Selbstmedikation bei PDE-5-Hemmern

OTC-Switch bei Viagra – sinnvoll, sicher und häufig?

Remagen - 26.06.2020, 14:55 Uhr

In manchen Ländern gibt es Sildenafil auch ohne Rezept. In Deutschland scheiterte der OTC-Switch bislang. (Foto: Maksymiv Iurii / stock.adobe.com)

In manchen Ländern gibt es Sildenafil auch ohne Rezept. In Deutschland scheiterte der OTC-Switch bislang. (Foto: Maksymiv Iurii / stock.adobe.com)


Viagra und Co. einfach aus der Apotheke ohne Rezept? Das würden sich sicher viele wünschen, aber wäre das auch angemessen? Nicht umsonst sind bislang erst wenige Länder den mutigen Schritt gegangen und stellen den weltweit ersten PDE-5-Hemmer, der nun immerhin schon mehr als 20 Jahre „auf dem Buckel“ hat, für die Selbstmedikation zur Verfügung, mit dem Apotheker als wichtige Beratungsinstanz.

Eine erektile Dysfunktion ist keine Bagatelle. Um sie richtig zu erkennen und zu behandeln, sind eingehende körperliche und klinisch-neurologische Untersuchungen notwendig. Sie sollte die Betroffenen deswegen bei entsprechendem Leidensdruck als allererstes zum Arzt führen. Schließlich können sich dahinter zahlreiche Erkrankungen verbergen, wie etwa eine gutartige Prostatahyperplasie. Weiterhin können Erkrankungen, die zu Gefäßverengungen führen, wie Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und Hypertonie, die Erektionsfähigkeit beeinträchtigen. 

Wirkstoff-Lexikon

PDE-5-Inhibitoren

Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Diagnostik und Therapie der erektilen Dysfunktion kommt zu einem unmissverständlichen Fazit: Bevor die Therapie beginnt, sollte der Patient über die Ursachen und die therapeutischen Möglichkeiten aufgeklärt werden. Die kommentarlose Verordnung einer medikamentösen Therapie ist zu vermeiden. Primäres Ziel muss die ursächliche Therapie sein. Erst danach erfolgt die symptomatische Therapie. Durch die guten Erfolge der PDE-5-Hemmer werde diese Reihenfolge in den letzten Jahren bedauerlicherweise missachtet, schränkt die Leitlinie ein. Womit wir beim Thema wären.

Welche PDE-5-Hemmer gibt es?

Langjährig Aktiven in der Apotheke und in der Pharmabranche ist der Riesen-Hype um den ersten PDE-5-Hemmer Sildenafil zweifelsohne noch in guter Erinnerung. Dabei ist das seinerzeit in den Massenmedien oft als einfacher „Helfer für alle Männlichkeitsprobleme“ hingestellte Handelspräparat Viagra® im Jahr 2018 schon 20 Jahre alt geworden. Mittelweile haben Viagra® und seine Generika einige Konkurrenz bekommen. Vardenafil (Levitra®), seit 2003 erhältlich, wird als zehnfach potenter als Sildenafil angesehen, weshalb es niedriger dosiert werden kann. Der dritte PDE-5-Hemmer, Tadalafil (Cialis®), ebenfalls 2003 eingeführt, zeichnet sich durch eine sehr lange Halbwertszeit von 17,5 Stunden aus. Dies verlängert das Wirkfenster der Substanz auf bis zu 36 Stunden. Der vierte PDE-5-Inhibitor Avanafil (Spedra®) ist seit 2014 auf dem Markt.

Achtung bei kardiovaskulären Risikofaktoren

Der Einsatz von PDE-5-Hemmern ist mit nicht unbeträchtlichen Risiken behaftet. So sollte vor der Verordnung gegebenenfalls eine kardiologische Risikoabklärung erfolgen. Kontraindikationen sind eine ganze Reihe von Herz-Kreislauf-Konstellationen, wie etwa ein hohes kardiovaskuläres Risiko, arterielle Hypertonie > 170/110 mmHg, eine komplexe antihypertensive Medikation, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Arrhythmien in den letzten sechs Monaten, bestimmte Kardiomyopathien oder arterielle Hypotonie mit Blutdruckwerten < 90/50 mmHg sowie eine Therapie mit Nitraten und NO-Donatoren (z. B. Molsidomin). Damit ist die Frage nach der Eignung der PDE-5-Hemmer für die Selbstmedikation ja eigentlich schon beantwortet, oder?

