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Pandemie Spezial
Eine Spurensuche
Molekulare Epidemiologie hilft, die verschlungenen Wege von SARS-CoV-2 zu entschlüsseln
Kurz vor Weihnachten fühlte sich Amirouche Hammar unwohl. Der 53-jährige Franzose hatte Gliederschmerzen und leicht erhöhte Temperatur. Zu Weihnachten bekam er hohes Fieber, begleitet von Kopfschmerzen und Husten. Der Hustenreiz war so stark, dass sich das Taschentuch beim Husten blutig färbte. Am 27. Dezember 2019 suchte der Vater von vier Kindern die Notaufnahme des Universitätskrankenhauses Paris Saint-Denis auf. Anhand einer Computertomografie wurde die Diagnose Lungenentzündung gestellt. Amirouche kam auf die Intensivstation, wurde mit Antibiotika behandelt und am 29. Dezember 2019 entlassen – zwei Tage bevor die chinesische Regierung erstmalig von einer neuen Art von Lungenentzündung in der Stadt Wuhan berichtete.
Der französische Patient Null
Ende Januar 2020 – die COVID-19-Pandemie war noch weitgehend auf Asien begrenzt – erinnerten sich die Ärzte des Spitals an Hammar und andere Patienten mit ähnlichen Krankheitszeichen. Sie untersuchten in Tiefkühlschränken archivierte Proben von 58 Patienten, die zwischen dem 2. Dezember 2019 und dem 16. Januar 2020 stationär behandelt worden waren, auf SARS-CoV-2. Bei Patient Hammar wurden sie fündig. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass das neuartige Coronavirus bereits Ende Dezember 2019 in Paris zirkuliert haben musste. Damit wurde Hammar zum französischen Patienten Null, und das zu einem Zeitpunkt, als der Erreger offiziell noch nicht bekannt war [1].
Hammar war zuletzt im Sommer 2019 in seiner algerischen Heimat gewesen und hatte bis zu seiner Erkrankung Paris nicht verlassen. Er muss sich also in der Hauptstadt angesteckt haben. Da damals Wuhan mit sechs Direktflügen pro Woche mit Paris verbunden war, liegt die Vermutung nahe, dass ein Reisender aus China das Virus unerkannt eingeschleppt und entweder direkt – oder indirekt über eine Infektionskette – an Patient Null übertragen hatte.
Die deutsche Patientin Null
Zwischen dem 23. Januar 2020 und dem 14. Februar 2020 erkrankten in der kleinen Stadt Stockdorf 16 Personen an COVID-19, darunter ein zwei Jahre altes Kind. Eine Person verstarb. Alle waren Mitarbeiter der Firma W., eines Autozulieferers, der auch in China fertigt. Als Patientin Null – in der Fachterminologie als Indexfall bezeichnet – wurde eine chinesische Mitarbeiterin identifiziert, die sich vier Tage in der Firmenzentrale aufgehalten hatte.
Um die Infektionskette exakt nachzuvollziehen, kombinierte eine Gruppe von Infektionsmedizinern und Virologen Methoden der klassischen und der molekularen Epidemiologie. In einem ersten Schritt befragte ein Team aus einem Arzt und einem Epidemiologen jeden Betroffenen akribisch zu seinen Aktivitäten in den vorangegangenen 14 Tagen. Damit auch nicht das kleinste Detail übersehen wurde, wurden die strukturierten Interviews nach einigen Tagen wiederholt. Dabei stellte sich heraus, dass die Infektionskette durch eine einstündige Besprechung in einem Tagungsraum in Gang gesetzt wurde [2].
