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Pandemie Spezial
Kaum zu fassen
Long-COVID ist rätselhafter als die Erkrankung selbst
Die gängigen Definitionen von Long-COVID versuchen gar nicht erst, den schillernden Strauß an Symptomen zu fassen, der unter dem Begriff gebündelt wird. Sie bleiben eindimensional. Für die US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) ist Long-COVID jeder Folgeschaden (sequela), der noch vier Wochen nach der Erstinfektion besteht. Das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) spricht von Symptomen, die nach der Akutphase von COVID-19 für vier bis zwölf Wochen auftreten oder fortbestehen und sich durch keine andere Diagnose erklären lassen. Jenseits der zwölften Woche empfiehlt das NICE den Begriff Post-COVID-Syndrom.
Es gibt kaum ein Organsystem, das nicht von COVID-19 in Mitleidenschaft gezogen werden kann: Menschen mit Long-COVID können unter anderem respiratorische, kardiovaskuläre, neurologische, gastrointestinale und muskulo-skelettale Probleme haben. Am häufigsten leiden sie unter Fatigue und Atemnot, viele an kardialen Störungen, Kognitions- und Konzentrationsstörungen, Schlafproblemen, Kopfschmerzen, Geruchs- und Geschmacksstörungen [1]. Manche Autoren vertreten die Ansicht, dass man bei Long-COVID besser von verschiedenen einzelnen Krankheitsbildern ausgehen solle, die individuelle Patienten in unterschiedlicher Ausprägung beträfen, etwa einem Post-Intensive-Care-Syndrom oder einem Post-Viral-Fatigue-Syndrom. „COVID-19 ist nicht immer eine linear verlaufende Krankheit mit einer akuten Phase, die in Erholung oder anhaltende Besserung übergeht. Es kann eine zyklische Erkrankung sein, mit Symptomen, die durch verschiedene Organsysteme ziehen und in ihrer Schwere fluktuieren“, formuliert Dr. Elaine Maxwell vom National Institute for Health Research (NIHR). Diese Differenzierung würde die diagnostische Unschärfe bei Long-COVID besser handhabbar machen.
Auch die Epidemiologen haben mit Long-COVID ihre Probleme: Eine generelle Inzidenz anzugeben macht keinen Sinn, solange man nicht von einheitlichen Kriterien für die erfassten Zeiträume, Symptome und die Art der Erfassung (selbstberichtet, klinische Diagnose) ausgehen kann. Fest steht, jeder Mensch kann nach einer SARS-CoV-2-Infektion Folgeschäden entwickeln – ungeachtet der Schwere der vorherigen Akutsymptome (auch nach „milden“ Verläufen kann Long-COVID auftreten) und unabhängig von der Art der Behandlung. Es gibt nur minimale Unterschiede in der Häufigkeit von Long-COVID-Symptomen zwischen ambulanten und hospitalisierten Patienten.
Symptomatisch für die rätselhafte Erkrankung ist auch, dass sie keine belastbaren Risikofaktoren kennt. Bei COVID-19 sind Prognosefaktoren für schwere Verläufe bekannt: Das Risiko steigt mit höherem Alter, männlichem Geschlecht, nicht weißer Ethnizität, außerdem bei Grunderkrankungen wie Adipositas, Diabetes, respiratorischen und kardiovaskulären Erkrankungen. Mit einer einzigen Ausnahme, einem vorbestehenden Asthma bronchiale, lässt sich keiner der COVID-19-Risikofaktoren belastbar mit Long-COVID assoziieren. Bei Alter und Geschlecht fand das britische Office for National Statistics (ONS) eher die umgekehrte Tendenz: Frauen waren von Long-COVID mit 23,6% etwas häufiger betroffen als Männer mit 20,7%. Alte Menschen über 70 Jahre erschienen mit 18% viel seltener in der Long-COVID-Statistik als die Gruppen der 50- bis 69-Jährigen mit 26,1% und der 35- bis 49-Jährigen mit 26,8%.
