DAZ aktuell

„Wenn China sich erkältet, muss Indien niesen“

Update zur Gefahr von Arzneimittelverknappungen durch die Coronoavirus-Krise

hb | In den letzten Wochen haben wir an dieser Stelle wiederholt über den Sachstand zum neuartigen Coronavirus (COVID-19) berichtet, der auch die internationale Arzneimittelversorgung bedrohen könnte (siehe u. a. DAZ 2020, Nr. 6, S. 9). Mittlerweile breitet sich das Virus mit rasender Geschwindigkeit weiter aus, während die Lähmung der ­Produktion und der Logistik in China weiter auf den Pharmasektor drückt. Noch scheint die Versorgung mit Wirkstoffen und Arzneimitteln in Europa aktuell nicht gefährdet, aber das könnte sich ändern, wenn die Krise noch ein paar Wochen anhält.
Foto: H_Ko – stock.adobe.com

Weltweit gibt es mehr als 3200 Unternehmen, die pharmazeutische Wirkstoffe (API) herstellen und an dem geschätzten Marktvolumen von 182 Milliarden US-Dollar teilhaben. Die Margen sind gering, und die Hersteller stehen unter enormem Druck. Der weltweite Markt für Wirkstoffe wird bis 2024 schätzungsweise 245,2 Mrd. US-Dollar erreichen, bei einer jährlichen Wachstumsrate von 6,1% im Prognosezeitraum. Viele große Pharmaunternehmen verfügen über eigene API-Fertigungsanlagen und sind vertikal über die gesamte pharmazeutische Lieferkette integriert. Außerdem stellen innovative Unternehmen neuartige Produkte lieber selbst her, um Technologielecks zu verhindern. Zu den Hauptakteuren des Marktes für Wirkstoffe gehören Pfizer, Inc., Novartis AG, Sanofi, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers Squibb, Teva Pharma­ceutical Industries Ltd., Eli Lilly and Company, GlaxoSmithKline plc, Merck & Co., Inc., AbbVie Inc., F. Hoffmann-La Roche Ltd., Lonza Group, AstraZeneca plc, Aurobindo Pharma, BASF SE, Dr. Reddy’s Laboratories Ltd., LUPIN., Mylan N.V., Sun Pharmaceu­tical Industries Ltd, Sandoz International GmbH, usw. (Markets and Markets 2019, Data Bridge 2019).

Versorgung des US-Marktes

Mit 38 Prozent haben die USA den größten Anteil am weltweiten Pharmamarkt. Im August 2019 waren 28% der Produktionsanlagen, die APIs für FDA-regulierte Produkte, (Rx und OTC, Markenarzneimittel und Generika) herstellten, im Land ansässig. Die restlichen 72% der API-Hersteller, die den US-Markt beliefern, befinden sich außerhalb der USA, davon 26% in der Europäischen Union, 18% in Indien und 13% in China. Die Zahl der regis­trierten Einrichtungen, die APIs in China herstellen, hat sich zwischen 2010 und 2019 mehr als verdoppelt. Für alle FDA-regulierten Medikamente verfügen die USA über 510 Produk­tionsstätten, China 230 und 1048 Einrichtungen verteilen sich auf den Rest der Welt.

Wirkstoffherstellung in China ...

Die chinesische pharmazeutische Produktion konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei geografische Regionen: Ostchina, insbesondere Shandong und Jiangsu (östliche Provinzen nördlich des Jangtse-Flusses), und Südchina. In Shandong und Jiangsu gibt es 118 Anlagen, die für den Export in die USA und 71, die für die EU autorisiert sind, wobei die meisten (102) in Jiangsu angesiedelt sind. Die Anlagen in Shandong und Jiangsu befinden sich überwiegend im Besitz chinesischer Pharma­unternehmen. Die nächstgrößte Region ist Zhejiang mit 77 Anlagen. Nach einer GlobalData PharmSource-Analyse verfügt Hubei im Zentrum des anhaltenden Coronavirus-Ausbruchs über die größte Anzahl von Auftragsfertigungsanlagen in den zentralen Provinzen, zu denen auch Hunan und Henan gehören. Hubei ist die Heimat von 42 pharmazeutischen Auftragsfertigungsanlagen. Die meisten stellen kleine Molekül-APIs her.