Parallel dazu wurde von den von den Patienten isolierten Viren das gesamte Genom sequenziert, das heißt, die RNA vom ersten bis zum letzten Basenpaar entschlüsselt. So konnte die Infektionskaskade minutiös nachverfolgt werden: Die 16 Personen infizierten sich in vier zeitlich exakt definierten Stufen, bevor der Ausbruch durch Quarantäne unter Kontrolle gebracht werden konnte. Bei einigen Erkrankten hat ein einziger Kontakt ausgereicht, damit das Virus von einer infizierten auf eine nichtinfizierte Person gelangte. Der zwölfte Patient in der Infektionskette wurde in Spanien als COVID-19-Fall erkannt, der 13. Patient in China. Dass die beiden während des Fluges keine anderen Reisenden ansteckten, war ein glücklicher Zufall.
Aufschlussreicher Blick auf die molekulare Uhr
Zwischen Stufe 1 und Stufe 2 der Infektionskaskade sowie zwischen der dritten und vierten Übertragungsrunde war das Virus mutiert. In der RNA hatte sich ein Basenpaar gegen ein anderes ausgetauscht. Sind die Zeiträume zwischen der Entstehung von Punktmutationen genau bekannt, lässt sich eine molekulare Uhr ermitteln. Mit dieser lässt sich zurückrechnen, wann ein bestimmter Virustyp in der Vergangenheit entstanden ist.
Die Studie zeigt ebenfalls, wie aufwendig es ist, mithilfe der klassischen Epidemiologie Infektionsketten bis zum Patienten Null zurückzuverfolgen, ohne zwischendurch die „Spur“ zu verlieren [2]. Praktisch muss diese Aufgabe bei jedem neuen Fall durch das zuständige Gesundheitsamt durchgeführt werden.
Eine Gruppe um den Aids-Immunologen Francisco Díez-Fuertes vom nationalen Gesundheitsinstitut in Madrid hat die Methodik der molekularen Epidemiologie eingesetzt, um die räumliche Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der Frühphase des Ausbruchs in Spanien zu untersuchen [3]. Mithilfe eines komplexen statistischen Verfahrens erstellten die Wissenschaftler einen chronologisch geordneten Verwandtschaftsbaum der sequenzierten Virusgenome. Demnach wurde das neuartige Coronavirus zwischen dem 14. und dem 18. Februar 2020 mehrfach nach Spanien eingeschleppt. Gleichwohl entstanden nur zwei Infektionscluster, von denen aus sich der Erreger zuerst innerhalb Spaniens und dann innerhalb weniger Tage in sechs andere Länder ausbreitete.
Das erste von einem spanischen COVID-19-Patienten isolierte Virus hatte eine enge genetische Verwandtschaft mit einem Virus, das am ersten Februar in Shanghai isoliert worden war. Denkbar ist also, dass das neuartige Coronavirus von einem Reisenden mit einem Direktflug aus Shanghai nach Madrid eingeschleppt wurde.
Molekulare Detektivarbeit
Die verschlungenen Wege von SARS-CoV-2 zu Beginn der Pandemie lassen sich mithilfe der molekularen Detektivmethoden gut nachvollziehen: Ende Februar hatte ein Mexikaner Urlaub in Italien gemacht und erkrankte am 28. Februar 2020 nach seiner Rückkehr nach Mexiko. Über den Verwandtschaftsbaum lässt sich nachverfolgen, dass der italienische Virusstrang letztendlich von dem Ausbruch in Stockdorf stammte. Die chinesische Mitarbeiterin aus Shanghai, die den Ausbruch in Stockdorf verursacht hatte, hatte sich wiederum über ihre Eltern aus Wuhan angesteckt, die für einige Tage nach Shanghai zu Besuch gekommen waren [4].
Auch auf lokaler Ebene kann virologische Detektivarbeit dabei helfen, verschachtelte Infektionsnetze aufzudröseln, wie Oliver Keppler vom Max-von-Pettenkofer-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München beobachtet hat. Der Virologe hat Proben von Krankenhausmitarbeitern auf SARS-CoV-2 untersucht, um Übertragungsketten innerhalb der stationären Versorgung von COVID-19-Patienten aufzudecken. „Alles deutet darauf hin, dass sich Krankenhausmitarbeiter zuerst im privaten Umfeld infiziert und sich danach eher untereinander als an COVID-19-Patienten in der Klinik angesteckt haben“, so Keppler in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Die Daten sind noch nicht publiziert.
