Pandemie Spezial

Das Impfstoffrennen

42 COVID-19-Impfstoffe in klinischer Erprobung, zehn in Phase III

Aktuell haben zehn Impfstoffkandidaten gegen das neuartige Corona-Virus die Eintrittshürde für die Phase III der klinischen Prüfung genommen. Mit abschließenden Studienergebnissen ist in absehbarer Zeit aber noch nicht zu rechnen. Im August hat Russland den weltweit ersten COVID-19-Impfstoff registriert, offensichtlich ohne ausreichende Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit. In Europa sollen diesbezüglich keine Abstriche gemacht werden. Es wird jedoch versucht, das Forschungs- und Zulassungsprozedere so gut wie möglich zu ökonomisieren.  |  Von Helga Blasius

Nach der aktuellen „Draft landscape of COVID-19 candidate vaccines“ der WHO vom 2. Oktober 2020 hat die Zahl der COVID-19-Impfstoffkandidaten, die in der klinischen Erprobung angekommen sind, weiter zugenommen. Mittlerweile sind es 42, davon zehn in Phase III (Tab. 1). Es handelt sich dabei um vier Vektor-Impfstoffe, drei, die auf dem inaktivierten Virus beruhen, zwei RNA-Impfstoffe und einen Protein-Impfstoff. Für die Phase II werden zwei Kandidaten gelistet, darunter eine unbenannte rekombinante Protein-basierte Vakzine von Anhui Zhifei Longcom Biopharmaceutical/Institute of Microbiology of the Chinese Academy of Sciences (NCT04466085) und der mRNA-Kandidat von Curevac (NCT04515147). Elf weitere befinden sich in Phase I/II, 19 in Phase I und 151 in der präklinischen Entwicklung.

RNA-Vakzine von Curevac in Phase II

Curevac, das nach Biontech als zweites deutsches Unternehmen die Genehmigung für eine COVID-19-Impfstoffstudie erhalten hatte, ist gerade in die Phase II der Prüfung seines RNA-Impfstoffkandidaten eingetreten. Die Dosisbestätigungsstudie mit dem Titel CV-NCOV-002 (NCT04515147) soll in zwei verschiedenen Gruppen insgesamt 690 gesunde Teilnehmer einschließen. Erste umfassende Daten der Phase IIa bei älteren Erwachsenen werden laut Curevac im vierten Quartal 2020 erwartet. Auf dieser Basis soll dann der Start einer Phase-IIb/III-Studie vorbereitet werden, der ebenfalls bereits für das vierte Quartal 2020 geplant ist.

Tab. 1: Studien mit COVID-19-Impfstoffkandidaten in Phase III der klinischen Erprobung
Entwickler / Hersteller
Name des Kandidaten
Anzahl der Dosen und Impfregime
Phase-III-Studien
Studienende
Inaktiviertes Virus
Sinovac
CoronaVac
2 , Tag 0 und 14
NCT04456595 669/UN6.KEP/EC/2020 (PROFISCOV)
Oktober 2021
Wuhan Institute of Biological Products/Sinopharm
unbenannt
2, Tag 0 und 21
ChiCTR2000034780
15. Juli 2021
Beijing Institute of Biological Products/Sinopharm
unbenannt
2, Tag 0 und 21
NCT04560881
1. Dezember 2021
nicht-replizierender viraler Vektor
University of Oxford/AstraZeneca
AZD1222, ChAdOx1-S
1
ISRCTN89951424
NCT04516746
NCT04540393
CTRI/2020/08/027170
31. Oktober 2020
5. Oktober 2022
5. März 2021
Keine Angabe
CanSino Biological Inc./Beijing Institute of Biotechnology
Ad5-nCoV
1
NCT04526990
NCT04540419
30. Januar 2022
31. Juli 2021
Gamaleya Research Institute
Sputnik V
2, Tag 0 und 21
NCT04530396 (RESIST)
NCT04564716
1. Mai 2021
10. April 2021
Janssen Pharmaceutical Companies
JNJ-78436735, vorher Ad26.COV2-S
2, Tag 0 und 56
NCT04505722 (ENSEMBLE)
10. März 2023
Protein-basiert
Novavax
NVX-CoV2373
2, Tag 0 und 21
2020-004123-16
Keine Angabe
RNA
Moderna/NIAID
mRNA-1273
2, Tag 0 und 21
NCT04470427
27. Oktober 2022
BioNTech/Fosun Pharma/Pfizer
BNT162
2, Tag 0 und 28
NCT04368728
11. Dezember 2022

