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Ocrevus bei MS
Revolutioniert Ocrelizumab die Therapie der Multiplen Sklerose?
Teilweise gewinnt man den Eindruck, neue Antikörper sprießen wie Pilze aus dem Boden. Allen gemein ist: In ihnen steckt eine milliardenschwere Forschung, ihre Herstellung ist aufwendig. Manche dieser innovativen Arzneimittel revolutionieren die Behandlung schwerer Erkrankungen. So setzen Neurologen und MS-Patienten große Hoffnung in Ocrelizumab. Der CD20-Antikörper erhielt jüngst auch in der EU die Zulassung. Roche bezeichnet seinen Antikörper-Sprössling als „Revolutionär der MS-Therapie". Zu Recht?
„Das wissenschaftliche Feld der neurodegenerativen Erkrankungen ist unheimlich schwer zu beackern,“ sagte Professor Hagen Pfundner beim Ocrevus®-Launch in der vergangenen Woche in Frankfurt am Main. Pfundner hat Pharmazie studiert und leitet mittlerweile die Roche Deutschland Holding GmbH. So sei Roche in den vergangenen Jahren vor allem in der Onkologie prominent vertreten gewesen. Durchschlagende Therapiefortschritte in der Neurologie mit Arzneimitteln, wie Valium in den Sechziger Jahren oder Madopar zur Parkinson-Therapie in den Siebziger Jahren, scheinen nicht nur, sondern sind tatsächlich lange her.
Eher still war es in der Neurologie-Forschung bei Roche. Das hat sich mit dem 8. Januar 2018 geändert: An diesem Tag erteilte die Europäische Kommission Roches neuem Multiple-Sklerose-Antikörper Ocrelizumab – nach den USA, Australien, Südamerika und der Schweiz – nun auch die EU-weite Zulassung. Bis Ende 2017 sind weltweit 30.000 Patienten mit dem B-Zell-Antikörper behandelt worden. Insgesamt leiden schätzungsweise zwei Millionen Menschen an Multipler Sklerose. „Schätzungsweise“, da vor allem im asiatischen Raum noch eine große Blackbox herrscht und exakte Patientenzahlen unbekannt sind.
Ocrecvus®: erstes Arzneimittel gegen PPMS
„Ocrelizumab ist das einzige zugelassene Arzneimittel zur Therapie der Primär Progredienten Multiplen Sklerose. Es ist ein völlig neues Therapieprinzip. Patienten erhalten Ocrelizumab nur zweimal im Jahr“, umreißt Pfundner die „Revolution“ mit Ocrelizumab. Roche erwartet durch seinen neuen CD20-B-Zell-Antikörper einen „Durchbruch in der Multiple-Sklerose-Behandlung“. Und impliziert diese „REVolution“ der MS-Therapie bereits in der Nomenklatur von OcREVus®.
Wir wissen, dass wir die MS nicht heilen können, aber wir können sie mit innovativen, neuen Medikamenten so gut wie zum Stillstand bringen.
Was ist das Besondere an Ocrelizumab? In der Tat ist es so, dass Ocrelizumab das erste Arzneimittel überhaupt ist, das die Zulassung zur Therapie der Primär Progredienten Multiplen Sklerose (PPMS) geschafft hat. Alle Arzneimittel-Ansätze zuvor scheiterten in den klinischen Studien. PPMS galt bis dato als nicht behandelbar. Insofern birgt Ocrelizumab für diese PPMS-Patienten in der Tat das Potenzial zur „Revolution": Die ORATORIO-Studie untersuchte das Fortschreiten der Behinderung an 732 Patienten mit Primär Progredienter MS. Sie erhielten entweder Ocrelizumab oder Placebo. Bei den mit dem Antikörper behandelten Patienten verminderte sich das Risiko des Fortschreitens der klinischen Behinderung signifikant um 25 Prozent. PPMS trifft nur 10 bis 15 Prozent aller MS-Patienten. Sie ist somit deutlich seltener als die schubförmige MS. Bei dieser Form der Multiplen Sklerose entwickeln die Patienten die Symptome kontinuierlich und schleichend.
Wir müssen jedoch möglichst früh und möglichst intensiv die autoimmune Krankheitsaktivität zum Stillstand bringen.
Doch Roche hat für Ocrelizumab auch die Zulassung zur Therapie der schubförmigen Multiple Sklerose (RMS, relapsing multiple sclerosis/schubförmige MS). Hier überzeugte Ocrelizumab im direkten Vergleich zu Interferon beta und „konnte den Therapiestandard schlagen“, sagt Pfundner. Zur RMS zählen die beiden Unterformen RRMS, relapsing remitting multiple sclerosis/schubförmig-remittierende MS, und rSPMS (sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben).
