Arzneibuch

Pharmazie europäisch gedacht und reguliert

Die deutschsprachige zehnte Ausgabe der Pharmacopoea Europaea gilt seit Dezember 2020

Foto: Deutscher Apotheker Verlag
Von Rainer Mohr und Marius Penzel | Am 1. Dezember 2020 trat die deutschsprachige Fassung der zehnten Ausgabe des Europäischen Arzneibuchs in Kraft. Dass die Arzneimittelinfrastruktur in einer Pandemie europäisch gedacht werden kann, ist auf die Mission der Pharmacopoea Europaea zurückzuführen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Niederlande von einer Überschwemmungskatastrophe heimgesucht. Damals benötigten die Opfer Arzneimittel aus anderen Ländern, doch die rechtlichen Bestimmungen machten es unmöglich, Arzneien aus europäischen Nachbarstaaten anzuwenden. Im Zuge einer 1948 in Brüssel stattfindenden Konferenz waren sich die Teilnehmer einig: Europa braucht einheitliche Standards für die Herstellung und Prüfung von Arzneimitteln. 1964 gründete der Europarat mit Sitz in Straßburg die Europäische Arzneibuchkommission. Der Europarat ist institutionell nicht mit der Europäischen Union verbunden und zählt heute 47 Mitgliedstaaten. Anders als die 1952 gegründeten ­Europäischen Gemeinschaften, aus der die EU hervorge­gangen ist, sind die Ziele des Europarats nicht wirtschaft­licher Natur. Dieser möchte vielmehr die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte wahren, menschliche und ethische Werte fördern und die Lebensqualität der Europäer verbessern. Somit setzte er sich unter anderem für höhere Gesundheitsstandards ein. Die Arbeit mit dem Europäischen Arzneibuch organisiert das Sekretariat der Arzneibuchkommission, das sich über die Jahre zum Europäischen ­Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln (EDQM) entwickelt hat. 1969 erschien schließlich die erste Ausgabe der Pharmacopoea Europaea (Ph. Eur.). Heute ist die Pharmakopöe für 39 europäische Länder gesetzlich bindend. Weltweit arbeiten Pharmazeutinnen und Pharmazeuten in mehr als 120 Ländern mit dem Europäischen Arzneibuch.

Die deutschsprachige zehnte Ausgabe

Am 1. Dezember 2020 trat die deutschsprachige zehnte Ausgabe des Europäischen Arzneibuchs in Kraft. Sie basiert auf der in englischer und französischer Sprache vom Europarat herausgegebenen Fassung. Sie ersetzt die neunte Ausgabe einschließlich ihrer acht Nachträge. Die deutschsprachige Ausgabe der Pharmacopoea Europaea wird von der Arzneibuch-Redaktion, die sich aus Experten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zusammensetzt, in monatlichen Konferenzen aus den Originalsprachen übersetzt und vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, dem Paul Ehrlich-Institut und dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit im Bundesanzeiger bekannt gemacht. Die in der Ph. Eur. anerkannten pharmazeutischen Regeln sind nach § 54 Arzneimittelgesetz für jeden bindend, der Arzneimittel herstellt, prüft oder in Verkehr bringt. Das Grundwerk der zehnten Ausgabe enthält 346 allgemeine Texte, 2443 Einzelmonographien und etwa 2780 Reagenzienbeschreibungen. Es ist auch digital erhältlich, wobei zwischen den einzelnen Monographien, Methoden und Reagenzien unter­einander verlinkt wird. In der digitalen Version wurden die Anwenderinfos und häufige Fragen überarbeitet, zudem wird die DVD seit dem neuen Grundwerk in einer umweltfreundlicheren Kartonverpackung angeboten. Nach § 5 Apothekenbetriebsordnung muss in jeder öffentlichen Apotheke das Arzneibuch vorhanden sein. Das Arzneibuch setzt sich nach § 55 AMG aus dem Deutschen Arzneibuch (DAB), dem Europäischen Arzneibuch und dem Homöopathischen Arzneibuch (HAB) zusammen. Apothekenbetreibern steht frei, die digitale Version oder das gedruckte Werk zu nutzen.