Über die Sequenzierung von Virustypgenomen wäre es auch möglich, im Nachhinein herauszufinden, über welchen Weg SARS-CoV-2 in eine Pflegeeinrichtung gelangt ist: Zirkulierte der Erreger zuerst zwischen nicht adäquat mit Schutzkleidung ausgestattetem Pflegepersonal und sprang erst dann auf in der Einrichtung lebende Personen über? Oder kam der Erreger beispielsweise über Küchenpersonal in die Einrichtung, breitete sich dann bei den Bewohnern der Einrichtung aus und gelangte über Körperpflegemaßnahmen auf das Pflegepersonal? Fragen, die erhebliche arbeitsrechtliche und forensische Konsequenzen haben können, wie eine aktuelle Debatte in Spanien zeigt. Dort hat der spanische Patientenschutzverband die Staatsanwaltschaft aufgefordert, die Ursachen der extrem hohen Todesfallrate in Altersheimen und Pflegeeinrichtungen zu ermitteln.
Aufschlussreiches Abwasser
Französische Wissenschaftler haben molekulare Methoden eingesetzt, um die Dynamik der Epidemie in Paris nachzuvollziehen [5]. Sie entnahmen zweimal pro Woche in fünf verschiedenen Kläranlagen im Großraum Paris Proben. Bereits mehrere Tage bevor es in der Stadt zu den ersten Todesfällen kam, entdeckten sie im Abwasser erhöhte Mengen an SARS-CoV-2-RNA. „Die Konzentration von SARS-CoV-2 ging der Kurve der klinischen Fälle stets um einige Tage voraus“, sagt der Mikrobiologe Laurent Moulin, der die Untersuchung leitete. Genauso wichtig ist die Beobachtung, dass mit Beginn des Lockdowns die Virenlast im Abwasser deutlich zurückging.
Auf kleinräumlicher Ebene bietet sich der Nachweis von Virus-RNA in Abwasser an, wenn sogenannte Superspreading-Ereignisse vermutet werden, bei denen sich zahlreiche Menschen gleichzeitig infizierten, wie die Zuckerfest-Feiern mehrerer arabischer Großfamilien zu Ende des Ramadans in Göttingen. Die Familien lebten in einem großen Gebäudekomplex am Rande der Innenstadt mit mehr als 400 Wohneinheiten. Hätte man nach Identifizierung des Indexfalles das Abwasser des Gebäudekomplexes im 24-Stunden-Rhythmus beprobt und die Viruskonzentration pro Liter Abwasser bestimmt, wäre die Dynamik des Ausbruchs schneller erkannt worden, und Gegenmaßnahmen hätten zielgerichteter durchgeführt werden können.
Und der Archetyp?
Lässt sich mithilfe molekularer Detektivarbeit auch der örtliche und zeitliche Ausgangspunkt des neuartigen Coronavirus identifizieren? Ja, sagt eine deutsch-britische Forschergruppe unter der Leitung von Peter Forster aus dem Institut für forensische Genetik der Universität Münster. Die Genetiker und Molekularbiologen verglichen 160 komplette SARS-CoV-2-Genome aus einer öffentlichen Datenbank. Mithilfe hochkomplexer biostatistischer Verfahren erstellten sie Verwandtschaftsgrade der Erbsubstanz und berechneten mit einer molekularen Uhr den Zeitpunkt, in dem neue Virusvarianten vermutlich entstanden sind.
