Arzneimittel bei COVID-19

Wo stehen wir bei Remdesivir?

Stuttgart - 24.06.2020, 07:00 Uhr

Das RKI hat die Studienlage zu Remdesivir unter die Lupe genommen. (m / Foto: felipecaparros / stock.adobe.com)

Das RKI hat die Studienlage zu Remdesivir unter die Lupe genommen. (m / Foto: felipecaparros / stock.adobe.com)


Viel Hoffnung ruht auf Remdesivir. Die EMA prüft derzeit den Zulassungsantrag zur Behandlung von COVID-19, die Forschung läuft auf Hochtouren – wie ist die derzeitige wissenschaftliche Lage bei dem Virostatikum? Das Robert Koch-Institut hat die aktuellen Erfahrungen zusammengefasst und Hinweise für Kliniker erstellt. Fünf Tage Remdesivir scheinen demnach meist ausreichend und ein früher Therapiebeginn sinnvoll, während eine zu späte Gabe von Remdesivir vielleicht auch die Sterblichkeit erhöhen könnte.

Am Anfang schien es, konnte es nicht schnell genug gehen mit Remdesivir. Tatsächlich war das Gilead-Präparat das erste Arzneimittel, das zur Behandlung von COVID-19 per Notfallgenehmigung erlaubt wurde, und zwar in den Vereinigten Staaten. Auch Japan setzt den RNA-Polymerase-Inhibitor bereits ein. In Europa hingegen prüft die EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur) die Zulassung noch, während im Rahmen von Studien und Heilversuchen immer mehr Erkenntnisse zu dem Virostatikum gewonnen werden – wie ist die derzeitige wissenschaftliche Lage bei Remdesivir? Das Robert Koch-Institut (RKI) hat die aktuellen Daten gesichtet.

Sauerstoffbedarf bessert sich

Remdesivir wird stark beforscht, die einzelnen Studien liefern jedoch keine einheitlichen Ergebnisse. Im Rahmen des „Compassionate Use“ von Remdesivir zeigte sich in einer kleinen Untersuchung bei 36 von 53 (68 Prozent) schwer an COVID-19 erkrankten Patienten eine klinische Verbesserung bezogen auf den Sauerstoffbedarf beziehungsweise Beatmungsmaßnahmen („oxygen support“).

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Die im New England Journal of Medicine publizierte Studie „Compassionate Use of Remdesivir for Patients with Severe Covid-19“ hat jedoch aufgrund der wenigen Probanden, der kurzen Nachbeobachtung (Follow-up) von 18 Tagen und teils unvollständiger Daten nur eine begrenzte Aussagekraft. Zudem wurde die Viruslast weder vor noch nach der Remdesivir Behandlung bestimmt, was Rückschlüsse auf die antivirale Wirksamkeit von Remdesivir erlaubt hätte. Auch fehlte eine randomisierte Vergleichsgruppe.

Compassionate Use – was ist das?

Die Europäische Arzneimittel-Agentur definiert „Compassionate Use“ wie folgt: „Compassionate Useist eine Behandlungsoption, die die Verwendung eines nicht zugelassenen Arzneimittels ermöglicht. Unter bestimmten Voraussetzungen können in der Entwicklung befindliche Arzneimittel Gruppen von Patienten, die an einer Krankheit leiden, für die es keine befriedigenden zugelassenen Therapien gibt und die nicht in klinische Studien eintreten können, verfügbar gemacht werden. (…) Diese Programme werden nur dann eingeführt, wenn von dem Medikament erwartet wird, dass es Patienten mit lebensbedrohlichen, langwierigen oder zu schwerer Invalidität führenden Krankheiten hilft, die mit keinem derzeit zugelassenen Medikament zufriedenstellend behandelt werden können.“

