Foto: Feydzhet Shabanov – stock.adobe.com

Pandemie Spezial

Der „Teil-Lockdown“ und seine möglichen Szenarien

Pharmazeuten aus Saarbrücken entwickeln Simulator zur Pandemievorhersage

Seit Anfang November befindet sich Deutschland wieder im Lockdown – eher in einem „Teil-Lockdown“. Nun mussten Kinos, Theater und Fitnessstudios schließen, Restaurants und Bars dürfen nur noch Essen zur Mitnahme anbieten, Hotels keine Touristen mehr beherbergen und der Amateursport pausiert – bei weiterhin geöffneten Schulen, Kindergärten und Einzelhandelsgeschäften. Auslöser für diese drastischen Maßnahmen ist das deutlich veränderte Infektionsgeschehen der vergangenen Wochen.

Der Arbeitskreis der Klinischen Pharmazie aus Saarbrücken um Prof. Dr. Thorsten Lehr beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Entwicklung von computerbasierten Modellen, die beispielsweise die Wirkstoffkonzentrationsverläufe (Pharmakokinetik) im Menschen oder Effekt-Zeit-Profile (Pharmakodynamik) beschreiben und vorhersagen können. In den vergangenen acht Monaten hat das Forschungsteam nun ein mechanistisches Modell zur Beschreibung der Covid-19-Infektionsdynamik in Deutschland entwickelt. Während sich in Deutschland seit Beginn der Pandemie mehr als 750.000 Menschen nachweislich mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 infizierten und über 12.000 Patienten verstarben, entfallen davon ­alleine ca. 230.000 Infektionen und 1500 Todesfälle auf die letzten zwei Wochen [1]. Folglich wird die Sorge um einen medizinischen Versorgungsengpass in den kommenden Wochen und Monaten größer und auch der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) Prof. Dr. Lothar Wieler befürchtet, dass Kliniken bald an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen könnten [2].

Ziel des beschlossenen Teil-Lockdowns ist die Kontaktreduzierung innerhalb der Bevölkerung, die sich durch eine Senkung der effektiven Reproduktionszahl R(t) über die Zeit ausdrücken sollte. Die effektive Reproduktionszahl gibt an, wie viele gesunde Menschen durchschnittlich von einer einzigen nachweislich infizierten Person angesteckt werden, wenn ein Teil der Bevölkerung immun ist oder bestimmte Maßnahmen zur Eindämmung aktiv sind. Als Faustregel gilt: Liegt diese Reproduktionszahl über 1, breitet sich die Infektion weiter aus, liegt sie unter 1, geht die Ausbreitung zurück. Jedoch stößt diese Faustregel schnell an ihre Grenzen, wenn es um die Beantwortung spezifischer Fragen geht: Wie würde sich die Zahl der Neuinfektionen ohne eine Absenkung der Reproduktionszahl in den kommenden vier Wochen entwickeln? Wie entwickeln sich die aktuellen Bettenbelegungen auf den Intensivtherapiestationen (ITS) in den Krankenhäusern? Welche Szenarien sind denkbar, je nachdem wie stark sich R(t) durch den Teil-Lockdown reduzieren lässt? Mithilfe von mathematischen Vorhersagemodellen kann man diesen Fragen genauer auf die Spur kommen.

Foto: sdecoret – stock.adobe.com

Simulator prognostiziert Krankenhausauslastung

Die Besonderheit des COVID-19-Simulatiors der Pharmazeuten aus Saarbrücken liegt unter anderem darin, dass neben den Fallzahlen und Todesfällen auch Krankenhausauslastung sowie intensivmedizinische Behandlung und Beatmung auf Intensivstationen in den einzelnen Bundesländern beschrieben und prognostiziert werden können. Als Grundlage wurde hierfür ein Infektionsmodell aus der mathematischen Epidemiologie verwendet, dieses modifiziert und auf die Situation in Deutschland und den einzelnen Bundesländern angepasst.

Eine weitere Besonderheit des Modells liegt in der breiten Datenbasis, die den Berechnungen und Anpassungen zugrunde liegt. Diese entstammt zum ­einen aus den Fallzahlberichten des RKI, zum anderen aus dem Intensiv­register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sowie aus Daten von über 10.000 deutschen COVID-19-­Patienten, welche anonymisiert aus Krankenhausinformationssystemen verschiedener Kliniken extrahiert wurden.