Innerhalb des Europäischen Direktorats für die Qualität von Arzneimitteln bemüht sich die Pharmacopeial Discussion Group (PDG) um die Harmonisierung des Europäischen Arzneibuchs mit der United States Pharmacopeia (USP) und dem Japanischen Arzneibuch (JP). Im Unterschied zur 9. Ausgabe führt die Ph. Eur. 10.0 bei international harmonisierten Monographien nicht mehr den Grad der Harmonisierung und die nationalen Unterschiede im Allgemeinen Text 5.8 auf. Um dennoch solche nützliche Hintergrundinformationen zugänglich zu machen, werden die Deckblätter der von der PDG je Monographie abgezeichneten „Sign-off documents“ auf der Website des Europäischen Direktorats für die Qualität von Arzneimitteln zur Verfügung gestellt. Sie können diese einsehen, indem Sie den Webcode J9MV5 in die Suchfunktion auf DAZ.online eingeben.

Was ist neu?

Die Übersicht der inhaltlichen Änderungen der Ph.Eur. 10.0 – im Vergleich zur neunten Ausgabe – findet sich auf den Seiten XXXII bis XXXVIII. In den 142 revidierten und 706 korrigierten Texten sind die geänderten oder neu hinzugefügten Textstellen durch horizontale Linien, gestrichene Textpassagen durch kurze vertikale Balken am Textrand gekennzeichnet. Diese Markierungen dienen dem Anwender zur schnellen Orientierung, um zu erkennen, an welchen Stellen die jeweiligen Texte inhaltlich aktualisiert worden sind. Nachfolgend wird an einigen Beispielen aufgezeigt, inwiefern bestimmte Monographien und sonstige Texte revidiert wurden.

UV-Vis-Spektroskopie (Allgemeine Methoden 2.2.25)

Diese Allgemeine Methode wurde umfassend überarbeitet und beschreibt nun auch UV-Vis-Detektoren für chroma­tografische Systeme und Anwendungen in der Prozess­analysentechnik. Zum Zweck der Absorptionsgenauigkeit wurde Nicotinsäure als Alternative zum CMR-Stoff Kalium­dichromat eingeführt.

Prüfung auf Pyrogene (Allgemeine Methoden 2.6.8)

In dem am Kaninchen durchgeführten Test, der z. B. noch zur Reinheitsprüfung vieler Impfstoffe durchgeführt wird, wurde eine Präzisierung auf der Grundlage von Vorgaben des Internationalen Vokabulars für Gesetzliches Mess­wesen (VIM) vorgenommen. Es wurde nun definiert: „Die benutzten Thermometer oder elektrischen Thermofühler müssen die Temperatur mit einer Auflösung von 0,1 °C anzeigen und sollten etwa 5 cm tief in das Rektum der Kaninchen eingeführt werden. Die Einführtiefe sollte für jedes Kaninchen in der Prüfung die gleiche sein. Wird ein elektrischer Thermofühler benutzt, kann dieser während der gesamten Dauer der Prüfung in dieser Lage belassen werden.“

Partikelkontamination – sichtbare Partikel ­(Allgemeine Methoden 2.9.20)

Die Beschreibung der Allgemeinen Methode wurde stark überarbeitet, geklärt wurden etwa die Inspektionspara­meter für gefärbte Glas- oder Kunststoffbehälter und für diejenigen gefärbter oder trüber Präparate (z. B. Licht­quellen, Beleuchtungsintensität, Inspektionszeit).

Galactose (Monographie 1215), Mittelkettige Triglyceride (Monographie 0868)

Chrom, Kupfer, Blei, Nickel, Zinn: In Übereinstimmung mit der Ph. Eur. Implementierungsstrategie der ICH Q3D-­Richtlinie „Elementare Verunreinigungen“ wurden diese Prüfungen in den individuellen Monographien gestrichen, da davon ausgegangen wird, dass die relevanten elementaren Verunreinigungen aus dem Produktionsprozess ­stammen und dort bereits begrenzt bzw. ausgeschlossen werden müssen.

Lauromacrogol 400 (Monographie 2046)

Hydroxylwert: Die Probeneinwaage wurde geändert (2,0 g anstelle von 0,35 g Substanz), um die Wiederholbarkeit der Prüfung zu verbessern und mit der Allgemeinen Methode 2.5.3 Hydroxylzahl, Methode A in Einklang zu bringen.