Überstürzte Zulassung von Sputnik V

Am 11. August 2020 hat Russland den weltweit ersten COVID-19-Impfstoff mit Namen Sputnik V (Gam-COVID-Vac bzw. Gam-COVID-Vac Lyo) zugelassen, einen viralen Vektorimpfstoff, der auf dem humanen Adenovirus basiert und mit dem Spike-Protein von SARS-CoV-2 fusioniert ist. Verschiedenen Berichten in dem US-Fachportal „TrialSiteNews“ zufolge müsste der Gamaleya-Impfstoff den gesamten kli­nischen Forschungsprozess in nur zwei Monaten durchlaufen haben. In der Datenbank ClinicalTrials.gov fanden sich bis dahin lediglich zwei kleinere offene Phase-I/II-Studien unter Betei­ligung von jeweils 38 gesunden Freiwilligen (NCT04437875 und NCT04436471). Die Phase III, die in der Regel die Erprobung an Tausenden Freiwilligen beinhaltet, war offensichtlich übersprungen worden. Der Einsatz des Impfstoffs in großem Umfang soll laut Eintrag in dem Registrierungszertifikat erst ab dem 1. Januar 2021 möglich sein. Trotzdem soll er schon im Oktober in die Massenproduktion gehen. Mittlerweile wurden die Daten aus den nicht-randomisierten Phase I/II-Studien in der Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht, und es wurde eine umfangreiche Phase-III-Studie gestartet (Tab. 1 und 2). In einem offenen Brief äußern rund 40 internationale Wissenschaftler allerdings erhebliche Zweifel an den Studienergebnissen der Phase I/II.

Tab. 2: Anzahl der Teilnehmer an den derzeit größten COVID-19-Impfstoffstudien
Name des Kandidaten
Studiencode
geplante Teilnehmerzahl
unbenannt
ChiCTR2000034780
15.000
AZD1222,
ChAdOx1-S
NCT04516746
30.000
Ad5-nCoV
NCT04526990
40.000
Sputnik V
NCT04530396 (RESIST)
40.000
JNJ-78436735, vorher Ad26.COV2-S
NCT04505722 (ENSEMBLE)
60.000
mRNA-1273
NCT04470427
30.000
BNT162
NCT04368728
44.000

Wird es weitere Notfallzulassungen geben?

Angesichts dessen, dass sich die Suche nach einem Impfstoff gegen COVID-19 allmählich zu einem geopolitischen Machtkampf auszuwachsen scheint, mehrten sich in letzter Zeit die Befürchtungen, dass auch andere Länder wie die USA, China und Indien Russlands Beispiel folgen könnten. So besteht die Besorgnis, dass US-Präsident Donald Trump unter dem Wahlkampf-Druck ähnlich überstürzt nachziehen könnte. Die chinesische National Medicinal Products Administration (NMPA) hatte die bisherigen Studienergebnisse zu den heimischen Impfstoffkandidaten Mitte September als „zufriedenstellend“ bewertet und angekündigt, dass es für die Allgemeinbevölkerung schon im November oder Dezember eine COVID-19-Impfung geben könnte. Im Vorgriff auf die finalen Ergebnisse haben die chinesischen Behörden bereits drei COVID-19-Impfstoffe für den Notfalleinsatz von Gruppen mit höherem Infektionsrisiko zugelassen. In Indien hatte die Regierung in der ersten Juli-Woche die ersten Genehmigungen für klinische Prüfungen mit COVID-19-Impfstoffen aus der indischen Entwicklung erteilt. Die Kandidaten Covaxin und ZyCov-D stammen von den Firmen Bharat Biotech und Zydus Cadila, aktuell laut WHO-Tracker beide in Phase I/II der klinischen Erprobung. Bereits Mitte August sollte der erste Impfstoff verfügbar sein, was in der wissenschaftlichen Gemeinschaft seinerzeit einige Verwunderung ausgelöst hat.

