Kommentierende Analyse

Die Realität der Lieferengpässe

Erding - 13.04.2023, 17:50 Uhr

Umweltkatastrophen, Kriege, aber auch nicht vorhersehbare Nachfragesteigerungen münden schnell in Arzneimittel-Versorgungslücken. (Foto: Cris C. / AdobeStock)

Umweltkatastrophen, Kriege, aber auch nicht vorhersehbare Nachfragesteigerungen münden schnell in Arzneimittel-Versorgungslücken. (Foto: Cris C. / AdobeStock)


Seit dem 5. April 2023 ist es ein Regierungsentwurf, das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG). Bringt dieser Entwurf die angekündigte Wende in unserem Versorgungschaos? Zeit für eine unabhängige Bestandsaufnahme, Zwischenfragen und eine Kommentierung, meint Dr. Franz Stadler, Gründer und Beiratsvorsitzender der Stiftung für Arzneimittelsicherheit. 

Wo stehen wir?

Vergütungsanspruch

Tatsache ist, dass immer wieder Arzneimittel in der Versorgung fehlen. Korrekterweise müssen wir hier zwischen reinen Lieferengpässen, die durch Austausch der Hersteller, Applikationsformen und Dosierungsanweisungen behoben werden können, und echten Versorgungsengpässen mit fehlenden Wirkstoffen unterscheiden. Lieferengpässe können von Apotheken (und nur sehr indirekt vom pharmazeutischen Großhandel) behoben werden. Notwendig sind dazu entsprechende Rahmenbedingungen/Retax-Ausschlüsse und eine angemessene Vergütung für den zusätzlichen Aufwand (Aufklärungs- und Überredungsgespräche mit den Kunden). 50 Cent netto pro Austauschvorgang scheint dabei deutlich zu niedrig, wobei der tatsächliche Aufwand wegen der vielen Wiederholungen schwer zu erfassen ist.

Bei Versorgungsengpässen verteilt sich der zusätzliche Beratungsaufwand auf Arzt (Rücksprache) und Apotheke. Hier wären also die verordnende Praxis und die Apotheke entsprechend zu vergüten. Das geplante Gesetz müsste also selbst in diesem für die Lieferengpässe nebensächlichen, wenn auch heiß diskutierten Punkt erstmals den Realitäten (und nicht den Verbandsinteressen) angepasst werden.

Zudem sollten die Vergütungsregeln für die Abwickler und leidtragenden Dienstleister in der Misere unabhängig von den Ursachen des Grundproblems geregelt werden. Im Fall der Apothekenvergütung steht schon länger eine komplette Neuordnung der Vergütungssystems an.

Ursachen

Gemeinhin werden als eine Hauptursache der Lieferengpässe die Rabattverträge und die dahinterstehenden Ausschreibungen angesehen. Weitgehend ist das auch richtig, liegt doch der durchschnittliche Erstattungspreis für Generika nach Abzug der Rabatte bei 6 Cent pro Tagestherapie. In unserem Wirtschaftssystem führen Ausschreibungen, die einen Großteil des zur Verfügung stehenden Marktes (GKV) betreffen, zwangsläufig zum Verschwinden der meisten Marktteilnehmer (Oligopol- oder gar Monopolisierung) und/oder zu einer möglichst billigen, qualitativ gerade noch akzeptablen Produktion, die sich wegen der ablaufenden Skalierungseffekte zudem in einer größtmöglichen Arbeitsteilung manifestiert. Da nach wie vor die Transportkosten eine zu vernachlässigende Größe darstellen, verteilt sich die Arzneimittelproduktion im Laufe der Zeit kostenabhängig über die ganze Welt. 

Anfallende Steuerlast, Umweltauflagen, Verfügbarkeit möglichst billiger Arbeitskräfte und bürokratische Hürden sind Bestandteile dieser Kostenbetrachtung. Wenige Anbieter, die zudem von weltweit verteilten Lieferanten abhängig sind, führen zu einem labilen System. Umweltkatastrophen, Kriege, aber auch nicht vorhersehbare Nachfragesteigerungen münden schnell in Versorgungslücken, die nur langsam aufgefangen/behoben werden können. Hinzu kommt ein kaum kontrollierbarer Zwischenhandel, Parallel-, Im- und Exporteure, deren Geschäftsgrundlage die Preisunterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind.

Arzneimittel-Lieferengpässe haben vielfältige Ursachen – die eine Lösung gibt es nicht

Defekt!

