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30 Jahre Mauerfall
Ist das Kapitel der Wiedervereinigung tatsächlich abgeschlossen?
Die Wende aus Sicht der Apothekengewerkschaft
1989 war der „Bundesverband der Angestellten in Apotheken“ (BVA – so der Name von ADEXA bis 2004) seit 35 Jahren in Westdeutschland aktiv. In diesem Jahr setzt der BVA als eine der ersten Gewerkschaften die 38,5-Stunden-Woche für die westdeutschen Apothekenangestellten durch und erzielt in den Tarifverhandlungen eine Erhöhung der jährlichen Sonderzahlung auf 100 Prozent des tariflichen Monatsgehalts. Das „Gesundheitsreformgesetz“ (GRG) von Minister Norbert Blüm (CDU), die Geburtsstunde der Festbeträge, bringt den Apotheken in Westdeutschland noch keine solch spürbaren Einschnitte wie die Reformgesetze der nächsten Jahrzehnte.
Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und dem anschließenden Prozess der Wiedervereinigung treffen zwei sehr unterschiedliche Apothekensysteme aufeinander. Gerade weil sich das westdeutsche System weitestgehend durchgesetzt hat, ist zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen in der DDR interessant.
Ausgangslage in der DDR
Im Apothekenbereich waren in der DDR rund 90 Prozent der Beschäftigten weiblich. Je nach Berufsbild gab es gewisse Unterschiede: Bei den Approbierten betrug der Anteil etwa drei Viertel, Pharmazie-Ingenieure (PI) und Apothekenfacharbeiter waren ganz überwiegend Frauen. Ähnlich wie im Westen nahm allerdings der Frauenanteil „nach oben“ ab: Bei den Apothekenleitern waren es noch knapp 70 Prozent, die Direktorenposten in den Pharmazeutischen Zentren waren bis auf wenige Ausnahmen in Männerhand (Beisswanger et al., 2001).
Die Gehälter waren genau festgelegt: Approbierte verdienten rund 2000 Mark (zum Vergleich: das DDR-Durchschnittsgehalt betrug etwa 1000 Mark). Sie waren damit vergleichsweise sehr gut bezahlt – gerade auch für einen Frauenberuf! Allerdings fand die Apothekerausbildung auch auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau statt. Die meist männliche Leitung eines Pharmazeutischen Zentrums erhielt ca. 3000 Mark. PI bekamen etwa 1000 Mark und Apothekenfacharbeiterinnen ca. 700 Mark im Monat (Beisswanger et al., 2001).
1989 befanden sich von rund 2000 Ost-Apotheken nur 24 Prozent in Privatbesitz. Nach der Wende wurden die Apothekenleiterinnen und -leiter in der Regel zu Inhaberinnen bzw. Inhaber. Im Gegensatz zu anderen Branchen wurden nur sehr wenige Apothekenangestellte arbeitslos (Beisswanger et al., 2001).
Margit Hartmann, die langjährige Berliner BVA-Landesvorsitzende, erinnert sich 2004 in der Mitgliederzeitschrift „Spektrum“: „Bei uns waren alle Apotheken in Berlin-Mitte ein Betrieb. Sie unterstanden einem Direktor. