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Gastkommentar von Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier
„Eine Impfpflicht ist kein Allheilmittel!“
Die Impfquoten müssen höher werden. Darin sind sich die Politik, Mediziner, das RKI und auch viele andere einig. Uneins ist man sich allerdings über den richtigen Weg, wie man dies erreichen könnte. Zumindest was die Masern angeht, wird jetzt eine Impfpflicht umgesetzt. Ab dem kommenden Jahr soll sie in Kraft treten. Warum eine Impfpflicht alleine kein Allheilmittel gegen zu geringe Impfquoten ist und was in seinen Augen zusätzlich notwendig oder sogar besser geeignet ist, die Impfquoten zu erhöhen, legt Prof. Dr. Wolfgang Gaissmaier in seinem Gastkommentar dar.
Impfungen zählen neben Hygiene und Antibiotika zu den größten medizinischen Durchbrüchen der Menschheitsgeschichte. Alleine die Masernimpfung rettet jährlich etwa 1,3 Millionen Leben. Dennoch sind Impfmüdigkeit bis hin zur Skepsis oder sogar Ablehnung Impfungen gegenüber erstaunlich weit verbreitete Phänomene, mit gravierenden Folgen:
So hat sich beispielsweise die Zahl gemeldeter Masernerkrankungen in 170 Ländern im ersten Quartal 2019 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von 28.000 auf 112.000 vervierfacht. Aufgrund solcher bedrohlicher Entwicklungen zählt die Weltgesundheitsorganisation WHO eine zunehmende Impfskepsis zu den zehn größten Gesundheitsrisiken der Welt.
„Spitzenreiter“ Frankreich
Auch in Deutschland gibt es Vorbehalte gegen Impfungen. In einer kürzlich veröffentlichten globalen Befragung der britischen Wohltätigkeitsorganisation Wellcome stimmten nur 67 Prozent der befragten Deutschen der Aussage ganz oder teilweise zu, dass Impfungen sicher seien. Weltweit liegt dieser Wert mit 79 Prozent deutlich höher. Überhaupt zeigt die Studie, dass Vorbehalte gegenüber Impfungen insbesondere ein Problem wohlhabenderer Industriestaaten sind, Frankreich ist hier „Spitzenreiter“.
Trotz insgesamt dennoch hoher Durchimpfungsrate ließe sich das Ziel einer nachhaltigen Eliminierung von Infektionskrankheiten wie Masern in Deutschland nur erreichen, wenn die Impfquoten weiter erhöht würden.
Impfpflicht – die Lösung?
Wie können wir als Gesellschaft dieses Problem lösen? Nach einem Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wurde nun die Einführung einer gesetzlichen Masernimpfpflicht im Bundestag beschlossen.
Dies hatte im Vorfeld eine kontroverse Debatte ausgelöst: Befürworter sehen Impfen als moralische Pflicht zum Schutze anderer, die notfalls per Gesetz eingefordert werden muss. Denn tatsächlich unterscheidet sich das Impfen grundsätzlich von anderen medizinischen Maßnahmen, da es sich hierbei nicht um eine rein persönliche, nur einen selbst betreffende Abwägung von Nutzen und Schaden z. B. eines Medikaments handelt.
Vielmehr ist die Durchimpfung der Bevölkerung mit dem Ziel der Herdenimmunität ein öffentliches Gut, zu dem jeder Einzelne einen Beitrag zum Schutze anderer leisten kann – oder eben trittbrettfahrend selbst bei absichtlicher Impfverweigerung von der Durchimpfung anderer profitiert, ohne diesen Beitrag zu leisten. Das ist unsolidarisch und unterminiert die Herdenimmunität.
Impfpflicht = Körperverletzung?
Gegner einer Impfpflicht betonen individuelle Freiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit, da eine Impfung trotz ihres unbestreitbaren Nutzens rechtlich eine Körperverletzung darstellt. Es stellt sich daher die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, in Abwägung derer sich der Deutsche Ethikrat Ende Juni zumindest gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen hat. Dennoch betrachtet er das Impfen grundsätzlich als moralische und zu fördernde Pflicht und kann sich dabei sogar eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen vorstellen.
Demselben Ziel verpflichtet
Dies verdeutlicht, dass sich sowohl Befürworter als auch die allermeisten Gegner einer Impfpflicht letztlich demselben Ziel verpflichtet fühlen (von einigen wenigen grundsätzlichen Impfkritikern abgesehen): einer möglichst hohen Durchimpfungsrate zum Schutz der Bevölkerung. Wie vom Deutschen Ethikrat vorbildlich geleistet wäre daher eine breitere Debatte, wie sich hohe Impfquoten erreichen lassen, zielführender, als eine Beschränkung auf die Frage „Masernimpfpflicht: ja oder nein?“.