Anhand von Änderungen in der Codierung von Aminosäuren identifizierten sie drei A, B und C genannte Virusstränge. A ist der älteste Virusstrang mit dem engsten Verwandtschaftsgrad zum ursprünglichen aus einer Fledermaus stammenden SARS-Virus. Dieser Virusstrang, so die Forscher im renommierten Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Science“ [5], entstand in den südchinesischen Provinzen Guangdong oder Yunnan, etwa 1500 Kilometer von Wuhan entfernt. In Wuhan dagegen dominierte Virustyp B, der sich aus A entwickelt hatte. Der „Archetyp“ von Virus A muss den Berechnungen zufolge zwischen dem 13. September und dem 7. Dezember 2019 den „Patienten Null-Null“ infiziert haben – also lange bevor die ersten Fälle von COVID-19 in Wuhan beschrieben wurden. Die Zeitangaben sind statistische Schätzwerte, und der tatsächliche Übergang von einem Tier auf den Menschen kann auch deutlich früher oder später stattgefunden haben.
Die von Forster und Kollegen angewandten statistischen Verfahren wurden bislang nur eingesetzt, um beispielsweise aus mitochondrialer DNA des Menschen prähistorische Migrationsbewegungen nachzuvollziehen. Entsprechend harsch war die Kritik von virologischer Seite [6, 7] an der biomathematischen Methodik. Allerdings zeigen neuere Studien über Zeitschienen von mutierten SARS-CoV-2-Isolaten mit anderen biostatistischen Verfahren ähnliche Zeitfenster. So berechneten Lucy van Dorp und Kollegen vom Institut für Genetik vom University College in London [8] anhand von 7666 Genomen den Entstehungszeitraum von SARS-CoV-2 auf den 6. Oktober bis 11. Dezember 2019. Ein halbes Dutzend weiterer Studien kommt zu sehr ähnlichen Aussagen [8].
Erklärungsnot
Die übereinstimmenden Ergebnisse einer Vielzahl von Studien zum Ursprung und Zeitpunkt von SARS-CoV-2 bringen die chinesische Regierung in Erklärungsnot. Wird offiziell doch weiterhin behauptet, der Fleisch- und Wildtiermarkt von Wuhan sei der Ausgangspunkt der Pandemie gewesen. Dabei wäre es ein Leichtes, den Widerspruch aufzuklären, wenn die chinesische Regierung tiefgefrorene Proben von Patienten aus Südchina freigeben würde, die zwischen September und Dezember 2019 stationär behandelt wurden. Ob der politische Wille vorhanden ist, an der Klärung des Pandemieursprungs mitzuarbeiten, darf allerdings bezweifelt werden. Alle Proben vom Markt in Wuhan wurden unter polizeilicher Aufsicht wenige Tage nach der Schließung des Marktes vernichtet. |
Literatur
[1] SARS-CoV-2 was already spreading in France in late December 2019, International Journal of Antimicrobial Agents, 2020, https://doi.org/10.1016/j.ijantimicag.2020.106006
[2] Investigation of a COVID-19 outbreak in Germany resulting from a single travel-associated primary case: a case series, The Lancet, 2020, https://doi.org/10.1016/S1473-3099(20)30314-5
[3] Phylodynamics of SARS-CoV-2 transmission in Spain, bioRxiv preprint, 2020, https://doi.org/10.1101/2020.04.20.050039.
[4] Phylogenetic network analysis of SARS-CoV-2 genomes, PNAS, 2020, www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.2004999117
[5] Evaluation of lockdown impact on SARS-CoV-2 dynamics through viral genome quantification in Paris wastewaters, medRxiv preprint 2020, https://doi.org/10.1101/2020.04.12.20062679
[6] Median-joining network analysis of SARS-CoV-2 genomes is neither phylogenetic nor evolutionary, PNAS, 2020, https://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.2007062117
[7] Sampling bias and incorrect rooting make phylogenetic network tracing of SARS-COV-2 infections unreliable, PNAS, 2020, https://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.2007295117
[8] Emergence of genomic diversity and recurrent mutations in SARS-CoV-2, Infection, Genetics and Evolution, 2020, https://doi.org/10.1016/j.meegid.2020.104351
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