Tab.: Gestrichene und neue Monographien in der deutschsprachigen zehnten Ausgabe des Europäischen Arzneibuches
10. Ausgabe der Ph. Eur.
Neue Texte
Gestrichene Texte
Monographien bzw. Einzelmonographien in Monographiegruppen
  • Abelmoschus-Blütenkrone
  • Benzydaminhydrochlorid
  • Dronedaronhydrochlorid
  • Gekrönte-Scharte-Kraut
  • Infektiöse-Pankreasnekrose-Impfstoff ­(inaktiviert, injizierbar, mit öligem Adjuvans) für Salmoniden
  • Kakaobutter
  • Octreotid
  • Prasugrelhydrochlorid
  • Squalen
  • Tapentadolhydrochlorid
  • Tetracain
  • Topiramat
  • Vincamin
  • 2.6.24 Aviäre Virusimpfstoffe: Prüfungen auf fremde Agenzien in Saatgut
  • 2.6.25 Aviäre Virus-Lebend-Impfstoffe: Prüfungen auf fremde Agenzien in Chargen von Fertigprodukten
  • Insulin vom Rind
  • Tinnevelly-Sennesfrüchte
Allgemeiner Teil
  • 2.6.35 Quantifizierung und Charakterisierung von Wirtszell-DNA-Rückständen
  • 2.9.49 Bestimmung der Fließeigenschaften von Pulvern mittels Scherzellen
  • 2.9.52 Rasterelektronenmikroskopie
  • 3.3 Behältnisse für Blut und Blutprodukte vom Menschen und Materialien zu deren Herstellung; Transfusionsbestecke und Materialien zu deren Herstellung; Spritzen
  • 5.25 Prozessanalytische Technologie

Grenzwerte für Nitrosamine

In der Ph. Eur. 10.0 wurden zudem erstmals Grenzwerte für die Nitrosamine N-Nitrosodiethylamin (NDEA) und N-Nitrosodimethylamin (NDMA) festgelegt. Die Bestimmungen gehen auf die Valsartan-Krise zurück. Bei dieser wurden im Sommer 2018 zunächst beim AT1-Rezeptorantagonisten Valsartan und später in anderen Arzneimitteln karzinogene Verbindungen nachgewiesen, unter anderem NDEA und NDMA. Die Arzneimittelhersteller verfügten damals zwar über Zertifikate, die bescheinigten, dass der produzierte Wirkstoff durch die damalige Arzneibuchmonographie ausreichend kontrolliert wird (Certificate of Suitability of Monographs of the European Pharmacopoeia, CEP). Solche Zertifikate erteilt das EDQM Wirkstoffherstellern, die sie dann in Zulassungsverfahren vorlegen. Aufgrund geänderter Herstellungsverfahren traten in den betroffenen Wirkstoffen allerdings Nitrosamine auf, die von den Prüfungen der Monographien nicht erfasst wurden, da diese Herstellungs­verfahren zum Zeitpunkt der Monographie-Erstellung nicht bekannt waren. Seit September 2019 müssen pharmazeutische Unternehmen die betroffenen Wirkstoffe auf Nitrosamine prüfen. In den Monographien Candesartancilexetil (2573), Irbesartan (2465), Losartan-Kalium (2232), Olmesartanmedoxomil (2600) und Valsartan (2423) ist nun ein Abschnitt zur Herstellung aufgenommen worden. In diesem ist formuliert, dass Hersteller sicherstellen müssen, dass NDMA und NDEA bei ihren Prozessen nicht entstehen dürfen. Zudem enthalten die Monographien nun eine Reinheits­prüfung auf Nitrosamine.

Im Artikel „Nitrosamine all überall“ in der Deutschen Apotheker Zeitung Nr. 39, 2019 kritisierten die Autoren, dass die in den Monographien beschriebenen Methoden zur Analytik von Verunreinigungen veraltet sind. Moderne instrumentelle Analysemethoden wie z. B. Massenspektrometrie-gekoppelte HPLC seien bisher kaum aufgeführt, aber nötig, um unerwartete Verunreinigungen in Arzneimitteln zu finden.