Fatigue ist das dominierende Symptom
Fatigue steht in praktisch allen Studien zu Long-COVID an erster Stelle der Häufigkeit und der gefühlten Belastung der Patienten. Das britische Office for National Statistics schätzt die Häufigkeit der Fatigue fünf Wochen nach Abklingen von COVID-19 auf 12%, und zwar unabhängig von der Krankheitsschwere. Je nach Zeitpunkt der Untersuchung berichten viele Studien aber Prävalenzen bis über 90%. Fatigue ist mehr als Übermüdung; Betroffene schildern eine unerklärliche Erschöpfung, unverhältnismäßige Verschlechterung nach Belastung, Schlafstörungen, Mangel an Motivation und Konzentrationsfähigkeit. Damit ähnelt die Post-COVID-Fatigue der neuroimmunologischen Systemerkrankung myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS (s. Schlenger R. Die Welt im Nebel: Spätfolgen von COVID-19: Fatigue-Pandemie befürchtet. DAZ 2020, Nr. 31, S. 24 - 27).
Für die Post-COVID-Fatigue werden zentrale, periphere und psychosoziale Auslöser diskutiert. SARS-CoV-2 kann die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger machen und auf dem Blutweg oder über neuronale Routen das ZNS infizieren. Oft, aber nicht immer, sind periphere proinflammatorische Zytokine erhöht, die dann ebenfalls ins ZNS gelangen. Die resultierende Neuroinflammation und Neurodegeneration kann in unterschiedlichem Ausmaß psychische, psychiatrische und kognitive Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Immunologische Reaktionen werden für einen Hypometabolismus im Frontallappen und im Kleinhirn verantwortlich gemacht, mit negativen Folgen für Antrieb, Gefühlslage und Schlaf. SARS-CoV-2 vermag auch direkt Skelettmuskeln zu infizieren und zu entzündlichen Schäden mit der Folge von Muskelschwäche zu führen. Allerdings führt eine intensivmedizinische Behandlung regelhaft ebenfalls zu einem Abbau neuromuskulärer Funktionen.
„COVID-19 ist nicht immer eine linear verlaufende Krankheit mit einer akuten Phase, die in Erholung oder anhaltende Besserung übergeht.“
Es gibt für die Post-COVID-Fatigue keine einheitliche Therapie. Wegen der deutlichen Überlappung mit ME/CFS können aber dessen symptomorientierte Therapiealgorithmen auch hier angewendet werden. Wichtig ist das Schonen der krankheitsbedingt niedrigen Energieressourcen; Überanstrengung kann die Fatigue schubartig verschlechtern. Das NICE empfiehlt unter anderem dosierte Aktivität (graded exercise therapy, GET) und kognitive Verhaltenstherapie, wobei letztere nicht unumstritten ist. Patientenorganisationen wie die britische Myalgic Encephalomyelitis Association legen den Patienten einen geregelten Tagesablauf, vollwertige Ernährung, vorsichtig dosierte Bewegung und Entspannungsverfahren nahe, zudem den Anschluss an eine Selbsthilfeorganisation. In Deutschland bieten dies unter anderem Fatigatio e. V. (www.fatigatio.de) und die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V. (www.mecfs.de) an. Es gibt Hinweise, dass hochdosierte Vitamin-C-Infusionen durch antiinflammatorische, endothelschützende und immunmodulatorische Effekte die Fatigue-Symptomatik lindern können [2].