Weitere Untersuchungen des Forschungsteams beschäftigen sich mit der Frage, wie sich nicht pharmazeutische Interventionen auf das Infektionsgeschehen auswirken. Diese Erkenntnisse verbessern kontinuierlich das zugrunde liegende Simulationsmodell und können für Prognosen verwendet werden. Neben der Modellierung auf Basis der Daten aus Deutschland und den einzelnen Bundesländern wurde das Modell mittlerweile auch auf Land- und Stadtkreisebene angewandt. Somit kann auch die Entwicklung der Infektions- und Krankheitsdynamik für jeden einzelnen der 412 Landkreise und kreisfreien Städte analysiert werden.

Modell bewährte sich bereits im Frühjahr

Das Modell, welches bereits während der ersten Welle entwickelt wurde, konnte schon im Frühjahr die Anzahl der Neuinfektionen, Genesenen, Krankenhausbetten- und Intensivbettenbelegungen sowie COVID-19-Todesfälle sehr gut beschreiben. Mit zunehmender Datenmenge wurde das Modell stetig weiterentwickelt und zeigt auch in der jetzigen zweiten Welle eine zuverlässige Performance (Auszug in Abb. 1 für Gesamtinfektionen und Genesene sowie Intensivbettenbelegungen und beatmungspflichtige Patienten in Deutschland). Jede Woche werden das Modell und die Vorhersagen an die aktuellen Entwicklungen angepasst und auf der Website www.covid-simulator.com der Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern zur Verfügung gestellt. Neben dem wöchentlich erscheinenden Bericht über den aktuellen Stand des Pandemiegeschehens mit ausgewählten Simulationsszenarien, ist das entwickelte Modell für Interessierte auch als Online-Simulator (CoSim) über die Website frei zugänglich. Mithilfe des Simulators können so zusätzliche Szenarien durchgespielt werden, wie sich beispielsweise Fallzahlen und Bettenbelegungen auf ITS entwickeln, wenn sich die effektive Reproduktionszahl ändern würde. Die Simulationen können hierbei sowohl für Deutschland als auch für einzelne Bundesländer sowie Landkreise und kreisfreie Städte durchgeführt werden.

Quelle: Covid-Simulator

Abb. 1 - Modellbeschreibung: Die als Punkte dargestellten Daten (gemeldete Zahlen) werden durch das Modell (Linien) beschrieben, sowohl für kumulative Fallzahlen der Infizierten und Genesenen (links), als auch für die aktuelle Anzahl an Intensiv- und beatmungspflichtigen Patienten. Grafiken entnommen aus dem CoSim Online-Simulator (www.covid-simulator.com).

Wie äußern sich Veränderungen von R(t)?

Welche Szenarien durch verschieden starke Veränderungen der R(t) für die kommenden Wochen denkbar sind, können Modellsimulationen zeigen (Abb. 2 und 3).

Quelle: Covid-Simulator

Abb. 2: Prognose der Inzidenzen pro Landkreis/kreisfreie Stadt bei R(t) von 0,6 und 0,8. Durchführung der Simulation: 10. November 2020. Im Falle eines R(t) von 0,6 ab dem 11. November 2020 lägen fast alle Regionen in Deutschland bis Mitte Dezember wieder unter 35 Neuinfektionen/100.000 Einwohner und Woche. Bei einer R(t)-Reduktion auf 0,8 wäre dieser Grenzwert Mitte Dezember erst in ca. 30% aller Landkreise/kreisfreien Städte unterschritten.

Quelle: Covid-Simulator

Abb. 3: Prognose zu täglichen Neuinfektionen und aktuellen ITS-Belegungen: So könnten sich die Fallzahlen der täglichen Neuinfektionen und der ITS-Belegungen je nach erreichtem R(t) entwickeln. Durchführung der Simulation: 10. November 2020. Bei einer R(t)-Senkung unter 1, würden die täglichen Neuinfektionen zum Jahresende deutlich sinken. Hingegen wird es auch bei R(t)-Werten kleiner 1 bis Ende November zu einem Anstieg der aktuellen Belegungen der ITS kommen, welche sich bis zum Jahresende je nach erreichtem R(t) schneller oder langsamer wieder absenken. Die farbigen Bänder geben das 68%-Konfidenzintervall bei Variation des ­letzten abgeschätzten R(t) an.

