Pandemie Spezial

„Blackbox“ Immunabwehr

Noch lange auffällige Laborwerte bei mildem COVID-19-Verlauf bereiten Sorge

hb | Die scheinbar unberechenbare Reaktion des Immunsystems gehört zu den tückischsten Komplikationen einer Infektion mit SARS-CoV-2. Die Gemengelage ist unübersichtlich. Wissenschaftler von der Universitätsmedizin in Halle haben mit einer umfassenden immunologischen Analyse versucht, etwas Licht in die „Blackbox“ der Immunabwehr gegen das neuartige Coronavirus zu bringen. Ihre Daten geben grundlegende Einblicke in die adaptive Immunität gegenüber SARS-CoV-2.

Einige Infizierte erleben eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus sozusagen gar nicht, während andere in eine lebensbedrohliche Lage schlittern. Nach bisherigen Erfahrungen liegt das nicht nur am Virus selbst, sondern auch daran, wie der Körper versucht, es abzuschmettern. In frühen Krankheitsstadien kommt es auf eine funktionierende adaptive Immunreaktion an, in fortgeschrittenen Stadien darauf, diese im Zaum zu halten. Derzeit gibt es nur unvollständige Kenntnisse über die Art der durch SARS-CoV-2 induzierten T- und B-Zell-Immunantworten und die Faktoren (s. Abb.), die die Reaktionen und ihre Dauer regulieren.

Diese Lücke wollte ein Wissenschaftlerteam aus Halle an der Saale mit einer umfassenden immunologischen Analyse versuchen zu schließen. Die Forscher stellten zwei Kohorten zusammen, eine mit hospitalisierten Patienten und aktivem, schwerem COVID-19-Verlauf und eine mit leichterer oder mittelschwerer Ausprägung, die sich ohne medizinische Behandlung davon erholt hatte. Ihnen allen wurden Blutproben entnommen. Als Vergleichsgruppe diente eine alters­angepasste Kohorte, die negativ auf COVID-19-Antikörper getestet wurde. Die Ergebnisse hat die Gruppe im Fach­magazin „Immunity“ publiziert.

Abb.: Vereinfachte Darstellung einer SARS-CoV-2-Infektion: SARS-CoV-2 infiziert Zellen, die den Oberflächenrezeptor ACE2 exprimieren. Der Körper erkennt die Infektion und schüttet proinflammatorische Zytokine und Chemokine aus, welche Zellen des Immunsystems an den Ort der Infektion locken. Bei einer gestörten Immunantwort können sich eine systemische Entzündung und der gefürchtete Zytokinsturm entwickeln, bei adäquater immunologischer Reaktion werden infizierte Zellen rasch eliminiert, bevor sich das Virus ausbreitet [adaptiert nach Abbildungen der Atriva Therapeutics GmbH und Nature Reviews Immunology].

Wie die Immunabwehr auf SARS-CoV-2 reagiert

Die Forscher konnten zeigen, dass fast alle Personen mit COVID-19 oder einer durchgemachten Infektion IgA- und IgG-Antikörper gegen SARS-CoV-2 entwickelten. Patienten mit einer aktiven Erkrankung zeigten im Allgemeinen höhere Maximalwerte, mit einem relativen IgG von 6,3 gegenüber 2,1 (gemessen mit semiquantitativem ELISA) in einer Zeitspanne von 30 bis 45 Tagen nach den ersten Symptomen. Viele Patienten mit aktivem und meist schwerem COVID-19-Verlauf wiesen eine Leukozytose auf, einige davon mit Granulozytose und ausgeprägter T-Zell-Lymphopenie, während die B-Lymphozytenzahl bei der Mehrheit der Patienten normal oder sogar erhöht war. Das Verhältnis der CD4+/CD8+-T-Zellen wurde in Richtung CD4+-T-Zellen verschoben, und bei einigen Patienten waren die regulatorischen T-Zellen vermehrt. Darüber hinaus bestätigt die Studie bereits veröffentlichte Daten zur Dysregulation von Zytokinen wie IL-6, IL-8, IL-10, IP-10, TNF-α, sCD25 (IL-2Ra) und IFN-γ.

Risiko für Folgeerkrankungen trotz mildem Verlauf

Als „erstaunlich“ heben die Autoren hervor, dass viele junge Patienten mit milden Verläufen und schneller Erholung auch noch Wochen nach der Ausheilung auffällige Laborwerte zeigten. „Neben überschießenden regenerierenden Immunzellen finden sich pathologische Muster kardiovaskulärer Risikofaktoren und in Interferonen, die in der viralen Abwehr eine Rolle spielen, aber auch mit der Proliferation von Bindegewebsfasern und Vernarbung in bestimmten Geweben wie der Lunge einhergehen können“, berichtet Mascha Binder, Professorin für Onkologie und Hämatologie sowie Direktorin der Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin IV der Universitätsmedizin Halle. Es ist nicht auszuschließen, dass dadurch das Risiko für Folgeerkrankungen erhöht wird. Langzeitbeobachtungsstudien sollen diese Frage klären.

Offene Datenbank

Für den wichtigsten Teil ihrer Studie halten die Forscher die Untersuchung von über 14 Millionen TCR(T-Zell-­Rezeptor)- und BCR(B-Zell-Rezeptor)-Sequenzen von COVID-19-Patienten und insbesondere deren Clusterbildung, weil daraus COVID-19-relevante TCR- oder BCR-Signaturen abgeleitet werden können. Das COVID-19 BCR- und TCR-Sequenz-Repository soll auch für andere Forscher zur Verfügung gestellt und kontinuierlich mit neuen Sequenzdaten gespeist werden. Die Daten können zum Beispiel für diagnostische Anwendungen genutzt werden, aber auch zur Entwicklung einer passiven Immuntherapie mit neutralisierenden Antikörpern. Zum Zeitpunkt der Publikation enthielt die Datenbank mehr als 6,2 Millionen BCR- und über 8,3 Millionen TCR-Sequenzen von 37 Patienten zu 69 Zeitpunkten. |

Literatur

Schultheiß C et al.: Next Generation Sequencing of T and B cell receptor repertoires from COVID-19 patients showed signatures associated with severity of disease. Immunity 2020, doi.org/10.1016/j.immuni.2020.06.024

Fuhrmann C Publikation in „Immunity“: Unterschiede der Immunreaktion gegen SARS-CoV-2 bei milder und schwerer COVID-19-Krankheit, Pressemitteilung der Martin-Luther-Universität Halle vom 3. Juli 2020.

 

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