigen Stoffwechselorganen und Geweben, einschließlich Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse, Fettgewebe, Dünndarm und Nieren, exprimiert, heißt es in dem Brief. 

Mehr Fragen als Antworten: Ein Register soll helfen

Alles in allem scheine im Zusammenhang mit COVID-19 ein diabetogener Effekt vorzuliegen, der über das Maß einer Stressreaktion im Zusammenhang mit einer schweren Krankheit hinausgehe. Was man aber nicht wisse: Bleibt der diabetogene Effekt nach der Infektion bestehen? Wie häufig kommt es zu neu aufgetretenem Diabetes und um welchen Diabetes-Typ handelt es sich, der offenbar durch SARS-CoV-2 ausgelöst wird? Verändert COVID-19 bei Patienten mit vorbestehendem Diabetes die zugrunde liegende Pathophysiologie und den natürlichen Krankheitsverlauf? Es sei nun eine Priorität, diese Fragen zu klären, heißt es in dem Brief. 

Dabei helfen soll im Rahmen des CoviDIAB-Projekts ein globales Register von Patienten mit COVID-19-assoziiertem Diabetes. 

Übrigens ...

Dass Virus-Infektionen Diabetes auslösen können, ist keine absolute Neuigkeit. 

„Ganz allgemein können Infekte bei Menschen mit Diabetes den Stoffwechsel durcheinanderbringen. Wenn das körpereigene Abwehrsystem Erreger wie beispielsweise Viren erkennt, werden Stresshormone freigesetzt. Dazu zählt Adrenalin. Es sorgt dafür, dass die Leber vermehrt Glucose (Zucker) abgibt. In der Folge steigt der Blutzuckerspiegel. Bei Fieber sollten Menschen mit Diabetes ihren Blutzuckerspiegel besonders gut überwachen. Fieber, egal welcher Ursache, lässt im Normalfall den Blutzuckerspiegel steigen”, heißt es beispielsweise auf dem Diabetesinformationsportal in neuem Auftritt „diabinfo“

Außerdem schreibt der Diabetesinformationsdienst München (das bisherige Internet-Portal), dass beispielsweise das Rubella-Virus bei Schwangeren über die Gebärmutter das ungeborene Kind befallen und zu schweren Komplikationen führen kann: „Häufige Folgen sind Schwerhörigkeit, Herzfehler, Augenfehlbildungen, offener Rücken, Früh- oder Fehlgeburt. Mögliche Wirkung bei der Zuckerkrankheit sind die Zerstörung der Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse und dadurch die Entstehung von Typ-1-Diabetes.“ 

Auch das Humane Zytomegalievirus (HCMV) sei für gesunde Erwachsene in der Regel zwar harmlos, in der Schwangerschaft könne es aber für ungeborene Kinder lebensgefährlich sein: „Mögliche Wirkung bei der Bildung von Diabetes: Die Bauchspeicheldrüse kann sich entzünden.“ 

2016 kam eine groß angelegte Analyse von Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern außerdem zu dem Ergebnis, dass virale Atemwegsinfektionen in den ersten sechs Lebensmonaten mit einem erhöhten Risiko für Typ-1-Diabetes assoziiert seien. 

Laut dem Nachrichtenportal Medscape wurde CoviDIAB von Prof. Dr. Stefan Bornstein, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden, im Rahmen des Transcampus-Projekts mitinitiiert. Man möchte das Register so bekannt wie möglich machen: „Seit der Veröffentlichung unseres Artikels im NEJM haben wir weltweit schon mehr als 60 Berichte von Patienten erhalten, bei denen der Zuckerstoffwechsel in Verbindung mit COVID-19 entgleist ist“, sagte Bornstein im Gespräch mit Medscape am 26. Juni. 

Praktische Handlungsempfehlungen 

Er ist auch Erstautor praktischer Handlungsempfehlungen für das Management von Diabetes bei COVID-19-Patienten, die bereits im April erschienen sind – allerdings in der Rubrik „Personal View“. Schon dort war zu lesen: Alle Patienten ohne Diabetes müssen, insbesondere wenn sie ein hohes Risiko für eine Stoffwechselerkrankung mit sich bringen, auf neu (durch das Virus) auftretenden Diabetes überwacht werden – wenn sie mit SARS-CoV-2 infiziert sind. Bei allen Patienten mit COVID-19 und Diabetes bedürfe es einer kontinuierlichen und zuverlässigen Kontrolle des Blutzuckerspiegels. Entsprechendes wurde auch in den deutschen Empfehlungen der DDG festgehalten. Darin sind zudem praktische Empfehlung zum Umgang mit Diabetes-Medikamenten bei akuten Infektionskrankheiten zu finden. 

Zerstört SARS-CoV-2 endokrine Pankreas-Zellen? Welche Rolle spielt ACE2?

