Stereochemie

Zu schön um wahr zu sein

Eine Randnotiz

Dr. Armin Edalat, DAZ-Chefredakteur

Die Stereochemie gehört zu den Fächern in der Pharmazie, bei denen sich wahrscheinlich nicht wenige Studierende zunächst fragen, welche Praxisrelevanz die Inhalte haben. Das ist bekanntlich ein immer wieder kritisiertes Problem des Studiengangs in Deutschland: Wichtige naturwissenschaftliche Grundlagen werden zu Anfang zwar akribisch vermittelt, doch es mangelt an einer Perspektive auf die pharmakologischen und klinischen Zusammenhänge, die dann erst viel später thematisiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass mit einer neuen Approbationsordnung und einem reformierten Studiengang diese Querverweise noch deutlicher werden. Wenn bereits im Grundstudium von den zukünftigen Pharmazeuten erkannt wird, warum welches Wissen für die Pharmakotherapie und die Patientenversorgung notwendig ist, dann wirkt sich das nicht nur motivierend aus – man wird sogar damit rechnen dürfen, dass Apo­thekerinnen und Apotheker in Deutschland noch besser und fundierter ausgebildet werden.

Zurück zur Stereochemie: Bemerkenswert ist, dass es um diese Disziplin in den letzten 30 Jahren gewisse Hypes und auch Skandale gab. So träumten die pharmazeutischen und medizinischen Chemiker in den 1990er-Jahren davon, jegliche Racemate auf dem Markt durch Enantiomeren-reine Arzneistoffe ersetzen zu können, wie unser Autor Prof. Gerd Bendas in seinem Beitrag auf S. 40 beschreibt. Man erhoffte sich dadurch eine stärkere Target­selektivität und -bindung, die nachfolgend zu Wirksamkeitsverbesserung, vermindertem Interaktions­potenzial sowie stabilerer Pharmakokinetik führen sollten. Aus heutiger Sicht war das durchaus eine sehr rationale und folgerichtige Erwartung, doch der Glaube und der Drang nach wissenschaftlichem sowie unternehmerischem Erfolg waren in jenen Jahren offenbar so stark, dass es auf diesem Forschungsgebiet zu einem der bekanntesten Betrugsfälle in der deutschen Hochschullandschaft kam. Der Bonner Chemie-Doktorand Guido Zadel behauptete 1994, er könne gezielt mithilfe starker Magnetfelder das Mengenverhältnis zwischen links- und rechtsdrehenden Verbindungen eines Racemats beeinflussen. Zadel und sein Doktorvater Prof. Eberhard Breitmaier wurden für ihre Arbeiten international gefeiert. Vor allem die pharmazeutische Industrie versprach sich von der „Zadel-Methode“ eine effizientere Produktion und größere Profite. Manche sahen den jungen Wissenschaftler schon auf einer Stufe mit Wilhelm Röntgen stehen und munkelten, die Arbeiten seien nobelpreisverdächtig.

Doch die Welle des (vermeintlichen) Erfolgs fand ein jähes Ende: Forschergruppen aus aller Welt gelang es nämlich nicht, die Ergebnisse des Doktoranden zu reproduzieren. Ein Zeuge soll sogar beobachtet haben, wie Zadel seine eigenen Experimente manipulierte und das erwünschte (Enantiomeren-reine) Endprodukt schon vor der magne­tischen Bestrahlung in die Reak­tionsflüssigkeit mischte. Ein jahrelanger Rechtsstreit entbrannte, an dessen Ende Guido Zadel seinen Doktortitel verlor und die Hochschulforschung in Deutschland ­öffentlich einen gehörigen Imageschaden erleiden musste. Der damalige Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät und Professor für Pharmazeutische Biologie, Karl-Werner Glombitza, begrüßte das Gerichtsurteil: Fälle wie diese würden dem Ansehen der Wissenschaft schaden und müssten entsprechend geahndet werden.

Abgesehen von den Schattenseiten macht uns die Stereochemie deutlich, mit welchem Sinn für Ästhetik die Natur einzelne Moleküle und komplexe Strukturen hervorbringt. Chemische Reaktionen erfolgen eben nicht nur nach den Gesetzen von Wechselwirkungen und Anziehungskräften, die sich planar auf Papier nachvollziehen lassen. Um die Interaktion zwischen Wirkstoffen und ihren Targets vollständig verstehen zu können, benötigt man zumindest ein räumliches Vorstellungsvermögen und am besten ein Hochleistungsrechenzentrum.

Das bekannteste Beispiel für die Bedeutung der Stereochemie und ihrer Enantiomere ist ausgerechnet der Contergan-Wirkstoff Thalidomid. Dieser soll lediglich in seiner S-Form teratogen wirken und als reines R-Thalidomid – wie erwünscht – den Schlaf fördern. Dieses hoffnungsvolle Beispiel schaffte es über viele Jahrzehnte fast unkommentiert in die Lehrbücher und Vor­lesungen, und glich am Ende dann doch nur dem Wunschdenken von Theoretikern. Denn durch In-vivo-Racemisierung, die im Fall von Thalidomid schneller verläuft als die Elimination, entstünde auch bei Gabe der reinen R-Form das unerwünschte S-Enantiomer (S. 48).

Nicht jedes Problem konnte und kann die Stereochemie also lösen. Am Ende galten so manche Visionen auch als zu schön, um wahr zu sein.

 

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