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„Zwischen Chancen und Risiken – Fünf Jahre Versorgung mit Cannabinoid-basierten Arzneimitteln“
von Apotheker Lutz Muth
und Prof. Gerd Glaeske
finden Sie in der aktuellen DAZ Nr. 10.
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Mögliche Indikationen und potenzielle Nebenwirkungen
Cannabis – mehr Risiken als Chancen?
Cannabinoid-basierte Arzneimittel sind nicht neu und doch waren sie lange Zeit in Deutschland weder verordnungs- noch verkehrsfähig. Das hat sich vor fünf Jahren geändert. Schwer erkrankte Menschen haben seit März 2017 einen Anspruch auf die Versorgung mit Hanfblüten, Extrakten und Fertigarzneimitteln zulasten der GKV. Ob die Cannabismedizin tatsächlich in jedem Fall und bei jeder Indikation hilft, bleibt aber umstritten, wie Sie in der aktuellen DAZ erfahren.
Bis in die 1940er-Jahre hinein beinhalteten deutsche Pharmakopöen Monographien für ethanolische Hanfextrakte und -tinkturen. Infolge des Beitritts zur UN Single-Convention über Suchtstoffe und der nachfolgenden Novelle des Betäubungsmittelrechts entfielen Cannabinoid-basierte Rezepturen mit Listung in der Anlage I des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) als nicht mehr verkehrs- und verschreibungsfähig. Ihr Revival erlebten die Cannabis-Inhaltsstoffe Mitte der 1980er-Jahre im Kontext der AIDS-Krise, als ein Fertigarzneimittel mit Tetrahydrocannabinol (THC, Dronabinol) seitens der US-amerikanischen Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) unter dem Handelsnamen Marinol® zur symptomatischen Therapie der Anorexie beziehungsweise Kachexie zugelassen wurde. Erst im folgenden Jahrzehnt listete der deutsche Gesetzgeber Dronabinol mit Änderung des Betäubungsmittelgesetzes 1998 in Anlage III als verkehrs- und verschreibungsfähig, die Aufnahme von Rezepturen ins NRF erfolgte im Jahr 2001, beispielsweise die öligen Dronabinol-Tropfen oder Kapseln.
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Doch erst seit 2017 ist die Cannabismedizin tatsächlich in der Regelversorgung angekommen. Um eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zu ermöglichen, folgten im Rahmen des „Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Gesetze“ Novellierungen diverser Paragrafen im Betäubungsmittelgesetz, in weiteren betäubungsmittelrechtlichen Verordnungen, im Grundstoffüberwachungsgesetz sowie im Sozialrecht mit Wirkung ab 10. März 2017.
Statistiken aus dem System der Krankenkassen machen deutlich, dass es sich um eine dynamische Marktentwicklung mit erheblichen Zuwachsraten handelt: Laut Analysen der GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (GAMSI) betrug der Bruttoumsatz rund 27 Millionen Euro in 2017, 73,5 Millionen in 2018, 123 Millionen in 2019 sowie 165 Millionen in 2020. Für das vergangene Jahr könnten die prognostizierten Ausgaben bei mehr als 170 Millionen Euro liegen, basierend auf den GAMSI-Daten der ersten drei Quartale 2021.
Keine Wirksamkeit bei Depression, Psychosen und Demenz
Im Rahmen des ersten „Cannabis-Reports“ wurde analysiert, welche Evidenz tatsächlich für die möglichen und bisher beanspruchten Einsatzgebiete von Medizinalcannabis herrscht. Denkbare Indikationen sind chronischer Schmerz, Spasmen bei Multipler Sklerose, Epilepsie, Chemotherapie-induzierte Übelkeit und Erbrechen sowie Appetitsteigerung bei HIV/AIDS. Als mögliche Indikationen gelten der Analyse nach Angst- und Schlafstörungen, Tourette-Syndrom sowie ADHS. Keine Wirksamkeit haben Cannabinoid-basierte Arzneimittel der Literaturauswertung nach bei Depression, Psychosen und Demenz sowie bei Glaukom und Darmerkrankungen.
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Eine Begleitforschung der Bundesopiumstelle beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) soll Erkenntnisse der in großem Umfang möglichen Verordnung von Cannabinoid-basierten Arzneimitteln ohne Beschränkung von Indikationen oder arzneimittelrechtliche Zulassungen liefern. Unter dem sogenannten Off-Label-Use versteht man die Anwendung zugelassener Arzneimittel, im Fall von Cannabinoid-basierten Arzneimitteln also Canemes® und Sativex®, außerhalb der in klinischen Studien nachgewiesenen und behördlich genehmigten Anwendungsgebiete. Von einem No-Label-Use spricht man analog bei (noch) nicht zugelassenen Arzneimitteln. In beiden Fällen tragen die verordnenden Ärztinnen und Ärzte eine große Verantwortung, weil im Schadensfall kein pharmazeutischer Unternehmer nach § 84 AMG für das Produkt haftet, sondern die Mediziner selbst mit ihrem Privatvermögen für eventuell auftretende schädliche Folgen der Therapie aufkommen müssten.
Bei Cannabinoid-basierten Arzneimitteln und bei der Inhalation der Cannabisblüten zu medizinischen Zwecken beziehungsweise dem Freizeitkonsum werden aktuell als mögliche gravierende Risiken Herzinfarkt, Vorhofflimmern sowie Schlaganfall von der amerikanischen Herzgesellschaft diskutiert und weitere Langzeitstudien als dringend notwendig gefordert. Auf die mögliche Induktion einer Psychose bei Cannabisblüten mit hohem THC-Gehalt sowie synthetischen Cannabinoiden deutet eine aktuelle Längsschnittanalyse von Behandlungsfällen in der Psychiatrie der Jahre 2011 bis 2019 hin, deren Autoren auch einen Zusammenhang mit der „Verharmlosung der Risiken“ im Kontext der neuen Verordnungsmöglichkeiten sehen.
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