EDQM entwickelt pharmazeutische Dienstleistungen

Das Europäische Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln beschäftigt sich nicht nur mit den chemisch-technischen Aspekten von Wirkstoffen und Arzneimitteln, um das Europäische Arzneibuch zu aktualisieren. In einer Pressekonferenz am 26. November 2020 stellte der Europarat fest: Die Gesundheitssysteme begleiten die Arzneimittelanwendung in Europa ungenügend, sodass diese unkoordiniert abläuft. Diese Tatsache stellt ein Risiko für die Patientensicherheit dar und verursacht hohe Kosten. Zu diesem Anlass veröffentlichte der Europarat eine vom EDQM verfasste Resolution. In dieser strukturierten die Autoren eine Reihe von konkreten Dienstleistungen, die Apothekerinnen und Apotheker übernehmen können. „Es reicht nicht aus, in die Qualität und Kontrolle von Arzneimitteln zu investieren, wenn diese letztlich nicht korrekt verschrieben oder vom Patienten eingenommen werden“ sagt Ian Palombi, Pressesprecher des EDQM gegenüber der DAZ. Im Vergleich zum Arzneibuch sei die Resolution keineswegs gesetzlich bindend und lediglich als Ergänzung zur Pharmacopoea Europaea anzusehen. Das Direktorat arbeitet jedoch mit den Verantwortlichen der Gesundheitssysteme Europas zusammen, um Pharmazeutische Betreuung in gleichbleibender Qualität in die Praxis zu integrieren. Aktuell entwickelt das EDQM einen harmonisierten Leitfaden zur Medikationsanalyse, der in den verschiedenen Gesundheitssystemen anwendbar sein wird. |

Literatur

Bracher F, Heisig P, Langguth P, Mutschler E, Schirmeister T, Scriba G, Stahl-Biskup E. Arzneibuch-Kommentar, Wissenschaftliche Erläuterungen zum Europäischen Arzneibuch und zum Deutschen Arzneibuch. Fortsetzungswerk. Aktuelle Ausgabe, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart

Contents of the 10th Edition. Kommentar des Europäischen Direktorats für die Qualität von Arzneimitteln. www.edqm.eu/en/european-pharmacopoeia-ph-eur-10th-edition Europäisches Arzneibuch, 10. Ausgabe, Grundwerk 2020, Amtliche deutsche Ausgabe

Information on texts harmonised by the PDG. EDQM 2019, News vom 20. Dezember 2019, www.edqm.eu

Moll D. Neue Arzneibuch-Monographie – Nitrosamin-Kontrollen für alle Stoffe kommen ins Europäische Arzneibuch. DAZ.online, News vom 20. Januar 2020

On the implementation of pharmaceutical care for the benefit of patients and health. Resolution CM/Res(2020)3On, verabschiedet durch den Europarat am 11. März 2020

Rose O. Pro pharmazeutische Dienstleistungen – EDQM fordert Förderung apothekerlicher Kompetenzen. DAZ 2020, Nr. 50, S. 18

The EDQM’s response to nitrosamine contamination. www.edqm.euen/edqms-response-nitrosamine-contamination, zuletzt aktualisiert am 21. Januar 2021

Uhl D, Sucker K. Verunreinigtes Valsartan und die Rolle der Behörden – Europäische Zertifizierungsbehörde EDQM verteidigt Vorgehen. DAZ 2018, Nr. 34, S. 16

Autoren

Dr. Rainer Mohr studierte Pharmazie an der Universität Mainz. Von 1995 bis 2005 war er Mitglied der Deutschen Delegation der Europäischen Arzneibuch-Kommission in Straßburg und arbeitete im internationalen behördlichen Netzwerk „Arzneimittelfälschung“ der WHO. Seit Januar 2006 ist er als Redakteur und Lektor im Hauptstadtbüro der Verlagsgruppe Deutscher Apotheker Verlag tätig.

Marius Penzel studierte Pharmazie in Leipzig. Nach praktischen Erfahrungen in der Offizin und der Zentralapotheke der Oberschwabenklinik in Ravensburg begann er ein Volontariat bei der Deutschen Apotheker Zeitung.

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