Jahrbuch Sucht

Experten fordern Strategie gegen Arzneimittel-Abhängigkeit

Berlin - 12.04.2017, 11:41 Uhr

Arzneimittel-Abhängigkeiten sind nach wie vor ein großes Problem in Deutschland, auch in der Apotheke ist das ein schwieriges Thema. (Foto: monropic / Fotolia)

Arzneimittel-Abhängigkeiten sind nach wie vor ein großes Problem in Deutschland, auch in der Apotheke ist das ein schwieriges Thema. (Foto: monropic / Fotolia)


Nach Tabak und vor Alkohol betreffen Arzneimittel-Abhängigkeiten weiterhin geschätzt rund 1,9 Millionen Bundesbürger, wie die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen am gestrigen Dienstag bekanntgab. Rund jedes zwanzigste Arzneimittel soll Suchtpotenzial besitzen, immer häufiger werde auf Privatrezept verschrieben. Der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske fordert mehr Transparenz.

Als die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) am Dienstag die neuesten Zahlen für 2015 in ihrem Jahrbuch Sucht vorstellte, legte sie einen Fokus wieder auf Arzneimittel-Abhängigkeiten. „Es wird immer wieder verkannt: Aber es ist die zweite große Abhängigkeit in Deutschland – hinter Tabak, aber noch vor Alkohol“, sagte der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske von der Universität Bremen laut der Deutschen Presseagentur. Wie schon zuvor schätzt die DHS, dass 4 bis 5 Prozent aller verordneten Arzneimittel ein eigenes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial besitzen, darunter vor allem die Schlaf- und Beruhigungsmittel mit Wirkstoffen aus der Familie der Benzodiazepine und der anderen Benzodiazepinrezeptoragonisten, die sogenannten Z-Substanzen. 

In den letzten Jahren sind die Verordnungen dieser Mittel im Rahmen der GKV zwar zurückgegangen, der Anteil der privat verordneten Mittel hat allerdings  zugenommen. Gleichzeitig kam es zu einem deutlichen Verordnungsanstieg bei Schlafmitteln aus der Gruppe von Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Zolpidem und Zopiclon (Z-Substanzen). Mehr als jedes zweite dieser Arzneimittel werde mittlerweile auf Privatrezept verordnet, vor allem für Versicherte der Gesetzlichen Krankenkassen, erklärt Glaeske in einem begleitenden Beitrag für die DHS. „Privatrezepte für Hypnotika werden damit heutzutage eher die Regel als die Ausnahme“, schreibt er.

Ärzte wollen laut Glaeske Diskussionen und Regresse vermeiden

Nach Ansicht des Pharmakologen verhinderten Ärzte so eine kritische Arzneimittelversorgung, weil Privatrezepte an keiner Stelle systematisch erfasst und ausgewertet werden. „Dies scheint vor allem eine Strategie zu ein, als Verordner unentdeckt in der Statistiken der Krankenkassen zu bleiben, damit weder unangenehme Diskussionen über die fortwährende Verordnung abhängigkeitsinduzierender Arzneimittel noch mögliche Regresse auf die jeweiligen Ärzte zukommen“, kritisiert Glaeske.

Die verkauften Benzodiazepine reichen immer noch aus, um etwa 1,2 bis 1,5 Millionen von diesen Arzneimitteln Abhängige  zu versorgen. Die Gesamtzahl der Arzneimittelabhängigen schätzt die DHS auf bis zu 1,9 Millionen. Davon seien insbesondere Frauen im höheren Lebensalter betroffen. „Die Häufigkeit der Verordnung von stark wirkenden Schmerzmitteln hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen“, schreibt Glaeske in einem Kommentar. Er verweist auf die 4K-Regel: klare Indikationsstellung, kleinste notwendige Dosis, kurze Anwendung, kein abruptes Absetzen. 

Intransparenz sei bei Arzneimittelabhängigkeiten fehl am Platz und nutze nur denen, die vom Missbrauch und der Abhängigkeit profitieren, erklärt Glaeske. „Dies sind sicherlich nicht die Patienten und Verbraucher.“ Diese unerwünschten Wirkungen sollten nach der Pressemitteilung der DHS wie die Alkohol- und Drogenabhängigkeit öffentlich diskutiert werden. Auch müsse es Präventionsmaßnahmen geben, die vor allem den Patienten und Verbrauchern nutzen.



Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Autor DAZ.online
redaktion@daz.online


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4 Kommentare

Seit Jahren

von Stefan Haydn am 13.04.2017 um 16:12 Uhr

sind die Umsatzbringer mit jährlichen Zuwachsraten im Versandhandel OTC:

Analgetika, Laxantien, Hypnotika/Sedativa und dann Erkältungsmittel

Noch Fragen?

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Konsequenzen der Studie

von Uwe Hüsgen am 13.04.2017 um 10:36 Uhr

Und welche Konsequenzen zieht Herr Prof. Glaeske aus den Studienergebnissen - speziell mit Blick auf den Versandhandel?
Eine Studie von Prof. Schweim ("Riskanter Vertriebsweg"; DAZ-Nr. 49/2015) liefert Argumente.

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Politisch in Kauf genommene Gesundheitsgefährdung

von Sven Oliver Conrad am 12.04.2017 um 13:19 Uhr

Arzneimittel haben eben neben einem Wirkpotential auch ein Schadenspotential. Nur setzt eine restriktive Handhabe eben auch entsprechende Strukturen voraus. Genau deswegen ist der Versandhandel nicht alleine für Rx-Arzneimittel, sondern ebenso für OTC-Arzneimittel zu untersagen. Es sind eben Arzneimittel. Wenn schon Waren, dann eben welche besonderer Art und solcherlei Problematiken bekommt man nicht aus der Ferne in den Griff! Das hat NICHTS mit dem Thema Warenverkehrsfreiheit der EU zu tun! Ende der Debatte, was die Faktenlage angeht, nur wer erklärt das den Profiteuren oder Chef-Ideologen unter den Entscheidern, die sich einer Lösung diesbezüglich verschließen bzw. diesen gemeingefährlichen (!) Schwachsinn installiert haben? Ich entziehe mich keiner Debatte, aber ich lehne ab, zu akzeptieren, daß profitorientierte Konzerne auch nur ansatzweise ihrer Verantwortung gerecht werden wollten oder könnten, die für jeden selbstständigen Heilberufler in Deutschland eine Selbstverständlichkeit ist und deren Missachtung berufsrechtlich geahndet werden kann.

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AW: Politisch in Kauf genommene

von Christian Becker am 15.04.2017 um 7:15 Uhr

Es ist ja einerseits richtig, dass der Versandhandel da eventuell noch weniger Kontrolle ausüben kann als die Apotheke vor Ort. Andererseits muss auch die Apotheke vor Ort Gewinn machen, wird also auch ungern auf Umsätze verzichten - zumal wenn eine Verschreibung vorliegt wie für Benzodiazepine und Z-Substanzen.

Ich habe tatsächlich mal eine Kundin angesprochen, die in schöner Regelmäßigkeit mit Rezepten bei uns ankam und Unmengen Zolpidem geschluckt haben muss. Die hat dann zuerst gewartet, wenn sie wiederkam, bis ich nicht mehr in der Offizin stand und ist zu einer Kollegin gegangen. Als die sie dann aber auch mal darauf angesprochen hat, hat sie ihre Rezepte eingepackt und ist gegangen.
Jetzt wird sie vermutlich jedes mal eine andere Apotheke aufsuchen, damit keiner einzelnen auffällt, wie oft sie kommt.

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