Debatte evidenzbasiert führen
Neben ethischen Abwägungen sollte sich diese Debatte dabei auf die beste verfügbare wissenschaftliche Evidenz stützen. So zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, dass eine Impfpflicht zur Erreichung höherer Impfquoten durchaus ein sinnvoller Baustein sein kann, jedoch auch Risiken birgt und kein Allheilmittel darstellt. Um wirksam zu sein, muss eine Impfpflicht einerseits streng genug durchgesetzt und kontrolliert werden, sie darf andererseits aber nicht zu streng sein, da sie dann zu viel Widerstand hervorrufen würde. Auch wird es stets Ausnahmeregeln geben müssen, durch die sich Menschen in begründeten Fällen von der Impfpflicht befreien lassen können, was wiederum ein Potenzial für Missbrauch birgt. Daher mag es nicht überraschen, dass die Datenlage heterogen ist und die Impfquote in Ländern mit Impfpflicht nicht notwendigerweise höher ist als in Ländern ohne Impfpflicht. So sind einerseits positive Auswirkungen einer Impfpflicht selbst auf andere Impfungen dokumentiert, die nicht verpflichtend sind. Andererseits zeigen genau gegenteilige Befunde, dass die Pflicht zu bestimmten Impfungen die Bereitschaft zu anderen, nicht verpflichtenden Impfungen sogar reduzieren kann, sei es aus Reaktanz oder weil diese anderen Impfungen dann im Vergleich weniger bedeutsam erscheinen.
Mehr Schaden als Nutzen?
Daher erscheint es zumindest fragwürdig, ob eine so punktuell auf eine Impfung abzielende Pflicht wie die derzeit diskutierte Masernimpfpflicht nicht letztlich tatsächlich mehr Schaden als Nutzen mit sich bringen könnte. Darüber hinaus zielt die Masernimpfpflicht im Wesentlichen auf die Gruppe der Kleinkinder ab, obwohl mangelnder Impfschutz von Erwachsenen vielleicht sogar das größere Problem darstellt. Wenn überhaupt wäre daher vermutlich eine umfassendere Impfpflicht angezeigt. Aus oben genannten Gründen würde jedoch selbst diese das Ziel eines vollständigen Impfschutzes der Bevölkerung wohl nicht erreichen. Daher bräuchte es ohnehin weitere Maßnahmen, die einerseits ethisch weniger umstritten sein dürften (Stichwort: Verhältnismäßigkeit) und andererseits eine Impfpflicht unter Umständen sogar verzichtbar machen könnten.
Wichtigste Maßnahme – vernünftige Aufklärung
Die wichtigste Maßnahme dabei ist eine vernünftige Aufklärung. Es gibt nur wenige Themen, bei denen sich die Wissenschaft so einig ist, wie in Bezug auf den überwältigenden Nutzen von Impfungen. Diese eindeutige Datenlage sollte zunächst unter Gewährleistung des Gesetzgebers transparent gemacht werden, indem wirklich alle verfügbaren Studiendaten veröffentlicht werden, unabhängig ob von öffentlichen Einrichtungen oder Industrie gewonnen. Dann muss sie den Menschen effektiver vermittelt werden, wozu auch Menschen im Gesundheitswesen wie Ärztinnen und Ärzte geschult werden sollten. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Verdeutlichung des Krankheitsrisikos, das sich durch die Impfung senken lässt – gerade weil viele der Krankheiten, gegen die erfolgreich geimpft wird, nicht mehr sichtbar und damit vermeintlich nicht mehr bedrohlich sind.
Positive Aspekte betonen, Barrieren abbauen
Dabei sollte man positive Aspekte der Impfung betonen, anstatt negative Mythen über Impfungen zu widerlegen und dabei, zwangsläufig, zu wiederholen; in (falscher) Erinnerung bleibt dann häufig nur, dass es eine Debatte über diese Mythen gibt. Auch ist es sinnvoller, den sozialen Nutzen von Impfungen für Menschen hervorzuheben, die nicht geimpft werden können (z. B. Neugeborene), als nur den individuellen Nutzen zu diskutieren, da Letzteres die Attraktivität des Trittbrettfahrens nicht ausräumen kann. Aber selbst die beste Aufklärung wird alleine nicht reichen, es müssen auch Barrieren beim Zugang zu Impfungen abgebaut werden. Neben guten Erinnerungssystemen in Arztpraxen sowie einer angemessenen Vergütung des Impfens könnte man daher überlegen, ob es nicht andere Orte gibt, an denen breite Schichten der Bevölkerung leichter für Impfungen erreichbar sind. Für Kinder könnten dies zum Beispiel Schulen, für Erwachsene Apotheken sein.
Fazit
Impfungen retten Leben. Durch Impfskepsis nehmen jedoch vermeidbare Infektionskrankheiten wieder zu. Eine Impfpflicht kann grundsätzlich ein sinnvoller Baustein zur Erhöhung der Impfquoten sein.
Es mag auf den ersten Blick paradox klingen, aber wenn überhaupt sollte eine Impfpflicht nicht nur auf vereinzelte Krankheiten abzielen, sondern ein breites Spektrum an Krankheiten und Bevölkerungsgruppen umfassen. Ansonsten könnten die Nachteile die Vorteile überwiegen, da z. B. nicht verpflichtende Impfungen in Folge weniger in Anspruch genommen werden. Jedoch ist eine Impfpflicht alleine kein Allheilmittel gegen zu geringe Impfquoten. Aufklärung und ein leichterer Zugang zu Impfungen werden zusätzlich vonnöten sein und könnten daher, gerade auch im Hinblick auf ethische Fragen, sogar generell die bevorzugten Mittel der Wahl sein.
1 Kommentar
Impfpflicht, oder doch eher Impfzwang?
von Nikolaj Ruppert am 26.11.2019 um 12:13 Uhr
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