Remdesivir verkürzt Krankheitsdauer, frühe Gabe sinnvoll

Positive, jedoch bislang nur vorläufige Ergebnisse, lieferte auch die vom National Institutes of Health durchgeführte multizentrische, doppelblinde randomisierte kontrollierte Phase-III-Studie bei hospitalisierten COVID-19 Patienten (Adaptive COVID-19 Treatment Trial, ACTT-1). Die bisherigen Ergebnisse wurden unter „Remdesivir for the Treatment of Covid-19 Preliminary Report“ am 22. Mai im NEJM veröffentlicht. Patienten, die Remdesivir erhielten, hatten eine um 31 Prozent schnellere Genesungszeit als Patienten, die Placebo erhielten. Unter Remdesivir waren die Erkrankten im Median nach elf Tagen genesen, mit Placebo dauerte die Genesung 15 Tage. Als genesen galt, wer innerhalb von 28 Tagen nach Studieneinschluss nicht mehr im Krankenhaus war und keine Einschränkung der Aktivität zeigte oder nicht mehr hospitalisiert war, aber eine Einschränkung der Aktivität und/oder Sauerstoffbedarf hatte oder zwar noch hospitalisiert war, jedoch ohne Sauerstoffbedarf. Am meisten scheint der Studie zufolge Remdesivir Patienten zu nutzen, die Sauerstoff benötigten, während mechanisch beatmete Patienten oder solche mit extrakorporaler Membranoxygenierung (ECMO) weniger profitierten.

Was ist die extrakorporale Membranoxygenierung?

Bei der extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) übernimmt eine Maschine teilweise oder vollständig die Atemfunktion des Patienten. Das Blut des Patienten wird außerhalb seines Körpers mit dem benötigten Sauerstoff angereichert. Der Gasaustausch findet somit nicht in der Lunge statt.

 „Dies weist darauf hin, dass eine antivirale Therapie in der späten Erkrankungsphase, in der hyperinflammatorische Prozesse im Vordergrund stehen, möglicherweise keinen Vorteil mehr bringt“, so die RKI-Experten. Es zeigte sich zudem ein Überlebensvorteil der Remdesivirpatienten (11,9 Prozent) verglichen mit Placebo (7,1 Prozent), dieser Unterschied war jedoch statistisch nicht signifikant, das bedeutet, es könnte auch Zufall sein.

Inhalatives Remdesivir: FDA genehmigt Phase 1

Um die Patienten in noch früheren Krankheitsphasen zu erreichen, untersucht Gilead Remdesivir nun auch in inhalativer Form. Die FDA genehmigte Gilead zufolge nun eine Phase-1-Studie mit einer inhalativen Version von Remdesivir an gesunden Freiwilligen. Das sagte CEO Daniel O'Day in einem offenen Brief. Die Studie soll im August starten. „Eine inhalative Formulierung würde über einen Vernebler appliziert werden, was möglicherweise eine leichtere Verabreichung außerhalb des Krankenhauses in früheren Krankheitsstadien ermöglichen könnte“, sagte O'Day. Somit wäre ein Therapiebeginn möglich, bevor sich die Erkrankung verschlimmere und schwieriger zu behandeln sei.

Fünf Tage Remdesivir genügen – höchstens bei invasiver Beatmung

Auch Gilead untersucht den COVID-19-Hoffnungsträger in zwei großen Studien: In der ersten SIMPLE-Studie werden Sicherheit und Wirksamkeit von Remdesivir an schwer an COVID-19 erkrankten Patienten geprüft, und zwar einmal für fünf Tage und einmal für zehn Tage („Remdesivir for 5 or 10 Days in Patients With Severe Covid-19“, NEJM). In einer zweiten SIMPLE-Studie („Study to Evaluate the Safety and Antiviral Activity of Remdesivir in Participants With Moderate Coronavirus Disease [COVID-19] Compared to Standard of Care Treatment“) erhalten die Patienten ebenfalls fünf oder zehn Tage Remdesivir, allerdings sind sie nur mäßig erkrankt. Bislang gibt es – wie bei ACTT-1 – nur Zwischenanalysen. Demnach scheint eine fünftägige Remdesivirgabe so wirksam wie ein zehntägige, allerdings mit einer Einschränkung:

Invasiv beatmete Patienten könnten unter Umständen von einer zehntägigen Remdesivirgabe profitieren, in der Studie verstarben in der Fünftagesgruppe 40 Prozent (10 von 25) im Vergleich zu 17 Prozent (7 von 14) in der Zehntagesgruppe. Auch hier zeigt sich, dass ein früher Therapiebeginn sinnvoll sein könnte: Nach 14 Tagen konnten 62 Prozent der Patienten aus dem Krankenhaus entlassen werden, wenn sie innerhalb von zehn Tagen nach Symptombeginn Remdesivir erhielten, während bei späterem Therapiebeginn nur 49 Prozent der Patienten nach zwei Wochen entlassen werden konnten.

Was sind die Nebenwirkungen?

Zu den am häufigsten berichteten Nebenwirkungen gehören laut der SIMPLE-Studie vor allem Übelkeit, Verstopfung und Erhöhung der Leberwerte (Transaminasen). Teilweise war letzteres auch Grund für einen Studienabbruch.