... und in Indien

Indien beherbergt eine Reihe namhafter Wirkstoff- und Fertigarzneimittelfabrikanten. Zu den Top 5 Wirkstoffherstellern in Indien gehören

  • Aurobindo Pharma (mehr als 200 APIs, darunter Beta-Lactam-Anti­biotika, Penicilline, Cephalosporine und anti-retrovirale Wirkstoffe),
  • Cipla (mehr als 200 generische und komplexe APIs in einem breiten Spektrum von therapeutischen Kategorien),
  • Dr. Reddy’s Laboratories (besondere Expertise für Steroide, Peptide, etc.),
  • Sun Pharmaceutical Industries (mehr als 45 neuartige APIs, Herstellungsbetriebe für Fertigarzneimittel in zahlreichen Ländern),
  • Teva Pharmaceutical Industries (versorgt etwa 1000 Abnehmer in mehr als 100 Ländern mit 300 APIs, die in 19 Produktionsanlagen hergestellt werden).

Trotzdem ist Indien im Hinblick auf pharmazeutische Wirkstoffe (API) essenziell von chinesischen Importen abhängig. In den Jahren 2018/19 importierte Indien fast 68 Prozent seiner Bulk- und Zwischenprodukte aus China.

Tab. 1: Aufteilung des weltweiten Wirkstoffherstellermarktes nach Segmenten
Kriterium
Art des Arzneimittels
Verschreibungspflichtige und OTC
Schutzstatus
Marken-API und generische API
Herstellertyp
Herstellung für eigene Zwecke (captive API manufacturers) Auftragsfertigung (merchant API manufacturers)
Syntheseart
Synthetisch, biotech
Geografie
Nordamerika, Europa, Asien und Rest der Welt (ROW)
Anwendung
Onkologie, Pulmologie, Augenheilkunde, Neurologie, Orthopädie, Endokrinologie, Gastroenterologie, Nephrologie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Schmerztherapie, Atemwegserkrankungen, übertragbare Krankheiten und andere

Quelle: Data Bridge Market Research

Indische Regierung erwägt Exportverbote

Der Satz „Wenn China sich erkältet, muss Indien niesen“ habe sich wieder einmal bewahrheitet, schreibt ein Kommentator in „Business Today“ und meint damit eben diese Abhängigkeit. Derzeit gibt es 60 wichtige APIs, die aus den vom Coronavirus maßgeblich betroffenen Gebieten nach Indien geliefert werden. Als essenziell werden unter anderem Ambroxol, verschie­dene Aminosäuren, Amoxicillin, Azithromycin, Biotin, Calciumbutyrat, Calciumpantothenat, Ibuprofen, Ciprofloxacin, Florfenicol, Ofloxacin, Paracetamol, Marbofloxacin und diverse Vitamine angeführt. Die Preise mehrerer kritischer Arzneimittel wie Nimesulid, Paracetamol und Azithromycin sollen wegen der Befürchtung einer möglichen Unterversorgung bereits um satte 167%, 72% bzw. 44% gestiegen sein. Derzeit sollen die in­dischen Arzneimittelhersteller zwar noch ein Inventar für ein paar Monate besitzen, aber wenn die Situation noch einige Zeit anhält, werden große Versorgungsschwierigkeiten erwartet. Die indische Regierung hat deshalb vor, den Export von zwölf lebenswichtigen Arzneimitteln vorübergehend zu verbieten, darunter Chloramphenicol, Neomycin, Metronidazol, Azithromycin, Vitamin B1, B2 und B6 und Hor­mone wie Progesteron, weil diese angeblich von den Lieferungen von Hubei abhängen.

Foto: imago images/Xinhua

Mehr als 500 Wanderarbeiter sind am vergangenen Sonntag vom Nordbahnhof der südwestchinesischen Gemeinde Chongqing aus nach Shaoxing in der Provinz Zhejiang aufgebrochen, um die Arbeit im dortigen Produktionsgewerbe zu unterstützen.

Deutschland größter API-Markt in Europa

Nach Angaben der European Fine Chemicals Group (EFCG) halten asiatische Anbieter derzeit den Löwenanteil des API-Marktes in Europa (63%) während europäische Lieferanten den US-amerikanischen und japanischen Markt dominieren. Die EFCG spricht von 350 API-Herstellern in Europa, wobei Italien und Spanien als wichtigste Hersteller generischer Wirkstoffe genannt werden. Nach einer Studie von Market Research Future ist Deutschland in Europa der größte API-Markt, gefolgt von Frankreich und Großbritannien.