Trotzdem haben einige weniger Länder den Sprung gewagt, allerdings nicht ganz „ohne Netz und doppelten Boden“.

Kein EU-OTC-Switch für Sildenafil

Trotz der mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte langen Anwendungserfahrungen ist das Flaggschiff unter den PDE-5-Hemmer Sildenafil nach wie vor überwiegend nur auf Rezept erhältlich. Im ersten Anlauf hatte Pfizer im Jahr 2007 versucht, dieses mit einem Rundumschlag in der gesamten EU aus der Rezeptpflicht heraus zu bekommen und war hierzu mit einem Switch-Antrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) vorstellig geworden. 

Die EMA äußerte jedoch Bedenken wegen der fehlenden ärztlichen Überwachung. Der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) befürchtete überdies einen Missbrauch als Lifestyle-Arzneimittel, besonders unter jüngeren Männern. Im Jahr 2008 zog Pfizer den Antrag wieder zurück. Mittlerweile ist das weltweite Rx-Bollwerk ein kleines bisschen gebröckelt.

Neuseeland

Den Anfang hat im Jahr 2014 Neuseeland gemacht und dem Switch-Antrag von Douglas Pharmaceuticals für Sildenafil mit dem Markennamen Silvasta® zugestimmt. Seit etwa fünf Jahren gibt es dort orale Präparate mit bis zu 100 mg Sildenafil pro Dosis-Einheit als feste Form ohne Rezept. Allerdings wurde die Freigabe an weitere Bedingungen verknüpft. So muss das Medikament unter anderem für Männer im Alter von 35 bis 70 Jahren bestimmt sein, und die Apotheker müssen für die Abgabe besonders geschult sein. Außer Silvasta® gibt es auf dem neuseeländischen Markt noch weitere rezeptfreie Sildenafil-Medikamente, zum Beispiel Viagra® und Avigra® von Pfizer Neuseeland und Vedafil® von Mylan.

Polen

Seit Mai 2016 ist Sildenafil (25 mg) zudem in Polen rezeptfrei erhältlich (beschränkt auf zwei Tabletten pro Packung) und wird dort von Adamed unter dem Brand MaxOn Active® vermarktet. 

Großbritannien

Für bestimmte Patienten gab es Sildenafil in UK schon seit dem Jahr 2007 ohne Rezept. Als erste Apotheke hatte Boots diese Möglichkeit über eine sogenannte „Patient Group Direction“ (PGD) eröffnet. Nach einer solchen Vereinbarung zwischen Arzt und Apotheker können rezeptpflichtige Mittel an bestimmte Patienten in Apotheken ohne Rezept abgegeben werden. Viele andere Apotheken waren diesem Beispiel gefolgt und boten Sildenafil und andere Phosphodiesterase-5-Inhibitoren wie Tadalafil (Cialis®, Eli Lilly), Vardenafil (Levitra®, Bayer) und Avanafil (Spedra®, Menarini) über PGDs an hierfür in Frage kommende Patienten an. Insofern wäre der Sprung zur kompletten Freigabe nicht mehr groß, schrieb das Pharmaceutical Journal im Mai 2017

Und das klappte dann auch. Seit Ende 2017 gibt es Sildenafil-Tabletten in England, Schottland, Nordirland und Wales auch so ohne Rezept. Konkret ging es bei dem Switch von einer „POM“ (Prescription-only-Medicine) zu einer „P-medicine“ (Pharmacy-medicine) um das Fertigarzneimittel „Viagra Connect 50 mg“ von Pfizer. Die Käufer müssen mindestens 18 Jahre alt sein. In dem öffentlichen Beurteilungsbericht der Arzneimittelbehörde zu der Umstufung wird ausführlich auf den Benefit und die möglichen Risiken der Freigabe eingegangen. Die MHRA kommt zu dem Ergebnis, dass die Verfügbarkeit von Sildenafil-Filmtabletten für Männer mit erektiler Dysfunktion von Wert sein könnte. Die Patienten könnten von einem Apotheker auf ihre Eignung für das Präparat geprüft und auf etwaige Risiken aufmerksam gemacht werden, wie etwa Situationen, in denen die Einnahme nicht angebracht sein könnte, oder auch mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Zudem könnten die Apotheker die Patienten gegebenenfalls zum Arzt schicken. Auch das Risiko direkter Gefahren oder eines Missbrauchs wird als gering erachtet.

