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War die STIKO zu langsam?

Im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Evidenz und politischem Handlungswillen

jb | Während der Corona-Pandemie stand die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut im Licht der Öffentlichkeit wie selten zuvor. Bewertet wurde sie dabei nicht immer nur positiv. So wurde beispielsweise der Vorwurf erhoben, das Gremium sei zu langsam, unprofessionell und habe Menschen verun­sichert mit seinen sich ändernden Impfempfehlungen. In den Augen des Vorsitzenden Prof. Dr. Thomas Mertens hat das Gremium aber nur seine Arbeit gemacht, die darin besteht, Empfehlungen auf Basis der verfügbaren Evidenz zu treffen.
Foto: DAZ/gg

Prof. Dr. Thomas Mertens

Wie arbeitete eigentlich die STIKO, die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut? Das muss man verstehen, um nachvollziehen zu können, warum die STIKO während der Pandemie so gehandelt hat, wie sie gehandelt hat. Denn das Gremium geriet in dieser Zeit ins Spannungsfeld zwischen dem politischen Handlungswillen und dem eigenen Anspruch. Die STIKO richte sich bei ihren Empfehlungen zwingend nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin, wie der Vorsitzende des Gremiums Prof. Dr. Thomas Mertens erläuterte. So müsste jeweils die Datenlage gesichtet und bewertet sowie Impfziele definiert und schließlich eine Nutzen-Risiko-Abwägung getroffen werden. Zudem werden noch Aspekte wie die Krankheitslast, die Akzeptanz im Ausland sowie gegebenenfalls die Kosten-Effektivität in die Bewertung mit einbezogen. Und so brauche es nun mal eine gewisse Zeit, bis eine Empfehlung ausgesprochen wird.

Das bereite aber Probleme – sachlich und emotional. Denn die Evidenz unterscheide sich oft vom gefühlten Wissen, der „Eminenz“, so Mertens. „Wir als Mediziner haben alle noch so ein bisschen was vom Baströckchen des Medizinmanns und das ist das Gegenteil von Evidenzbasierung,“ konstatiert er. „Die STIKO hingegen hasst Meinungsdiskussionen, das ist verpönt.“ Jede Entscheidung der STIKO sei nachvollziehbar.

„Kritik aus der Politik zeugt von mangelndem Verständnis“

Dass sich ändernde Empfehlungen seitens der Politik als „Hin und Her, das die Menschen verunsichere“, bezeichnet wurden, zeugt Mertens zufolge von mangelndem Verständnis für ein völlig normales und notwendiges wissenschaftliches Vorgehen. Die mit der Zeit vorgenommenen Aktualisierungen seien ein Ausdruck der sorgfältigen Analyse sich stetig verändernder und neu hinzukommender wissenschaftlicher Erkenntnisse. Exemplarisch nannte Mertens die Anwendungsbeschränkungen für den Astra-Zeneca-Impfstoff, der nach dem Auftreten von Sinusvenenthrombosen in die Kritik geraten war. „Für die STIKO galt es nicht zu entscheiden ‚Impfung mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff‘ oder keine Impfung“, erläuterte er, „sondern die STIKO will Impfstoffe so einsetzen, dass bei optimalem Nutzen die Risiken für Impflinge so gering wie möglich sind“. Andere Länder hatten nur den Astra-Zeneca-Impfstoff, da hätte man vielleicht anders entschieden, so Mertens. Aber in Deutschland gab es Alternativen.

Ein zweites Beispiel, bei dem die STIKO in seinen Augen zu Unrecht in die Kritik geraten war, war die Empfehlung zur Boosterimpfung. Die STIKO sei zu langsam, lautete das Narrativ, in anderen Ländern wie Israel gebe es diese Empfehlung bereits. Die Situation in Israel sei aber mit Deutschland nicht vergleichbar. Dort bekäme man auf Knopfdruck Daten, die hier gar nicht zur Verfügung ständen. „Die Booster-Impfung in Israel war eine landesweite Impfstudie – in Deutschland undenkbar,“ erklärte der STIKO-Chef. Im Übrigen habe man neun Tage, nachdem die Daten verfügbar waren, die Boosterempfehlung ausgesprochen. Dass die STIKO langsam war, stimme also nicht.

„Nicht die STIKO hat die Bevölkerung verunsichert“

Ein drittes Beispiel für heftige Kritik an der STIKO war die Impfempfehlung für Kinder. So wurde das Gremium gar als „Laienspieltruppe“, als „unprofessionell“ bezeichnet. Dass die Gesundheitsministerkonferenz dann vorgeprescht war und sich für die Impfung ausgesprochen hatte, kritisierte Mertens heftig, weil zu diesem Zeitpunkt gar nicht bekannt war, welche Rolle die Kinder im Pandemiegeschehen spielen – ein Grund für die Zurückhaltung der STIKO. Es sei nicht gerade „prickelnd“, wenn es eine wissenschaftliche Kommission für alle Fragen zum Impfen gebe, eben die STIKO, die Politik aber mit ihren Empfehlungen die Bevölkerung verunsichere. Das Hauptproblem in der Pandemie war Mertens zufolge nicht die Wissenschaft, die sei schnell gewesen, ebenso die Diagnostik. Er sieht, was das Impfen und ein mögliches Kommunikationschaos angeht, ganz klar die Ärzte und Apotheker in der Verantwortung. Deren Verhalten sei ein – wenn nicht sogar der – entscheidende Faktor für die Impfquoten der Bevölkerung.

„Postvac“ ist nicht definiert

Auch auf das Thema Impfschäden ging Mertens ein. Die Diskussion, wie sie aktuell vom Bundesgesundheitsminister geführt werde, sei „deletär“. „Es gibt keine medizinische Maßnahme, die nicht auch Nebenwirkungen hat,“ sagte er, „durch die hohen Impfraten ist jedes Ereignis zeitlich mit der Impfung assoziiert.“ „Postvac“ ist in Mertens Augen „Mist“, aber nicht weil es nicht denkbar sei, dass man ein Postvac-Syndrom haben kann. Das Problem sei, dass es nicht definiert ist. Es sei ein Sammelbecken von Symptomen, es gebe aber keine Falldefinition. Dem Mediziner zufolge sind 53,5% der weltweiten Nebenwirkungen in Deutschland gemeldet worden. Das gelte es noch zu untersuchen. |

So schnell wie nie

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Prof. Dr. Klaus Cichutek

Die Impfstoffentwicklung sei in der Pandemie so schnell wie nie vonstatten gegangen. Das machte der Direktor des Paul-Ehrlich-Instituts Prof. Dr. Klaus Cichutek in seinem Vortrag deutlich. So habe es von der Isolierung des Erregers bis zur Zulassung der ersten Vakzine ein Jahr gedauert, üblich seien sonst 15 Jahre. Das habe deswegen funktioniert, weil verschiedene Phasen der klinischen Prüfung gleichzeitig stattgefunden haben und die Hersteller bereits vor der Zulassung in die Massenproduktion gegangen seien, so Cichutek.

Auch die Chargenfreigabe dauert üblicherweise lange, weil man für neue Impfstoffe zunächst die Analytik validieren muss. Hier kam Cichutek zufolge dem PEI der Zufall zu Hilfe: Die benötigten Geräte waren alle da, weil sie in der Forschung verwendet wurden. Dem Vorwurf, die Corona-Impfstoffe seien nicht richtig getestet worden, widersprach er: In großen Studien konnte die Sicherheit und Wirksamkeit gezeigt werden.

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