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Pandemie Spezial

Keine frühlingshaften Aussichten

Pharmazie-Professor simuliert Pandemieverlauf und berät politische Entscheider

Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes, verfolgt nicht nur den aktuellen Verlauf der Corona-Pandemie, sondern kann ihn auf Grundlage mathematischer Modelle sogar vorhersagen. Mit seinem ­„COVID-Simulator“ ist er in seinem Bundesland bereits zu einem wichtigen Experten und Ansprechpartner für die Politik geworden (DAZ 2020, Nr. 47, S. 23). Wir haben uns im Rahmen eines Interviews mit Lehr über den weiteren Verlauf der Pandemie unterhalten – im Hinblick auf den bevorstehenden Frühling bzw. Sommer, das Bedrohungspotenzial durch Corona-Mutationen sowie den Beginn der Impfungen. eda

DAZ: Herr Prof. Lehr, aktuell wird wieder sehr intensiv darüber diskutiert, ob die aktuellen Lockdown-Maßnahmen verlängert werden müssen. Was meinen Sie dazu, auf Grundlage Ihrer Modelle?

Lehr: Durch den Lockdown entspannt sich die aktuelle Situation im bundesdeutschen Schnitt, muss aber weiterhin mit Vorsicht betrachtet werden. Das Absinken der Fallzahlen ist deutlich langsamer als im Frühjahr beim ersten Lockdown, und in einigen Bundesländern, wie z. B. dem Saarland oder in Bremen, stagnieren die Fallzahlen eher. Die Politik hat die Sieben-Tage-Inzidenzgrenze von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner als Maßzahl für Lockerungen ausgegeben. Nach unseren Berechnungen ist diese Inzidenz jedoch viel zu hoch gewählt, um Lockerungen in Erwägung zu ziehen. Unsere Analysen zeigen, dass die Pandemie in der zweiten Welle bei einem Inzidenzwert von ungefähr 20 aus der Kontrolle geraten ist. Wir sollten daher die Infektionszahlen deutlich unter eine Inzidenz von 20 bringen. Wichtig ist, dass tatsächlich alle Fälle vom Gesundheitsamt nachverfolgt werden können. Erst dann sollten stufenweise Lockerungen in Erwägung gezogen werden. Das deckt sich sehr mit der No-COVID-Strategie, deren Ansatz ich unter­stütze.

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Sieben-Tage-Inzidenzgrenze von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner „viel zu hoch gewählt“: Prof. Thorsten Lehr, Leiter der Klinischen Pharmazie der Universität des Saarlandes, unterstützt vielmehr den Ansatz der No-COVID-Strategie.

DAZ: Im vergangenen Jahr war es für die meisten Menschen möglich, sich im Sommer einige Monate vom Corona-Stress des Frühjahrs zu entspannen. Die Zahlen waren extrem niedrig. Wird uns die warme Jahreszeit nicht auch in diesem Jahr zugutekommen?

Lehr: Coronaviren zeigen eine Saisonalität, und auch für SARS-CoV-2 ist diese nachgewiesen. Wärmere Temperaturen und besseres Wetter sollten daher naturgemäß eine Entspannung mit sich bringen. Die erste Welle in Deutschland und auch Wellen in wärmeren Ländern zeigten jedoch, dass trotz erhöhter Temperaturen signifikante Übertragungen stattfanden. Wir sollten uns daher auf die frühlingshafte Aussicht nicht verlassen, vor allem vor dem Hintergrund neuer Mutanten. Beim Rückblick auf den letzten Sommer müssen wir uns auch schwere Versäumnisse vorwerfen, da wir die Pandemie nicht unter Kontrolle hatten. Die Inzidenzen sind seit Juli 2020 bis Mitte Dezember 2020 durch R(t)-Werte über 1 kontinuierlich angestiegen. Vor allem bei den niedrigen Inzidenzen hätten wir sofort und strikt durchgreifen müssen, um die Infektionslage wirklich zu kontrollieren. Das müssen wir zukünftig deutlich besser machen.

„Selbsttests werden nicht die ­Lösung der Pandemie darstellen.“

Prof. Thorsten Lehr

DAZ: Welche Rolle spielen die Corona-Mutanten in Ihren Modellierungen, und welche Rolle werden sie in der Pandemie spielen?

Lehr: Wir berücksichtigen die neuen Mutanten bereits in unseren Modellierungen. Allerdings gibt es noch viele unbekannte Faktoren, beispielsweise die Verbreitung der Mutanten in Deutschland und um wie viel die Infektiosität erhöht wird. Heute spielen die Mutanten im deutschen Infektionsgeschehen noch keine Rolle. Erschreckend sind allerdings Simulationen, welche die Auswirkung der Mutanten in den nächsten Wochen zeigen. Sollten die Maßnahmen gleich bleiben, dann wird exemplarisch die Mutante B1.1.7 ab April die Dominanz übernehmen, und selbst bei einer angenommenen Erhöhung der Infektiosität um 35%, was unter den diskutierten Werten von 50 bis 70% liegt, würden die Fallzahlen ab Mitte März nicht weiter abfallen, sondern wieder ansteigen (siehe Grafik). Wir müssen daher dringend die Infektionen weiter zurückdrängen, um die weitere Ausbreitung der Mutanten zu verhindern.