Auch in einer gemeinsamen Pressekonferenz der DDG und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) wurde am 30. Juni betont, dass noch sehr viele Fragen offen sind – also nicht geklärt sei, ob COVID-19 einen Diabetes auch verursachen könnte. Die Frage an sich sei aber wichtig, klinische Studien stünden noch aus. In der zugehörigen Pressemitteilung wird betont, dass auch unabhängig von einer Infektion mit dem Coronavirus die DDG ein Diabetes-Screening per HbA1c-Bestimmung bei allen klinischen, aber auch ambulanten Patienten über 50 Jahren empfiehlt: 


Denn den rund sieben Millionen diagnostizierten Diabetespatienten stehen etwa 1,3 Millionen Menschen gegenüber, die von ihrer Diabeteserkrankung noch nichts wissen.“ 

DDG


Was war also zuerst da? Der Diabetes oder SARS-CoV-2? Laut einem Artikel vom 24. Juni auf der News-Seite von „Nature“ deutet immer mehr darauf hin, dass das Coronavirus tatsächlich Diabetes auslösen könnte. Neben Fallberichten wird dort auf eine experimentelle Studie verwiesen, die in „Cell Stem Cell“ erschienen ist: „A Human Pluripotent Stem Cell-based Platform to Study SARS-CoV-2 Tropism and Model Virus Infection in Human Cells and Organoids“. Wie in dem Brief aus dem NEJM, und in anderen Studien zu Bluthochdruck-Arzneimitteln und COVID-19, rückt auch in dieser Studie das Enzym ACE2 in den Fokus.  

ACE2-exprimierende Endothel-Zellen, Makrophagen und kortikale Neuronen – kaum oder nicht infiziert

Das Journal selbst hat die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen so zusammengefasst: Die Autoren Yang et al. zeigen, dass von humanen pluripotenten Stammzellen abgeleitete Zellen (hPSC-derived) und Organoide wertvolle Modelle darstellen, um den „Tropismus“ (Fähigkeit eines Virus in Gewebe/Zellen einzudringen und sich dort zu vermehren) von SARS-CoV-2 zu untersuchen. Sie kommen zu dem Schluss, dass hPSC-abgeleitete endokrine Zellen der Bauchspeicheldrüse und humane adulte Hepatozyten- und Cholangiozyten-Organoide gegenüber einer SARS-CoV-2-Infektion empfänglich sind. Konkret geht es auch um humane alpha- und beta-Zellen des Pankreas (Langerhans-Insel-Zellen). 

Insgesamt haben die Forscher nach eigenen Angaben nicht nur eine Bibliothek aus hPSC-abgeleiteten Zellen/Organoiden des endokrinen Pankreas und der Leber erstellt, die jetzt zu weiteren Forschungszwecken genutzt werden könnten – sie haben auch Endothelzellen, Kardiomyozyten, Makrophagen, Mikroglia, kortikale Neuronen und dopaminerge Neuronen untersucht und in die Bibliothek aufgenommen. Allerdings zeigten ACE2-exprimierende Endothel-Zellen, Makrophagen und kortikale Neuronen laut den Forschern nur kaum oder gar keine Empfänglichkeit gegenüber SARS-CoV-2. Sie stellen in der Folge die Hypothese auf, dass neben ACE2 weitere Faktoren den Eintritt des Virus in die Zelle beeinflussen (beispielsweise TMPRSS2, siehe Kasten auf Seite 1). 

Die nicht-lineare Beziehung zwischen ACE2 und der Permissivität gegenüber einer SARS-CoV2-Infektion unterstreiche in der Forschung die Bedeutung, hPSC-abgeleitete Zellen zu verwenden – gegenüber ACE2-überexprimierenden Zellen.

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Die Empfänglichkeit der hPSC-abgeleiteten Leber- und Pankreas-Zellen gegenüber SARS-CoV-2 wurde laut den Forschern schließlich anhand adulter primärer menschlicher Inselzellen, adulter Leber- und Cholangiozyten-Organoiden und anhand eines humanisierten Mausmodells weiter validiert. 

Zudem konnte in den hPSC-abgeleiteten endokrinen Pankreas-Zellen und Leber-Organoiden eine Hochregulation der Chemokin-Expression beobachtet werden, die mit den Profilen von Geweben übereinstimme, die nach der Autopsie von COVID-19-Patienten gewonnen wurden. Auch solche allgemeinen Entzüdungsprozesse könnten also – neben einer möglichen Zerstörung der endokrinen Pankreas-Zellen durch SARS-CoV-2 – zum Neuauftreten oder zu einer Verschlechterung von Diabetes führen. 

Paul Zimmet, Diabetes-Direktor von der Monash University in Melbourne (Australien), wird von „Nature“ zur Einschätzung der Situation so zitiert: „Diabetes ist schon eine Pandemie an sich, genauso wie COVID-19.“ Die beiden Pandemien könnten nun aufeinanderprallen. 

Jedenfalls in Deutschland dürfte die Diskussion rund um Diabetes und COVID-19 die „Enttäuschung über eine ‘Light’-Version der Diabetesstrategie“, wie sie kürzlich als Antrag beschlossen wurde, noch unterstreichen.



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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