Die Infektionslage hat sich durch die Einführung des „Lockdown Light“ schon etwas beruhigt. Der aktuelle R(t)-Wert ist von 1,5 auf 1,1 in Deutschland abgesunken. Hätten die beschlossenen Maßnahmen keinen weiteren Effekt und R(t) bliebe bundesweit konstant auf einem Niveau von 1,1, würden sich bis Mitte Dezember etwa 800.000 Menschen neu in­fizieren. Dieses Szenario hätte auch eine weiter steigende Inzidenz auf Bundesebene zur Folge und es gäbe Ende Dezember kaum noch Regionen mit unter 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche.

Sinkt R(t) hingegen unter 1, würden auch die Inzidenzen sinken. Würde der Teil-Lockdown R(t) auf einen Wert von 0,8 absenken, würden sich bis Mitte Dezember ca. 400.000 Menschen neu infizieren. Im Schnitt läge die Inzidenz dann bei 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche. Zudem lägen 30% der Landkreise wieder unterhalb der anvisierten Grenze von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche.

Könnte der Teil-Lockdown R(t) bundesweit auf ein Niveau von 0,6 verringern, was in etwa dem Niveau des ersten Lockdowns entspricht und eher unwahrscheinlich ist für den zweiten Lockdown, würden sich bis Mitte Dezember ca. 300.000 Menschen neu infizieren. Eine überwiegende Mehrheit der Landkreise wiese dann zudem wieder eine Inzidenz kleiner 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner und Woche auf. Egal wie sich der Lockdown weiter auswirkt, eine Lockerung nach einem Monat Lockdown ist unrealistisch. Ein Durchhalten bis Weihnachten wird wahrscheinlich nötig sein, um das Infektionsgeschehen ausreichend einzudämmen. Allerdings dürfte nach erneuten Lockerungen mit einem Wiederanstieg der Fallzahlen zu rechnen sein, weshalb Konzepte zur Phase nach dem Lockdown geschaffen werden müssen.

Intensivstationen werden sich weiter füllen

Während eine Änderung des R(t) eine unmittelbare Auswirkung auf die Neuinfektionen hat, wirkt sich die Änderung erst zeitlich verzögert auf die ITS-Belegungen aus (Abb. 3). Auch bei einer erfolgreichen Verringerung von R(t) auf Werte kleiner 1 würden die ITS-Bettenbelegungen im November zunächst noch weiter ansteigen.

Bei einer R(t)-Reduktion auf 0,8 ab dem 11. November 2020 wäre erst in der letzten Novemberwoche mit einer maximalen ITS-Belastung zu rechnen, die bis Ende des Jahres dann wieder um ca. ein Drittel absänke. Bei einer stärkeren R(t)-Reduktion auf 0,6 käme es bereits in der dritten Novemberwoche zur maximalen ITS-Belastung und die Belegung sänke bis Ende des Jahres wieder um ca. die Hälfte ab.

Durch die vereinfachte Illustration der Modellergebnisse sollen die Zusammenhänge zwischen der Änderung der Reproduktionszahl, der daraus folgende Effekt auf die Infektionsdynamik sowie der Einfluss auf Krankenhaus- und Intensivstations­belegungen aufgezeigt und damit das Bewusstsein der Bevölkerung geschärft werden. Zentral für die Winterprognose bleibt die Wirkung der Kontaktrestriktionen und damit die Senkung der Reproduktionszahl. Die Zahlen aus dem Frühjahr zeigen, dass mit Restriktions­maßnahmen eine Reduktion der Reproduktionszahl bewirkt werden kann, jedoch wird ein vierwöchiger Teil-Lockdown nicht ausreichend sein, da das Infektions­geschehen schon stark an Fahrt aufgenommen hat. Belegzahlen von Krankenhausbetten und Intensivstationen werden aller Voraussicht nach auch im November noch ansteigen. Sollte die Reproduktionszahl in den nächsten Wochen konstant unter 1 bleiben, zeigt sich aber ab Dezember auch wieder eine Entspannung in den Krankenhäusern und in einem Großteil der Landkreise. Im CoSim Online-Simulator können diese Zusammenhänge leicht verdeutlicht und Szenarien mit frei wählbaren R(t) und Zeiträumen simuliert werden. |

Lukas Kovar, Katharina Och, Quirin Werthner, Prof. Dr. Thorsten Lehr, 
Klinische Pharmazie, Universität des Saarlandes, Campus C2 2,
66123 Saarbrücken

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.