Im Übrigen glaubt die MHRA, dass das geringe Risiko bei weitem durch die Vorteile aufgewogen werde. Damit komme schließlich eine ansonsten schwer zu erreichende Gruppe von Männern immerhin in den Bereich der Gesundheitsversorgung, nämlich in die Apotheke. Außerdem würden die Risiken durch Fälschungen aus dem illegalen Markt gemindert.

Norwegen

Norwegen hat den Weg für die Selbstmedikation mit 50 mg Sildenafil pro Einheit und maximal acht Tabletten pro Packung im letzten Jahr frei gemacht.

Schweiz

In der Schweiz dürfen Apotheker seit 2019 unter bestimmten Voraussetzungen verschreibungspflichtige Medikamente zur Behandlung häufiger Krankheiten abgeben. Damit will der Bund die Kompetenzen der Apotheker bei der Betreuung von Patienten mit bestimmten harmlosen Krankheiten stärken. Seit Anfang April dieses Jahres steht auch Sildenafil auf der Liste des Bundesamts für Gesundheit (BAG), für die das erlaubt ist. Auch hier müssen die Apotheker vorher entsprechend beraten. 

Australien

In Australien hat das Advisory Committee on Medicines Scheduling (ACMS) im Oktober 2017 einen Antrag auf den OTC-Switch von 50 mg Sildenafil bzw. 10 mg Vardenafil, jeweils in einer maximalen Packungsgröße von acht Dosiseinheiten, endgültig abgeschmettert.

Als Begründung macht das ACMS eine Reihe von Bedenken geltend, unter anderem, dass „erektile Dysfunktion“ als Marker für den Zustand der Blutgefäße in anderen Teilen des kardiovaskulären Systems angesehen werden könne, die sorgfältig untersucht werden müssten. Das Expertenkomittee hatte sich bereits Ende März 2017 auf einen Antrag hin gegen den Switch von Vardenafil ausgesprochen und seinerzeit festgestellt, dass Vardenafil zwar ein gutes toxikologisches Profil habe und gut verträglich sei, dass die Störung jedoch zunächst von einem Arzt beurteilt werden solle.

Mit dem OTC-Switch von Sildenafil und Vardenafil auf dem fünften Kontinent ist es also bis dato nichts geworden.   

Deutschland mit dem Rx-Status in guter Gesellschaft

Sucht man in der OTC-Datenbank des Europäischen Selbstmedikationsverbandes AESGP nach Sildenafil, so zeigt sich ein eindeutiges Bild. 24 von 28 Ländern, für die Angaben gemacht werden, erhalten für den PDE-5-Hemmer den Rx-Status aufrecht. In Europa sind dies Belgien, Bulgarien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn. Außerhalb von Europa halten auch die USA, Kanada, Japan und China nichts davon, dass Männer es in der Apotheke einfach ohne Rezept holen können sollen.

Zu den anderen PDE-5-Hemmern liegen dort keine Angaben vor, allerdings ist davon auszugehen, dass deren Sicherheitsprofile erst einmal noch weiter erprobt und festgeklopft werden müssten, um auch nur entfernt an eine Entlassung aus der Rezeptpflicht denken zu können.

Die Vorbehalte und Sicherheitsbedenken bleiben, wahrscheinlich wegen des naheliegenden Fehlbrauchs, hoch. Deutschland, wo DAZ.online zuletzt Ende 2017 einige politische Stimmen zu dem Thema eingeholt hat, befindet sich diesbezüglich in der EU in guter Gesellschaft.



Dr. Helga Blasius (hb), Apothekerin
redaktion@daz.online


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