Bei einem Anteil der Corona-Mutationen von 10% würde eine Sieben-Tage-Inzidenz von 50 pro 100.000 Einwohner als Grenzwert nicht ausreichen, um die Pandemie einzudämmen (orange Kurve). Dies wäre nur möglich bei einem geringen Anteil oder unter Abwesenheit von Mutationen (blau / grün). Der R(t)-Wert ist auf 0,8 festgelegt.

DAZ: Was halten Sie davon, die Einschränkungen für geimpfte Menschen vorzeitig aufzuheben?

Lehr: Leider ist noch nicht genug über die Infektiosität von Geimpften bekannt. Eine vorläufige Studie des AstraZeneca-Impfstoffes legt zwar eine knapp 66%-ige Reduktion der Infektiosität nahe, es fehlen aber die Bestätigung dieser Information und weitere Studien, um dies endgültig einschätzen zu können. Sollte eine verbleibende Infektiosität von Geimpften vorherrschen, dann könnten diese durch asymptomatische Infektionen nicht geimpfte Personengruppen sehr stark infizieren und eine weitere Welle bei den nicht Geimpften auslösen. Solange nicht genug Impfstoff für die Bevölkerung zur Verfügung steht und auch noch nicht jeder ein Impfangebot erhalten hat, halte ich Sonderregeln für Geimpfte für nicht akzeptabel, und dies sollte auch danach mit dem Ethikrat abgestimmt werden.

DAZ: Welchen Einfluss wird Ihrer Meinung nach die Einführung von Selbsttests haben?

Lehr: Selbsttest in Form von Schnelltests sind aktuell viel diskutiert. Die Spezifität (= Richtig-Negativ-Rate) von Schnelltests liegt laut einer aktuellen Übersichtsarbeit bei über 98%, die Sensitivität zwischen 30 und 80%. Durch bedingte Wahrscheinlichkeit ergibt sich für die Praxis, dass, je niedriger die Prävalenz, desto unsicherer sind positive Testresultate, und je höher die Prävalenz, desto unsicherer sind negative Testresultate. Daher muss die Infektionslage bei der Beurteilung des Testergebnisses berücksichtigt werden und auch die richtige Anwendung, um die Getesteten nicht in eine falsche Sicherheit oder unnötige Aufregung zu versetzen. Weiterhin ist auch der Umgang mit positiven Testergebnissen offen, und es gibt viele weitere Baustellen. Selbsttests werden daher nicht die Lösung der Pandemie darstellen.

„Beim Rückblick auf den letzten Sommer müssen wir uns auch schwere Versäumnisse vorwerfen, da wir die Pandemie nicht unter Kontrolle hatten.“

Prof. Thorsten Lehr

DAZ: Kommen wir abschließend zu einem etwas positiveren Ausblick: Bundeskanzlerin Merkel hat in der vergangenen Woche noch einmal bekräftigt, allen Bürgerinnen und Bürgern bis zum Herbst ein Impfangebot machen zu können. Wie viele Menschen müssen Ihrer Meinung nach geimpft werden, damit sich diese Pandemie totläuft?

Lehr: Das hängt von einigen Grundvoraussetzungen ab: Wie hoch ist die aktuelle Inzidenz, wie hoch ist der R(t)-Wert der dominierenden Virusvariante, wie ist die Wirksamkeit der Impfung bei der dominierenden Variante, und wie hoch ist die Infektiosität der geimpften Personen bei Ansteckung? In einem idealen Szenario zeigen unsere Simulationen bereits ein Absinken der Inzidenz bei 20%. Für eine vollständige Herdenimmunität müssten allerdings mindestens 65 bis 70% der Bevölkerung einen vollständigen Impfschutz aufweisen.

 

DAZ: In Ihren Berechnungen haben Sie vor allem Deutschland im Fokus. Ist die Pandemie nicht eine europäische oder sogar globale Angelegenheit, gerade dann, wenn Menschen nach allmählichen Lockerungen wieder immer mehr in Kontakt miteinander treten?

Lehr: Natürlich ist die Pandemie kein lokales Geschehen, das auf Deutschland begrenzt ist. Letzten Sommer war gut sichtbar, welche Rolle Reiserückkehrer gespielt haben. Daher gilt bei Rückkehrern aus Risikogebieten auch weiter, Vorsicht walten zu lassen, selbst wenn in Deutschland niedrige Fallzahlen herrschen. Wir müssen auch daran interessiert sein, weltweit die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen, um die Entstehung weiterer Mutanten einzudämmen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.

 

DAZ: Herr Prof. Lehr, vielen Dank für das Gespräch. |
 

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