Aktuell müssen bei der Betrachtung der Gesamtsituation allerdings zwei Punkte berücksichtigt werden, die nicht allein auf Ausschreibungen/Kostenoptimierungen zurückzuführen sind. Erstens gab und gibt es nachpandemiebedingte Nachfragesteigerung (besonders bei Antibiotika) und zweitens verursacht/verstärkt die gesteigerte mediale Berichterstattung über Lieferengpässe psychologische Effekte, die zusätzlich zu erhöhter Nachfrage führen. Vergleichbar den Toilettenpapierkäufen zu Beginn der Pandemie wird bevorratet, und zwar sowohl bei Kunden/Patienten als auch bei einzelnen Apotheken.

Trotzdem liegt die Hauptverantwortung für eine funktionierende Arzneimittelversorgung bei den pharmazeutischen Unternehmen (PU), den Krankenkassen und der Politik, und zwar bei allen gemeinsam.

Sind die auf dem Tisch liegenden Vorschläge des ALBVVG also geeignet, die Probleme zu lösen?

Preisgestaltung

Für Kinderarzneimittel die Festbetragsregelung auszusetzen und den pharmazeutischen Unternehmen zu erlauben, einmalig ihren Abgabepreis (ApU) für diese Arzneimittel um bis zu 50 Prozent über den zuletzt geltenden Festbetrag anzuheben, ist wenig zielführend. Die Festbeträge werden nach §35 Abs. 5 SGB V ohnehin einmal im Jahr überprüft, errechnen sich aus den ApU-Preisen der Arzneimittel einer Festbetragsgruppe und werden auf den höchsten Abgabepreis des unteren Drittels festgesetzt. Schon bisher gab es in vielen Fällen Mehrkosten, die über den Festbeträgen lagen und von den Versicherten selbst zu tragen waren. Der Festbetrag definiert nur den maximal von den Krankenkassen zu tragenden Anteil des tatsächlichen Verkaufspreises. 

Das manche PU aus Wettbewerbsgründen eine automatische Zuzahlungsbefreiung (ApU bisher 30 Prozent, geplant neu 20 Prozent unter Festbetrag) anstreben, zeigt nicht nur den funktionierenden Wettbewerb im Festbetragssystem, sondern auch die Höhe der intransparenten Wirtschaftlichkeitsreserven. Den Abgabepreis pauschal über die Festbeträge anzuheben, erhöht kurzfristig den durch die Krankenkassen zu tragenden Anteil am Verkaufspreis und greift ohnehin nur, wenn kein Rabattvertrag vorliegt (77 Prozent des generikafähigen Marktes unterliegen Rabattverträgen). Da die Mehrkosten on-top bleiben, ist diese Maßnahme zwar eine (möglicherweise vorübergehende) Subvention an die PU, aber nicht direkt mit der Lieferfähigkeit verbunden.

Versorgungsrelevante Kinderarzneimittel (BfArM-Liste) zugleich aus der Rabattvertragsregelung ganz herauszunehmen, ist aber selbst für eine vorübergehende Preiserhöhung zwingend notwendig und deshalb sinnvoll. Damit wird nicht nur der Selektionsdruck aus dem System genommen, der zu immer weniger Anbietern geführt hat, sondern es wird überhaupt erst ermöglicht, dass die beschriebene Preiserhöhung bei den PU ankommt. Denn im Rabattvertragsmarkt ist der tatsächliche Erstattungsbetrag durch die Krankenkassen geheim und hat nichts mit dem Festbetrag oder dem Preis, der in der sogenannten Lauertaxe steht, zu tun. Gilt ein Rabattvertrag, dürften im Regelfall auf Kassenrezept nur diese Arzneimittel zu den geheimen (sehr niedrigen) Abgabepreisen abgegeben werden. Der Rest ist praktisch bei Lieferfähigkeit der „Rabattvertragsgewinner“ von der Marktteilnahme ausgeschlossen.

Zwischenfrage: Warum sollten unter diesen Bedingungen die ausgeschlossenen PU große Mengen nicht versorgungsberechtigter Arzneimittel produzieren, vorrätig halten oder nach Deutschland bringen?

Beide Maßnahmen zusammen führen also für den Markt der Kinderarzneimittel (zwischen 1 und 2 Prozent des gesamten Generikamarktes) tatsächlich zu zumindest vorübergehenden Mehreinnahmen bei den PU. Ob es deshalb mittelfristig zu Verlagerungen der Produktionsstandorte für Kinderarzneimittel zurück nach Europa kommt oder sich die Liefersituation kurzfristig wenigstens in diesem kleinen Segment verbessert, ist fraglich. Das liegt offiziell an den erheblichen Vorlaufzeiten für Produktionssteigerungen (Lieferkettenabhängigkeit), könnte aber auch von den Herstellerabgabepreisen/Gewinnen in anderen Zielländern abhängen. Länder mit höheren Gewinnmargen könnten zuerst beliefert werden.