Dass das forschende Pharmaunternehmen von seinem Antikörper überzeugt ist, überrascht nicht weiter. Doch auch Professor Ralf Gold, Direktor der Neurologischen Klinik an der Ruhr-Universität Bochum, sieht mit Ocrelizumab die Behandlung der Multiplen Sklerose im Wandel. „Ocrelizumab ist ein neuer Player in der MS-Therapie“, sagt der Neurologe in Frankfurt. Hatten MS-Forscher der B-Zell-Therapie noch vor einigen Jahren keine sonderliche Beachtung geschenkt, ihr gar therapeutische Chancen abgesprochen, hat sich diese Ansicht grundlegend geändert. So erwartet auch der Neurologe, dass mit innovativen Arzneimitteln wie Ocrelizumab „die Basistherapeutika der MS ein Stück in den Hintergrund treten werden und sich das allgemeine Therapieverhalten nachhaltig ändern wird“.
Schubfreie Phase bei MS: „trügerische Sicherheit"
„Wir wissen, dass wir die MS nicht heilen können, aber wir können sie mit innovativen, neuen Medikamenten so gut wie zum Stillstand bringen“, sagt Professor Ralf Gold. Ocrelizumab zählt er zur aktuellen „Champion`s League". Gold sprach anlässlich der Zulassung von Ocrelizumab vergangene Woche in Frankfurt. „Wir müssen jedoch möglichst früh und möglichst intensiv die autoimmune Krankheitsaktivität zum Stillstand bringen.“ Und zwar bei beiden Unterformen der Multiplen Sklerose, der selteneren Primär Progredienten Multiplen Sklerose und der Remittierend Schubförmigen Multiplen Sklerose.
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Habe man früher bei der schubförmigen MS stets gedacht, sie stehe in den schubfreien Phasen still, wisse man heute: „Das ist eine trügerische Sicherheit! Unter der Oberfläche wühlt es weiter“. Auch die Krankheitsaktvität schubförmiger Patienten müsse folglich sorgfältig und regelmäßig im Kernspin überwacht werden, „weil wir wissen, dass – trotz der scheinbar nur alle zwei Jahre einsetzenden Schübe – unter der Oberfläche immer noch viel kaputt geht“, sagt Gold.
Autoimmun-Entzündung schwelt auch in schubfreier Phase
Warum spüren die Multiple-Sklerose-Patienten diese schwelende Entzündung jedoch nicht? Der Neurologe erklärt: „Der Mensch hat die Besonderheit, dass das Nervensystem über gewisse Reserven verfügt“. Diese sogenannte neuronale Plastizität ermögliche, die Auswirkungen der axonalen, destruierenden Demyelinisierung zunächst zu kompensieren. „Aber die schwelende Entzündung braucht diese Reserve auf“, warnt der Neurologe. Anhand der Neuroplastizität erklärt der Mediziner auch, warum in späteren Phasen der Erkrankung – trotz einer im Vergleich zum Beginn der MS verminderten Entzündungsaktivität – die Behinderungsprogression ausgeprägter ist. „Es klingt paradox: Am Anfang ist die Entzündung am stärksten“, erklärte der Neurologe, in späteren Phasen nehme die Entzündungsaktivität um 80 bis 90 Prozent ab. Vollremittieren könnten MS-Schübe nur so lange, wie das erwachsene Nervensystem durch seine Plastizität die Schädigung kompensieren könne. In erster Linie verhinderten Medikamente wie Ocrelizumab schwere Immun-Attacken. Sein Fazit:
Leider ist die primäre Regenerationsförderung noch Zukunftsmusik, aber es ist ein wesentlicher Schritt , die körpereigene Regenerationsreserve auszunutzen.
Welche schubförmigen MS-Patienten profitieren von Ocrevus?
Vor diesem Hintergrund sieht der Neurologe die künftige MS-Therapie im Umbruch. Gold geht davon aus, dass die Schwelle, Patienten auf moderne Therapien umzustellen, niedriger wird. Die deutsche MS-Welt sei hier zurückhaltender als die der USA. Ärzte in den Vereinigten Staaten behandeln zunehmend auch therapienaive MS-Patienten mit Ocrelizumab – das Outcome der Behandlung scheint positiv. Bereits in der Zulassungs-Studie OPERA waren dreiviertel der Patienten zuvor unbehandelt, sprich therapienaiv. Diesen Einsatz sieht Gold auch für Deutschland.
Je früher wir mit der Therapie beginnen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient profitiert.
Ocrelizumab: Konsequenz für die MS-Therapie? Hit early, hit hard?
Ocrelizumab ist kein Heilbringer, und nicht alle Patienten profitieren in gleichem Maße von Ocrevus®. So zeigten Subgruppenanalysen, dass vor allem Patienten, die jünger als 51 sind und deren Kernspinherde hoch positiv sind, einen Nutzen von Ocrelizumab haben. Ernüchterung hingegen für Langzeit-Erkrankte: „Ein seit 20 Jahren erkrankter MS-Patient ist wahrscheinlich nicht der Idealkandidat für Ocrelizumab“, schätzt der Neurologe.
Die Krankheit trifft besonders junge Menschen, der typische Erkrankungsbeginn liegt bei 20 bis 35 Jahren. Zunehmend werden laut Gold aber auch mehr Patienten jenseits der Lebensmitte neu diagnostiziert. Die Krankheit sei mit späterem Beginn jedoch mitnichten „ausgebrannt", im Allgemeinen schreite gerade bei älteren, neu diagnostizierten Patienten, die MS sogar noch rascher voran.