Immer wieder Qualitätsmängel

China und Indien, die größten Hersteller von APIs für die US-Arzneimittelversorgung, sind auch die Zielscheibe für die meisten Regulierungsmaßnahmen wegen Qualitätsproblemen. Von den 75 Warnschreiben, die die FDA seit Anfang 2018 verschickte, richteten sich 37 an Anbieter in Indien oder China. Im gleichen Zeitraum veröffentlichte die Europäische Arzneimittel-Agentur 22 Non-Compliance-Mitteilungen, von denen 14, das heißt fast zwei Drittel in diese beiden Länder gingen.

Nun könnte sich die Kontrollsituation in China noch weiter verschärfen, denn die USA haben ihre Inspektionen im Reich der Mitte zum Schutz der FDA-Mitarbeiter vorläufig auf Eis gelegt.

Verschärfte Umwelt­bestimmungen in China

Es ist nicht das erste Mal, dass Produktionsausfälle in China für ein kleines „Erdbeben“ im globalen Wirkstoffmarkt sorgen. Konkreter Anlass war vor einigen Jahren der Kurswechsel der chinesischen Politik in Richtung einer umweltfreundlicheren Pharmaproduktion. Seit 2017 durchkämmten ganze Armadas von Regierungsinspektoren in systematischen Kampagnen Areale mit chemischen Herstellungsbetrieben. Im Ergebnis wurden fast 40% der chinesischen Fabriken in 30 industriellen Provinzen dichtgemacht, darunter auch Fabrikationsanlagen für Arzneimittelwirkstoffe.

Allein in der Region Peking-Tianjin-Hebei und Umgebung mussten im November 2017 nach Presseberichten 144 API-Hersteller schließen, zusätzlich zu Rohstoffherstellern, von denen sie beliefert wurden. Pharmahersteller wurden also zusätzlich von einer breiten Palette von Chemikalien abgeschnitten. Die zahlreichen Schließungen von Fertigungsstätten sollen sich in der Folge in der EU in Form von Arzneimittelverknappungen nieder­geschlagen haben.

Die meisten westlichen Pharmaunternehmen sollen das rigorose Vorgehen der chinesischen Regierung seinerzeit begrüßt haben. Schließlich besserte sich die Qualität der Herstellerlandschaft damit insgesamt, und durch die unweigerlichen Preissteigerungen der chinesischen Anbieter sollte sich auch die internationale Wettbewerbssitua­tion gegenüber China entschärfen, so die Erwartung. Insider prognostizierten, dass das neue Inspektionsregime die Migration von Unternehmen zurück in den Westen beschleunigen könnte, wobei vorübergehende Ein­brüche als unausweichlich angesehen wurden.

Wird in China wieder produziert?

Aktuell sollen die Verhältnisse vor allem in der betroffenen Region desaströs sein, weil in den Betrieben die Produktion nur zögerlich wieder hochgefahren wird und die Transportwege blockiert sind. Der Präsident der EU-Handelskammer in China Jörg Wuttke soll vor Journalisten von einem „logistischen Albtraum“ gesprochen haben. Waren könnten nicht an den Kunden und auch nicht an den Verbraucher gebracht werden. Besonders kleine und mittelständische Unternehmen sollen von der Krise schwer betroffen sein. Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland für Außenwirtschaft und Standortmarketing Germany Trade & Invest berichtet, dass die Gesundheitskrise ein „gewisses administratives Chaos“ ausgelöst habe. Jede Lokal­regierung verfolge andere Regeln und Standards für die Wiederaufnahme der Produktion. Der größte Engpass liege jedoch bei den Arbeitskräften. Die Fabriken arbeiteten mit nur 10 bis 80% des üblichen Personal­bestands. Logistische Probleme erschwerten die Lage zusätzlich.

Europäische Behörden sind wachsam

Bereits im Laufe des letzten Jahres haben die europäischen Wirkstoffhersteller, vertreten durch die EFCG, und die US-amerikanischen Hersteller, die durch die Bulk Pharmaceuticals Task Force (BPTF) repräsentiert werden, die Regulierungsbehörden vor einer Verschärfung des Arzneimittelmangels gewarnt. Da war der Coronavirus-Ausbruch noch gar nicht in Sicht. Mittlerweile scheinen sich auch die EU-Gesundheitsminister des Ernstes der Lage bewusst zu sein. Bei einem Sondertreffen des Rates vor zehn Tagen in Brüssel hieß es, dass die Europäische Arzneimittelagentur sich bereits mit möglichen Versorgungsengpässen befasst habe und dass bisher keine Engpässe gemeldet worden seien. Es seien jedoch Netzwerke für eine schnelle Reaktion geschaffen worden und die Europäischen Gesundheitsbehörden überwachten die Bestände eng­maschig.