Weitere Zwischenfragen: Gibt es eigentlich verfügbare aktuelle Preisvergleichslisten (auf ApU) für andere europäische Zielländer? Wurden diese Preise bei der Festsetzung der 50-prozentigen Erhöhung der Festbeträge berücksichtigt?

Für alle anderen generischen Versorgungsbereiche (zum Beispiel Onkologika) ändert das ALBVVG ohnehin nichts.

Selbst wenn man die anderen kleinen Änderungen, die der Gesetzentwurf enthält, hier aufführen würde, verbleibt der klare Eindruck, dass dieses Vorhaben Stückwerk ist und bleibt, auch wenn die verschiedenen Verbände noch versuchen werden, zu ihren jeweiligen Gunsten Einfluss zu nehmen. Die Preisgestaltung für Arzneimittel in unserem Gesundheitssystem ist inzwischen so kompliziert geregelt, dass sie nur noch wenige Menschen überblicken und verstehen. Vielleicht fehlt auch einfach die notwendige Transparenz für konstruktive Vorschläge zu einer grundlegenden Neugestaltung der Preisfindungsmechanismen für unsere Arzneimittel?

Management der Lieferengpässe

Kurz- und mittelfristig ist eine Rückverlagerung der Produktion nach Europa unwahrscheinlich, weil es sich dabei um einen komplexen Vorgang handelt, der auch wegen der langen Lieferketten schwierig zu bewerkstelligen sein wird und dem zudem die gesellschaftliche Akzeptanz (weitverbreitete Vorbehalte gegen jede Form von chemischer Industrie) fehlt.

Eine Sofortmaßnahme wäre, bei der Vergabe der Ausschreibungen für die Rabattverträge mindestens fünf Anbieter zu bezuschlagen, die zudem nicht zu einem Mutterkonzern gehören dürfen. Damit würde die seit Jahren fortschreitende Konzentrierung auf wenige Anbieter gestoppt.

Mittelfristig sollte das Nebeneinander/Durcheinander verschiedener Kostendämpfungsmaßnahmen beendet werden. Dabei ist eine Weiterentwicklung des Festbetragssystems besser geeignet als die Rabattverträge. Es ist weitgehend transparent, gewährt Handlungsspielräume (z.B. Mehrkosten, unteres Preisdrittel, Zuzahlungsbefreiung) und eröffnet sogar die Möglichkeit, durch die Einführung eines zweiten, höheren Festbetrags für in Europa hergestellte Arzneimittel tatsächlich eine Steuerungswirkung für die Standorte der Arzneimittelproduktion zu entfalten.

Apotheker Dr. Franz Stadler ist regelmäßiger Gastkommentator in der DAZ und auf DAZ.online. (Foto: privat)

Mittel- und langfristig sollte ein nationales Arzneimitteldepot aufgebaut werden. Über dieses Depot werden alle Lieferungen der PU abgewickelt. Es beinhaltet einen Versorgungspuffer von etwa sechs Monaten, der rollierend je nach Bedarf an die bestehenden Großhändler weitergegeben wird. Bei einer entsprechenden Steuerung sind so Verluste durch Verfall zu vermeiden und eine Bevorratungspflicht müsste nicht auf schwer zu kontrollierende Dritte übertragen werden. Dieses Modell hat einen zusätzlichen Vorteil: Es macht Im- und Exporte transparent. Bisher ist kaum nachvollziehbar, wie viele der für Deutschland vorgesehenen Medikamente (Kontingente der PU) wegen der Preisunterschiede gewinnbringend ins Ausland weiterexportiert werden. 

In Summe muss unser Versorgungssystem einfacher und transparenter gestaltet werden als bisher. Dazu sind einschneidende Maßnahmen notwendig, die das System wieder stärker an die Realitäten heranführen. Über die Wege dorthin kann diskutiert werden. Das ALBVVG ist aber allenfalls ein winziger Schritt in diese Richtung.


Dr. Franz Stadler
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

nationales Arzneimitteldepot

von Martin Didunyk am 13.04.2023 um 18:36 Uhr

ein nationales Arzneimitteldepot über das alle Lieferungen der Pharma Unternehmen abgewickelt werden, ist schon eine sehr mutige Idee. Diese dürfte nicht nur Freudenschreie auslösen.

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