Welche schubförmig Erkrankten sollten nach Ansicht von Gold dann Ocrelizumab erhalten? Der Neurologen sieht einen „breiten Einsatzbereich“: bei neu diagnostizierte MS-Patienten, die eine starke Läsionslast zeigen und Patienten, die unter ihrer bestehenden Therapie progredient sind. Stabil eingestellte Patienten sollten jedoch ihre Therapie beibehalten.
Was ist besser am CD20-AK Ocrelizumab als am CD20-AK Rituximab?
Ocrelizumab findet nicht als erster CD20-Antikörper Einzug in die Therapie der Multiplen Sklerose. Rituximab setzen Neurologen seit Jahren bei MS ein. Was ist anders – gar besser – an Ocrelizumab? Ocrelizumab besteht als humanisierter Antikörper aus deutlich weniger murinen Anteilen als der chimäre Antikörper Rituximab. Es zeigt im Vergleich zu Rituximab eine fünfmal größere Antikörper-vermittelte Zelltoxizität. Liegt die Antidrug-Antibody-Bildung laut Roche beim chimären Rituximab noch bei 7 bis 37 Prozent, reduziert sich diese beim humanisierten Ocrelizumab drastisch auf 0,2 bis 1 Prozent. Eine hohe Antidrug-Antibody-Bildung bedingt eine schlechtere Verträglichkeit und erhöht das Risiko des Wirkverlusts der Therapie. Konsequente Frage an Roche:
Warum hat Roche keinen vollhumanen Antikörper entwickelt?
Das sei ein möglicher nächster Schritt, erklärt Roche im Gespräch mit DAZ.online. Konkurrent Novartis ist hinsichtlich der „Humanität“ bei seinem CD20-Antikörper Ofatumumab bereits einen Schritt weiter: Novartis prüft derzeit in einer klinischen Phase-3-Studie den Einsatz des vollhumanen Ofatumumab bei schubförmiger Multipler Sklerose. Die Ergebnisse hierzu erwartet der Konzern bis 2019. Aktuell dürfen Ärzte Arzerra® ausschließlich in der Behandlung der chronisch lymphatischen Leukämie einsetzen (CLL).
Wie kommt das Dosierintervall zustande?
Ocrelizumab erhalten Patienten nur alle sechs Monate. Aus Neurologen-Sicht – und wahrscheinlich auch aus der von Patienten – ebenfalls ein wichtiger Therapiefortschritt. Warum? Die Patienten müssen sich, anders als bei einer täglichen Einnahme oder wöchentlichen Injektion, nur einmal im halben Jahr aktiv mit ihrer Krankheit auseinander setzen.
Wie ist ein so langes Dosierintervall möglich? Dahinter steckt der immunologische Reifungszyklus der B-Zellen. Ocrelizumab depletiert nur CD20-positive B-Zellen. Die B-Zelle durchläuft von der ursprünglichen Stammzelle bis zur reifen Plasmazellen verschiedene Stadien – CD20 findet sich als Oberflächenprotein allerdings nur auf den B-Zellen der mittleren Entwicklungsstufen, und weder auf der Stammzelle noch der reifen Plasmazelle. Als Angriffsort elegant: Weder die Stammzellen noch die Immunkompetenz des Patienten durch reife B-Zellen werden dauerhaft negativ beeinflusst. Somit leidet auch die Langzeitimmunität nicht.
Ocrevus® wirkt und depletiert CD20-B-Zellen – auch die nachreifenden – so lange nennenswerte Spiegel im Plasma zirkulieren. Was bis zu zwei Monate nach Infusion der Fall ist. Da Ocrevus® auch die Nachreifung der B-Zellen verzögert, genügt eine erneute Dosierung nach sechs Monaten.
Was sagt die Forschung zur Entstehung der MS?
Was steht am Anfang der autoimmunen Entzündungsprozesse bei MS? Ob hier verschiedene Auslöser – genetische Faktoren, Umweltfaktoren – stehen, ist immer noch intensiver Gegenstand der Forschung. Für die derzeitige Therapie der Multiplen Sklerose ist das laut des Neurologen momentan nicht primär entscheidend. Warum? Die derzeit verfügbaren Medikamente seien vor allem auf das Sistieren, auf das Stehenbleiben der Krankheitsaktivität ausgerichtet.
7 Kommentare
Ocrevusi
von Dauria Alexandra am 22.07.2019 um 12:37 Uhr
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Gibt es Praxen in Deutschland
von Bianca am 29.06.2019 um 19:18 Uhr
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AW: Gibt es Praxen in Deutschland
von Ännsn am 19.08.2019 um 15:02 Uhr
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von Annerose Giebel am 26.02.2019 um 17:53 Uhr
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Ocrevus
von Jan Koslowski am 31.01.2018 um 3:30 Uhr
» Auf diesen Kommentar antworten | 2 Antworten
AW: Ocrevus
von Nadine am 07.02.2019 um 20:20 Uhr
AW: Ocrevus
von Ute am 20.02.2019 um 22:25 Uhr
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