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Arzneimittel und Therapie
Fluorchinolone unter Verdacht
Die Liste potenzieller Nebenwirkungen ist lang, oft fehlen jedoch handfeste Beweise
In Deutschland stellen Fluorchinolone nach Betalaktamen, Makroliden und Tetracyclinen die viertstärkste Verordnungsgruppe innerhalb der Antibiotika dar. Ihr größter Vorteil: das breite Wirkungsspektrum. Ihr größter Nachteil: die ebenso breite Palette an Nebenwirkungen. Das am häufigsten eingesetzte Fluorchinolon ist Ciprofloxacin mit 19,5 Millionen verordneten Tagesdosen im Jahr 2015. Die dazugehörige Fachinformation enthält eine mehrseitige Tabelle mit potenziellen Risiken, die so gut wie alle Organklassen betreffen und lebensbedrohlich sein können, darunter Knochenmarksdepression, anaphylaktischer Schock und Lebernekrose. Ciprofloxacin wirkt phototoxisch, verlängert die QT-Zeit und kann Krampfanfälle auslösen. Zudem wurden Fälle von Polyneuropathie berichtet, beruhend auf beobachteten neurologischen Symptomen wie Schmerz, Brennen, sensorischen Störungen oder Muskelschwäche. Selten können unter Therapie mit Ciprofloxacin Depressionen oder Psychosen zu suizidalen Gedanken und Handlungen voranschreiten.
Im Visier der Behörden
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass seltene, aber schwerwiegende unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln erst Jahrzehnte nach ihrer Markteinführung erkannt werden. Fluorchinolone wurden in der Vergangenheit häufiger misstrauisch beäugt und durchliefen ausführliche Bewertungsverfahren. Manche der proklamierten Nebenwirkungen konnten bestätigt werden und führten zu Anwendungsbeschränkungen, Aufnahme von Warnhinweisen (siehe Kasten) oder zum Aus der Präparate. So wurden Temafloxacin infolge hämolytischer Anämien, Sparfloxacin und Grepafloxacin aufgrund kardiovaskulärer Effekte und Trovafloxacin wegen hepatotoxischer Wirkungen wieder vom Markt genommen. Doch auch ihre weiterhin zugelassenen Verwandten sorgten danach für Beunruhigung: Im Jahr 2004 warnte die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) vor der Suizidalität unter 5-Fluorchinolonen. 2012 erschien ein Rote-Hand-Brief zu Levofloxacin, der an das Risiko eines hypoglykämischen Komas, Herzstillstands und akuten Leberversagens erinnerte. 2014 wurde ein Warnhinweis bezüglich Sehstörungen in die Fachinformationen aufgenommen. Das Kapitel über das Risiko von Netzhautablösungen ist bis dato noch nicht abgeschlossen.
Neue Risikobewertung von Sehnenrupturen und Co.
Aktuell ist die Aufmerksamkeit verstärkt auf Risiken wie Tendinitis, Myasthenie und Sehnenruptur gerichtet. Laut Fachinformationen treten sie in der Regel zwar nur selten bis sehr selten auf. Die Betroffenen sind dafür teilweise aber körperlich so stark eingeschränkt, dass sie arbeitsunfähig werden. Im Februar 2017 wurde auf europäischer Ebene ein Verfahren angestoßen, die Wirkstoffgruppe der Fluorchinolone hinsichtlich des Auftretens schwerer Nebenwirkungen, insbesondere im Bereich des Bewegungsapparates und des Nervensystems, zu überprüfen und das Nutzen-Risiko-Verhältnis bei bestimmten Indikationen neu zu bewerten. Schlussendlich soll die Frage geklärt werden, ob weitere Maßnahmen zur Risikominimierung erforderlich sind.
Aortenaneurysmen nicht belegt
In Bezug auf das Risiko für Aortenaneurysmen und -dissektionen hat man diese Frage bereits mit Nein beantwortet. Den Ausschuss für Risikobewertung im Bereich Pharmakovigilanz (PRAC) konnten die Ergebnisse zweier epidemiologischer Studien, die im Jahr 2015 veröffentlicht wurden, nicht überzeugen. Aneurysmen sind fokale Ausweitungen des Durchmessers einer Arterie um mindestens 50% des Normwertes. Echte Aneurysmen werden häufig durch chronischen Bluthochdruck verursacht, das Risiko steigt mit dem Lebensalter. Neben genetischen Faktoren können auch bakterielle Infektionen an ihrer Entstehung beteiligt sein. Aneurysmen verursachen zunächst keine Beschwerden und werden meist zufällig bei Routineuntersuchungen entdeckt. Eine Dissektion entsteht durch einen Riss in der Gefäßinnenwand und äußert sich durch einen kurzfristigen starken Schmerz. In der Folge kommt es zu Einblutungen in tiefere Wandschichten.