Schadet ein zu später Therapiebeginn?

Allerdings gibt es auch andere Daten: Eine chinesische multizentrische randomisierte Studie zeigte bei schwer an COVID-19 erkrankten Patienten keinen signifikanten Vorteil für Remdesivir verglichen mit Placebo in Bezug auf Sauerstoffbedarf, Länge des Krankenhausaufenthalts, Zeitraum bis zur Entlassung oder hinsichtlich der 28-Tage-Sterblichkeit. Remdesivir verkürzte zwar die Beatmungsdauer – aber nicht statistisch signifikant. Interessant ist hier vor allem die 28-Tages-Sterblichkeit: Bei frühem Therapiebeginn (innerhalb von zehn Tagen nach Symptombeginn) starben 15 Prozent der Placebopatienten und 11 Prozent der Remdesivirpatienten innerhalb von 28 Tagen. Im Gegensatz dazu starben bei einem späteren Therapiebeginn (mehr als zehn Tage nach Symptombeginn) mehr Patienten in der Remdesivirgruppe (14 Prozent) als in der Placebo-Gruppe (10 Prozent). Jedoch waren auch diese Unterschiede statistisch nicht signifikant, sie „zeigen lediglich eine Tendenz zugunsten eines früheren Einsatzes von Remdesivir“, so das RKI. Die Studie „Remdesivir in adults with severe COVID-19: a randomised, double-blind, placebo-controlled, multicentre trial“ wurde im Mai 2020 in Lancet veröffentlicht.

Das rät das RKI

Zusammenfassend empfiehlt das Robert Koch-Institut:

  • Behandlungsbeginn in der Frühphase der Erkrankung bei schwerkranken Patienten scheint erstrebenswert zu sein, ein späterer Einsatz (> 10 Tage nach Symptombeginn) bringt vermutlich keinen Vorteil mehr, kann gegebenenfalls sogar nachteilig sein.
  • Eine antivirale Therapie in der hyperinflammatorischen Phase von COVID-19 bringt nach der aktuellen Datenlage keinen Benefit. Ebenfalls fraglich erscheint aktuell der Benefit für Patienten mit mechanischer Beatmung, inklusive ECMO.
  • Remdesivir wird (wenn in klinischen Studien nicht anders vorgegeben) bei Patienten ohne invasive Beatmungstherapie oder ECMO über insgesamt fünf Tage (gegebenenfalls mit einer Verlängerung auf insgesamt zehn Tage) und bei Patienten mit invasiver Beatmungstherapie oder ECMO über insgesamt zehn Tage verabreicht.
  • Für die Dosierung gilt jeweils eine Loading-Dose mit 200 mg Remdesivir intravenös am ersten Behandlungstag, gefolgt von einer Erhaltungsdosis von 100 mg i.v. Remdesivir einmal täglich über weitere vier beziehungsweise neun Tage.

In Europa noch nicht zugelassen

Das RKI betont, dass Remdesivir in Deutschland zurzeit nicht zugelassen ist, und das Virostatikum ausschließlich im Rahmen von Studien und individuellen Heilversuchen bei schwer an COVID-19 Erkrankten eingesetzt werden darf, wobei sich das RKI bei der Definition einer „schweren“ Erkrankung an der Notfallgenehmigung der FDA (Food and Drug Administration) orientiert: periphere Sauerstoffsättigung von höchstens 94 Prozent unter Raumluft oder die Notwendigkeit einer Sauerstoff-Gabe oder nicht-invasiven oder invasiven Beatmungstherapie (inklusive ECMO).

Vor einer vorschnellen Zulassung von Remdesivir warnte jüngst der Präsident der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Professor Wolf-Dieter Ludwig. Der AkdÄ-Chef fürchtet, dass wenn die EMA Remdesivir tatsächlich zulässt, dass dann die Forschungsanstrengungen zu dem Arzneimittel leiden. „Das ist aus meinem Blickwinkel eine absolute Fehlentwicklung und wird nicht dazu führen, dass wir gut geprüfte, wirksame und sichere Arzneimittel gegen COVID-19 bekommen“, so Ludwig. Kritisiert hatte er unter anderem, dass unklar sei, wann Remdesivir am besten gegeben werden soll. Zumindest gibt es hier mit den „zehn Tagen nach Symptombeginn“ laut RKI nun eine grobe Richtschnur.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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