Studienphasen kombinieren und keine Zeit verlieren

Weltweit bemühen sich die Arzneimittelbehörden darum, die Entwicklung und Zulassung von Impfstoffen zu beschleunigen, ohne dabei Kompromisse bei der Sicherheit einzugehen. Eine neuere Publikation eines Autorenteams aus dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) von Ende September 2020 im Deutschen Ärzteblatt (Wagner et al. 2020) beschreibt, wie die Balance zwischen möglichen regulatorischen Vereinfachungen und unabdingbaren wissenschaftlichen Anforderungen gefunden werden soll. Es wird betont, dass die klinische Entwicklung der verschiedenen COVID-19-Impfstoffe alle Phasen der üblichen Impfstoffentwicklung durchlaufen muss. Zur Beschleunigung werden jedoch verschiedene Phasen, etwa die Untersuchungen zur Verträglichkeit und zur optimalen Dosierung bei Erwachsenen und Älteren, nicht wie üblicherweise nacheinander durchgeführt, sondern miteinander kombiniert. Weiterhin werden nachfolgende Studien unmittelbar nach Vorliegen von Studienergebnissen aus vorhergehenden Studien begonnen.

Rolling Review zu AZD1222 und BNT162b2 gestartet

Um den Zulassungsprozess zu beschleunigen, können die Studienergebnisse für COVID-19-Impfstoffe schon vor der Einreichung eines formellen Zulassungsantrags in einem „Rolling Review“ bewertet werden, womit die Bewertungszeiträume verkürzt werden. Anfang Oktober hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) erstmals ein Rolling-Review-Verfahren zur Überprüfung eines COVID-19-Impfstoffs begonnen, und zwar von AZD1222 (AstraZeneca/Universitat Oxford). Am Dienstag dieser Woche hat die EMA mitgeteilt, dass nun auch eine fortlaufende Überprüfung des BioNTech/Pfizer-Impfstoffkandidaten BNT162b2 gestartet worden sei. Basis für die Entscheidung waren in beiden Fällen die vorläufigen Ergebnisse aus präklinischen und frühen klinischen Studien. Sowohl mit AZD1222 als auch mit BNT162b2 laufen derzeit groß angelegte Phase-III-Studien mit mehreren Tausend Menschen (Tab. 2). Am 6. September 2020 war eine Studie mit dem Corona-Vektor-Impfstoff AZD1222 in Großbritannien kurzfristig gestoppt worden, weil bei einem Probanden der Verumgruppe nach der Impfung neuroimmunologische Komplikationen aufgetreten waren. Nach der Prüfung der Sachlage gab die britische Arzneimittelbehörde MHRA grünes Licht, und die Studie durfte schon wenige Tage später fortgesetzt werden.

Geht es auch ohne Piks?

Foto: sergio51143 – stock.adobe.com

Bei fast allen derzeit erprobten SARS-CoV-2 Impfstoff-Technologien wird die Vakzine in den Muskel des Patienten injiziert, aber auch andere Verabreichungswege kommen durchaus infrage.

  • Eine Forschergruppe von der Universität Zürich verfolgt das Prinzip der Schluckimpfung. Die Vakzine beinhaltet die Sporen von gentechnisch veränderten Bakterien der Spezies Bacillus subtilis, die in ihrer DNA die genetische Information für das Hüllprotein von SARS-CoV-2 tragen. Nach dem Schlucken und der Magenpassage bilden sie anschließend im Dünndarm wieder teilbare Zellen, die sich als bakterieller Film auf die Schleimhaut legen sollen. Die erzeugten Virusproteine von SARS-CoV-2 stellen Antigene dar, die die Bildung von Antikörpern und T-Gedächtnishelferzellen aktivieren sollen.
  • Forscher vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam nehmen die Haut als Applikationsort ins Visier, und zwar konkret die Langerhans Zellen, die nur wenige Mikrometer unter der Hautoberfläche liegen. Als professionelle, antigen-präsentierende Zellen erkennen sie Erreger und nehmen sie auf, um so eine Immunantwort auszulösen. Den Potsdamer Forschern ist es gelungen, einen synthetischen, zuckerähnlichen Liganden zu entwickeln, der spezifisch an das Protein Langerin, einen spezifischen Rezeptor auf der Oberfläche von Langerhans Zellen bindet. Die liposomalen Partikel legten den Grundstein für eine allgemein anwendbare Plattform für zukünftige Entwicklungen neuartiger Impfstoffe, das Langerhans cell targeted delivery system (LC-TDS). Über die Anpassung der bestehenden Plattform wollen die Wissenschaftler nun ein Impfverfahren für SARS-CoV-2 ableiten, das schnell verfügbar gemacht werden kann. Die Impfstoffe könnten damit direkt auf die Haut aufgetragen oder mit Mikronadeln injiziert werden (doi: 10.1021/acs.biochem.9b00402).
  • Laut einem neuen Bericht in Globaldata hat die China National Medical Products Administration soeben eine klinische Phase-I-Studie zum Test eines intranasalen COVID-19-Impfstoffsprays genehmigt. Die Vakzine wird von Beijing Wantai Biological Pharmacy Enterprise mit Forschern von der Xiamen University und der Hong Kong University gemeinsam entwickelt. Das Spray, das geschwächte Grippeviren wie H1N1, H3N2 und B mit genetischen Segmenten des Spike (S)-Proteins von COVID-19 beinhaltet, imitiert die Infektion von Atemwegsviren und stimuliert die Immunantwort. Die klinische Phase-I-Studie wird voraussichtlich im November 2020 beginnen, 100 Patienten einschreiben und mindestens ein Jahr in Anspruch nehmen.