In einer taiwanesischen Fall-Kontroll-Studie wurde basierend auf den Daten von 741.652 Versicherten ein zweifach erhöhtes Risiko für Aortenaneurysmen und -dissektionen unter Therapie mit Fluorchinolonen festgestellt. Das Risiko war am höchsten bei einer Exposition bis zu 60 Tage vor der Hospitalisierung („bestehende Therapie“). Bei einem länger zurückliegenden Gebrauch war das Risiko nach Adjustierung nicht mehr signifikant. Auch eine kanadische Kohortenstudie mit über 1,7 Millionen Teilnehmern kam zu dem Schluss, dass das Risiko für Aortenaneurysmen und Sehnenrupturen unter Therapie mit Fluorchinolonen deutlich größer ist.
Vorsicht bei Therapie mit Fluorchinolonen!
- Schwerer und anhaltender Durchfall muss sofort behandelt werden.
- Fluorchinolone sollten nur mit Vorsicht angewendet werden bei Patienten mit Erkrankungen des zentralen Nervensystems, die für Krampfanfälle prädisponieren, und bei Patienten mit angeborenem Long-QT-Syndrom oder jenen, die gleichzeitig andere Arzneimittel anwenden, die das QT-Intervall verlängern (z. B. Antiarrhythmika, trizyklische Antidepressiva, Makrolide, Antipsychotika).
- Beim Auftreten von Anzeichen und Symptomen einer Lebererkrankung (wie Appetitlosigkeit, Ikterus, dunkler Urin, Pruritus oder schmerzempfindliches Abdomen) sollte die Behandlung abgesetzt werden.
- Vorsicht ist angezeigt, wenn Fluorchinolone bei Patienten mit psychotischen Störungen in ihrer Krankengeschichte oder bei Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen angewendet werden.
- Bei allen Patienten mit Diabetes wird eine sorgfältige Überwachung der Blutzuckerwerte empfohlen.
- Bei Patienten mit Glucose-6-Phosphatdehydrogenasemangel sollten Fluorchinolone nicht angewendet werden, da das Risiko für hämolytische Reaktionen erhöht ist.
- Fluorchinolone sollten generell nicht angewendet werden bei Patienten mit einer positiven Anamnese für Sehnenerkrankungen/-beschwerden, die mit einer Chinolon-Behandlung assoziiert auftreten.
- Falls es zu Sehstörungen oder anderen Wirkungen auf die Augen kommt, sollte unverzüglich ein Augenarzt konsultiert werden.
- Patienten sollten sich während und bis zu 48 Stunden nach der Behandlung nicht unnötig starker Sonnenbestrahlung oder künstlichen UV-Strahlungen (z. B. Höhensonne, Solarium) aussetzen, um eine Photosensibilität zu vermeiden.
Evidenz zu schwach
Aus Sicht des PRAC ist die Evidenz der Daten jedoch zu gering, um eine Aktualisierung der Produktinformationen zu rechtfertigen. Bei epidemiologischen Untersuchungen kann nur eine Assoziation, aber kein Kausalzusammenhang ermittelt werden, weil es zahlreiche Störmöglichkeiten geben kann. Die kanadische Studie bezog das Antibiotikum Amoxicillin, das nicht mit Bindegewebsschäden assoziiert ist, als negativen Tracer in die Auswertung mit ein. Sofern alle Störfaktoren bei der Adjustierung der Werte adäquat berücksichtigt wurden, sollte unter Amoxicillin kein erhöhtes Risiko für Aortenaneurysmen detektierbar sein. Doch genau dieses Ergebnis trat ein, auch wenn das Risiko geringer war als im Fall der Fluorchinolone. Das deutet darauf hin, dass es andere Einflussfaktoren gibt und das beobachtete Risiko unter Fluorchinolonen eventuell überschätzt wird. So könnte die zugrunde liegende Infektion selbst für die Entstehung von Aortenaneurysmen verantwortlich sein, oder die Aneurysmen bestanden bereits und gingen mit Symptomen wie Fieber einher, die zur Initiierung einer Antibiotika-Therapie führten. Auf Basis der vorliegenden Daten kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass Aortenaneurysmen und -dissektionen vermehrt als Zufallsdiagnosen im Rahmen der Behandlung multimorbider Patienten diagnostiziert wurden.
Kausalzusammenhang bei Tendopathien, aber ...
Epidemiologisch ermittelte Assoziationen sind immer dann von besonderem Interesse, wenn sie biologisch plausibel sind. So versucht man, mögliche Nebenwirkungen eines Arzneimittels durch einen Mechanismus zu erklären, der einen Kausalzusammenhang wahrscheinlich macht. Für den schädigenden Einfluss von Fluorchinolonen werden in der Literatur verschiedene Mechanismen postuliert, in erster Linie die verstärkte Expression von Matrix-Metalloproteasen (MMP) und die Hemmung extrazellulärer Matrixproteine. MMP sind Enzyme, die die Spaltung von Peptidbindungen in Proteinen katalysieren, zum Beispiel Kollagene, die wesentliche Bestandteile von Sehnen und Aortenwand sind.
„Unerwünschte Wirkungen, die das Bindegewebe betreffen, wie Tendinitis und Sehnenrupturen, können eindeutig durch Fluorchinolone verursacht werden. Hier besteht kein Zweifel an einem Kausalzusammenhang.“ erklärt Prof. Dr. med. Ralf Stahlmann, Toxikologe an der Charité Berlin.