Warum es so schwer ist, Transparenz zu schaffen

Leider kann aktuell weiterhin nicht abgeschätzt werden, wie viele und welche Arzneimittel aufgrund des Stillstandes der Produktion in China und der möglichen Folgen für die weltweite Produktion von Fertigarzneimitteln tatsächlich von Lieferengpässen bedroht sein könnten. Im Rahmen der arzneimittelrechtlichen Zulassung müssen die Pharmaunternehmen lediglich angeben, von welchen Herstellern sie ihre Wirkstoffe beziehen. Das können durchaus mehrere sein. In die tatsächliche Beschaffung haben die Behörden keinen Einblick, das heißt, sie wissen nicht, welche Anteile am Arzneimittelmarkt aktuell oder in nächster Zeit konkret von welchen Wirkstoffherstellern kommen und ob es dort Probleme gibt. Dies erfahren sie nur von den Zulassungsinhabern. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte versucht über eine Abfrage bei den Pharmaunternehmen Licht ins Dunkel zu bringen, um mögliche Verknappungen und die mögliche Zeitperspektive dafür abschätzen zu können. Im Moment gibt es dafür aber noch keine belastbare Datenlage. Zahlen zu Wirkstoffher­stellorten mit Sitz im Einzugsgebiet der Stadt Wuhan, die in Arzneimittelzulassungen angezeigt wurden, erfüllen bis dato deshalb nur eine gewisse Hinweisfunktion. Ähnliches gilt für die Zahlen, die das Europäische Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln (EDQM) Ende letzter Woche zu den CEP-(Certificate of Suitability of Monographs of the European Pharma­copoeia)-Inhabern in China und spe­ziell im Epizentrum des Ausbruchs Wuhan und der Provinz Hubei mit­geteilt hat (DAZ 2020, Nr. 8, Seite 16). Darüber hinaus liegen in beiden Fällen noch keine Informationen zu konkreten Substanzen vor.

Foto: imago images/Independent Photo Agency Int.

Corona in Codogno – Italien wird seit vergangener Woche von einem Covid-19-Ausbruch überraschenden Ausmaßes erfasst. Während in der Provinz Lodi in der italienischen Region Lombardei Ladengeschäfte, Restaurants, Bars und sogar Kirchen geschlossen bleiben, hält ein Apothekenteam in der Kleinstadt Codogno die Stellung und versorgt weiterhin die Bevölkerung.

Wie groß ist die Gefahr von Engpässen?

Auch die Pharmaverbände halten sich bedeckt, wahrscheinlich, weil sie ebenfalls keine näheren Informationen zur Beschaffungslage bei den Unternehmen haben. Nach einer Stellungnahme des Europäischen Dachverbandes der Generikahersteller (Medicines for Europe) vom 18. Februar 2020 gibt es in den Regionen, die am stärksten von dem Virusausbruch betroffen sind, mehrere hundert Fabriken für Ausgangsstoffe, Zwischen­materialien und pharmazeutische Wirkstoffe. Aktuell wird das Risiko von Verknappungen für die Produktion oder die Versorgung in Europa noch als „begrenzt“ angesehen. Dies liege daran, dass Unternehmen in der Regel bestimmte Lagerbestände in Europa für ihre Produktionsnetzwerke unterhalten. Eine längere Stilllegung der chinesischen Produktion oder eine Blockierung von Exporten würde sich aber sicherlich auf die weltweite Pharmaproduktion auswirken und wahrscheinlich die globalen Herstellungskosten wesentlich beeinflussen, glaubt der Generikaverband. „Derzeit ist es nicht möglich, die spezifischen Risiken zu bewerten, die durch die vorübergehende Unterbrechung der Lieferungen aus den betroffenen Gebieten in China verursacht werden“, schreibt der Verband, wohl wissend, dass China bei Weitem der führende Anbieter von API für bestimmte Schmerzmittel oder Antiinfektiva sein soll.

Die Einschätzung von Medicines for Europe deckt sich mit internationalen Presseberichten, vor allem aus den USA und Indien. Auch dort gehen Behördenvertreter und Brancheninsider insgesamt noch nicht von einer aktuellen Bedrohung für die Arzneimittelversorgung aus. Das könnte sich jedoch über kurz oder lang ändern, warnen Experten, sollte sich die Epidemie zu einer globalen Pandemie entwickeln und die Produktions- und Transportstörungen noch einige Wochen oder Monate andauern. Verschiedentlich wird davor gewarnt, Arzneimittel zu horten, weil dies die Situation nur noch schlimmer machen würde. Die Warnung richtet sich auch an Apotheken und Großhändler. |

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