Anhaltende Atemnot
Atemnot ist eines der häufigsten Long-COVID-Symptome. Das ONS schätzt die Prävalenz fünf Wochen nach Abklingen von COVID-19 auf 4,6%, wobei die Dyspnoe unabhängig von vorherigen akuten Atembeschwerden auftreten kann. Einzelne Studien haben über 43% Betroffene acht Wochen nach Erkrankungsbeginn gezählt. Die meisten Patienten mit Dyspnoe, sofern sie keine respiratorische Vorerkrankung haben, weisen keine Zeichen einer permanenten Schädigung des Lungengewebes auf. Dennoch sind bei vielen, die das Krankenhaus verlassen, die Alveolar- und Lungenfunktion noch geschwächt. Parameter wie Gasaustausch, Einsekundenkapazität und forcierte Vitalkapazität sind unterschiedlich lange reduziert. Die Mayo Clinic empfiehlt kurzatmigen Post-COVID-Patienten körperliche Anstrengung, extreme Temperaturschwankungen, Rauchen und Luftverschmutzung zu vermeiden. Bei starken Beschwerden könnten Atemschulung und Maßnahmen der pulmonalen Rehabilitation hilfreich sein. Ein systematischer Review fand positive Effekte oraler Opioide auf die Empfindung von Atemnot gleich welcher Ursache [3].
Das Hirn im Nebel
Neben der eher körperbetonten Fatigue-Symptomatik leiden viele COVID-19-Patienten noch lange unter Kopfschmerzen, Kognitions-, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. In der angelsächsischen Literatur ist von Brain Fog die Rede, der dem Chemo Brain bei Patienten unter Chemotherapie ähnele. Kognitiv stärker betroffen sind stets Patienten, die von der Intensivstation kommen. In Studien wurden bei ihnen Kognitionsbeeinträchtigungen wie nach traumatischen Gehirnverletzungen, teils wie bei einer Demenz gefunden. Allerdings führen in der Pandemiesituation Maßnahmen der Quarantäne, Isolation und der sozialen Distanzierung schnell zum geistigen Abbau. Der mangelnde zwischenmenschliche Austausch wird auch für vermehrte Ängstlichkeit und Depression verantwortlich gemacht. Die tendenziell verminderte mentale Gesundheit als Bestandteil des Long-COVID-Syndroms hat also, wie die Fatigue, biologische wie soziale Gründe. Das Management kognitiver Verschlechterung sollte demzufolge einem ganzheitlichen Ansatz folgen, unter anderem mit Stressbewältigungsprogrammen, kognitivem und Sprachtraining. Dies sind Maßnahmen, die die Mayo Clinic beim Chemo Brain empfiehlt. Als Option werden hier auch die Psychostimulanzien Methylphenidat und Modafinil sowie die Antidementiva Donepezil und Memantin genannt [4]. Als neuroprotektive Wirksubstanz, die aufgrund antioxidativer und antiinflammatorischer Effekte die zentrale Neuroinflammation hemmen soll, wird das Polyphenol Luteolin beschrieben. Allerdings fehlen Interventionsstudien.
Cave: Kardiovaskuläre Probleme
MRT-Untersuchungen am Herzen zeigten bei zwei von drei genesenen COVID-19-Patienten Entzündungen des Herzmuskels und erhöhte Troponin-Spiegel noch 71 Tage nach der Diagnose [5]. Sogar bei jungen Leistungssportler fanden sich solche residualen Myokarditiden. Die direkte Infektion des Herzens über die dort zahlreich vorhandenen ACE-2-Rezeptoren führt zu starken entzündlichen Reaktionen, schädigt die Muskelfibrillen, was in der Folge zu Endothelschäden mit erhöhtem Thromboserisiko führt. Arrhythmien und orthostatische Probleme wurden ebenfalls beschrieben. Das Auftreten von Brustschmerz ist vor diesem Hintergrund als Notfall zu werten. Bei einer diagnostizierten Myokarditis sind laut der Deutschen Herzstiftung Sport und starke körperliche Belastungen sechs Monate lang zu vermeiden [6]. Ansonsten drohen Komplikationen bis hin zu Herzinsuffizienz und plötzlichem Herztod. Schont sich der Patient, stehen die Chancen gut, dass die Herzmuskelentzündung folgenlos ausheilt. Bei manchen Long-COVID-Patienten kann eine Medikation mit Betablockern oder Antikoagulanzien angezeigt sein.
Geruchs- und Geschmacksverlust über Wochen
Geruchs- und Geschmacksverlust können die SARS-CoV-2-Infektion von Anfang an begleiten, werden aber laut der britischen Behörde nach fünf Wochen noch bei rund 8% der Infizierten beobachtet, nach anderen Studien noch wesentlich häufiger. Das Virus infiziert nicht neuronale Zellen des Riechkolbens, der Schleimhaut im Mundraum und insbesondere auf der Zunge. Weiterhin kann COVID-19 das Darmmikrobiom verändern und so opportunistische Infektionen begünstigen. Eine Entzündung der Schilddrüse kann eine Hyperthyreose nach sich ziehen.
Wirkstoff/Therapie | Endpunkt/Schwerpunkt | Studienart | clinicaltrials.gov |
---|---|---|---|
hyperbare Sauerstofftherapie | Long-COVID | RCT, Phase II | NCT04842448 |
Montelukast | respiratorische Symptome | RCT | NCT04695704 |
Deupirfenidon | respiratorische Symptome | RCT, Phase II | NCT04652518 |
Strong Lungs Through Song – Long-COVID-19 Study | respiratorische Symptome, Fatigue | offene Interventionsstudie | NCT04810065 |
multifaktorielles Reha-Programm | Fatigue | offene Interventionsstudie bei Krankenhauspersonal in Wien | NCT04841759 |
Nicotinamid-Ribosid (Niagen) | kognitive und körperliche Symptome bei Long-COVID | placebokontrollierte Studie Phase IV | NCT04809974 |
Omni-Biotic Pro Vi 5 (Probiotikum) | Modulation des Darm-Mikrobioms | RCT, Pilotstudie | NCT04813718 |
Leronlimab (CCR5-bindender Antikörper) | Post-COVID-Syndrom (> zwölf Wochen) | RCT, Phase II | NCT04678830 |
Extrakt aus Rhodiola rosea, Schisandra chinensis (Adaptogene) | Long-COVID | RCT, Phase III | NCT04795557 |
Alte und neue Arzneimittel bei Long-COVID
In Studien werden Therapieansätze verfolgt, die auf eine Reduktion der systemischen Entzündung zielen. Kandidaten sind unter anderem der Leukotrienrezeptor-Antagonist Montelukast und Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren, SSRI, und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren, SNRI), die auch periphere Entzündungsmarker senken. Zur Behandlung von respiratorischen Folgeschäden von COVID-19-Patienten wird in klinischen Studien Deupirfenidon (LYT-100) untersucht, ein kleines Molekül mit Wirkung auf Lymphfluss, Inflammation und Fibrose. Gegenstand von Studien sind auch nicht-medikamentöse Ansätze (s. Tab). |
Literatur
[1] Crook H, Raza S, Nowell J et al. Long-COVID-mechanisms, risk factors, and management. BMJ 2021;374:n1648, dx.doi.org/10.1136/bmj.n1648
[2] Vollbracht C, Kraft K et al. Feasibility of vitamin C in the treatment of post viral fatigue with focus on long COVID, based on a systematic review of IV vitamin C on fatigue. Nutrients 2021;13:1154, doi:10.3390/nu13041154
[3] Jennings AL, Davies AN, Higgins JP, Gibbs JS, Broadley KE et al. A systematic review of the use of opioids in the management of dyspnoea. Thorax 2002;57:939-944, doi:10.1136/thorax.57.11.939
[4] Chemo brain. Informationen der Mayo Clinic, www.mayoclinic.org/diseases-conditions/chemo-brain/diagnosis-treatment/drc-20351065
[5] Puntmann VO, Carerj ML, Wieters I et al. Outcomes of cardiovascular magnetic resonance imaging in patients recently recovered from coronavirus disease 2019 (COVID-19). JAMA Cardiol 2020;5:1265-1273, doi:10.1001/jamacardio.2020.3557
[6] Schächinger V. Eine Herzmuskelentzündung erkennen: Welche Symptome deuten auf die Myokarditis hin? Informationen der Deutschen Herzstiftung, www.herzstiftung.de/infos-zu-herzerkrankungen/herzmuskelentzuendung/symptome
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