... nicht bei Aortenaneurysmen
Anders sieht Stahlmanns Meinung nach die Sachlage bei den beschriebenen Veränderungen der Aorta aus: „Da Sehnen einen extrem hohen Gehalt an Kollagen I aufweisen und Tendopathien durch Fluorchinolone verursacht werden können, wird auch das Kollagen in der Aortenwand als mögliches Target postuliert. Diese Überlegungen sind jedoch sehr oberflächlich und berücksichtigen zum Beispiel nicht die unterschiedlichen Kollagen-Arten, die in verschiedenen Geweben nachgewiesen werden können.“ Kollagen I kommt in der Haut, Sehnen, Faszien, inneren Organen und anderen Strukturen vor, Kollagen II ist charakteristisch für Knorpelgewebe. Das Kollagen Typ III ist wichtiger Bestandteil der Gefäßwände, aber neben Kollagen I auch in der Haut und inneren Organen nachweisbar. Im Unterschied zu Sehne oder Knorpel werden andere Organe aber besser mit Blut und Nährstoffen versorgt. Während Knorpel und Sehne bradytrophe, nicht vaskularisierte Gewebe sind, erhalten die Kollagen-Schichten in anderen Organen rascher und unmittelbarer Nährstoffe aus dem Blut.
Die Magnesium-Hypothese
Prof. Stahlmann hält die sogenannte Magnesium-Hypothese für wahrscheinlicher: Sie macht die Eigenschaften von Fluorchinolonen, Chelatkomplexe mit zwei- oder dreiwertigen Kationen zu bilden, für die schädigenden Wirkungen verantwortlich. „Nur in jenen Organen, die nicht vaskularisiert sind und bei denen der Mangel an funktionell verfügbarem Magnesium nicht rasch ausgeglichen werden kann, führt diese Chelatbildung wahrscheinlich zu Schäden, zum Beispiel im Bindegewebe. Der Analogieschluss zwischen Sehne, Retina und Aorta ist damit aber nicht so plausibel, wie er auf den ersten Blick scheint.“
Die Magnesium-Hypothese wird durch Ergebnisse aus Tierversuchen gestützt. So konnte die Arbeitsgruppe um Prof. Stahlmann zeigen, dass bei jungen Ratten durch Magnesium-Mangel verursachte Knorpelschäden identisch sind mit Chinolon-induzierten Schäden. Erhalten mit Ofloxacin behandelte Ratten zusätzlich Magnesium, lässt sich die Chondrotoxizität von Ofloxacin reduzieren. Auch bei durch Ciprofloxacin ausgelösten Knorpelschäden konnte im Tierversuch gezeigt werden, dass Magnesium allein oder in Kombination mit Vitamin E protektiv wirkt. Klinische Studien, die den Nutzen einer Magnesium-Einnahme parallel zur Therapie mit Fluorchinolonen belegen, gibt es bisher nicht. Es mangelt schlicht an Forschungsmitteln. So kann Prof. Stahlmann auch keine generelle Empfehlung für eine Magnesium-Substitution im Rahmen einer Chinolon-Therapie geben. Eine zeitgleiche Einnahme ist allerdings wegen der Chelatbildung und der daraus resultierenden eingeschränkten Bioverfügbarkeit unbedingt zu vermeiden.
Um diese Gefahr zu umgehen, müsste Magnesium in zeitlichem Abstand von vier bis sechs Stunden von der Einnahme des Antibiotikums in handelsüblichen Dosierungen substituiert werden.
Kontrolle ist immer besser
Gründe, Ciprofloxacin und seine Verwandten nicht unbesonnen einzusetzen, gibt es mehr als genug. Auf sie verzichten möchte und kann man aber nicht. Allerdings sollten Fluorchinolone nur entsprechend der Zulassungen und aktueller Therapieleitlinien angewendet und kein unnötiges Risiko eingegangen werden. Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA empfiehlt, Fluorchinolone in bestimmten Indikationen restriktiver einzusetzen und beispielsweise bei bakterieller Sinusitis, akuten Exazerbationen einer chronischen Bronchitis und unkomplizierten Harnwegsinfektionen nur dann zu verordnen, wenn es keine anderen Behandlungsoptionen gibt.
Hierzulande werden Ärzte und Apotheken gebeten, unerwartete und schwerwiegende unerwünschte Wirkungen und solche mit unerwartetem Ausgang im Zusammenhang mit Fluorchinolonen unter www.arzneimittelkommission.de zu melden. |
Quelle
Fachinformationen von Ciprofloxacin, Levofloxacin und Ofloxacin
Die Achillesferse von Fluorchinolonen. DAZ 2016, Nr. 38, S. 39
Neue Daten zum Risiko von Aortenaneurysmen und -dissektionen. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit, Ausgabe 1/2017
Toxische Wirkungen der Fluorchinolone. DAZ 2015, Nr. 49, S. 26
Magnesium kann sinnvoll sein. DAZ 2008, Nr. 29, S. 37
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