Allianzen zu Forschung und Impfstoff-Beschaffung

Die Pandemie hat beispiellose öffentlich-private Partnerschaften geschaffen, so zum Beispiel die Operation Warp Speed (OWS), eine Zusammenarbeit mehrerer US-Bundesministerien mit dem Privatsektor. Innerhalb von OWS haben sich die US National Institutes of Health (NIH) mit mehr als 18 biopharmazeutischen Unternehmen in „ACTIV“ zusammengetan, um die Entwicklung von Arzneimittel- und Impfstoffkandidaten für COVID-19 zu beschleunigen. Daneben wurde das COVID-19 Prevention Trials Network (COVPN) gegründet. Es kombiniert klinische Studiennetzwerke, die vom National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) finanziert werden.

Die COVAX-Fazilität unter Federführung der Impfstoff-Allianz Gavi, der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) und der WHO will die Entwicklung und Herstellung von COVID-19-Impfstoffen beschleunigen und für einen weltweit fairen Zugang sorgen. Sie wurde Ende April 2020 ins Leben gerufen und ist die Impfstoff-Säule des „Access to COVID-19 Tools (ACT) Accelerators“ der WHO. An COVAX sind UN-Angaben zufolge bereits mehr als 150 Lander beteiligt. Die Europäische Kommission unterstützt COVAX im Rahmen des „Team Europa“ mit einem Haftungsbeitrag von 400 Mio. Euro. Derzeit sind die CEPI-Kandidaten der Unternehmen Inovio, Moderna, CureVac, Institut Pasteur/Merck/Themis, AstraZeneca/University of Oxford, Novavax, University of Hong Kong, Clover Biopharmaceuticals und University of Queensland/CSL Teil der COVAX-Initiative. Mit im Boot ist auch die Impfallianz Gavi.

Gemeinsame Beschaffung in der EU

Während der Run auf die ersten potenziell verfügbaren Corona-Impfstoffe längst im Gange ist, setzt die EU auf eine gemeinsame Beschaffung für die Union. Bisher hat die Europäische Kommission zwei Verträge zum Kauf von Impfstoffen ermöglicht, sobald sich diese als sicher und effizient erwiesen haben, einen mit AstraZeneca und den anderen mit Sanofi-GSK. Darüber hinaus gab es erfolgreiche Sondierungsgespräche mit Johnson & Johnson am 13. August, Curevac am 18. August, Moderna am 24. August und BioNTech am 9. September 2020.

Erwartungen nicht zu hoch schrauben

Zwei Wissenschaftler aus Hong Kong versuchen im Lancet, die Erwartungen an COVID-19-Impfstoffe der ersten Generation zu dämpfen (doi: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)31976-0). Die Vorstellung, dass diese eine Rückkehr zur „Normalität“ vor COVID-19 ermöglichen werden, könne auf illusorischen Annahmen beruhen, schreiben sie. Ungeachtet aller Vorbehalte würden die Impfstoffe jedoch trotzdem benötigt, auch wenn sie nur minimale Auswirkungen auf die Übertragung hätten. Entscheidend sei, den politischen Entscheidungsträgern und der breiten Öffentlichkeit mitzuteilen, dass Impfstoffe der ersten Generation nur ein Instrument der allgemeinen Reaktion der öffentlichen Gesundheit auf COVID-19 sind und wahrscheinlich nicht die ultimative Lösung, die viele erwarten. |

Autorin

Dr. Helga Blasius ist Fachapothekerin für Arzneimittelinformation, Dipl.-Übersetzerin (Japanisch, Koreanisch) und regelmäßige Autorin der DAZ.

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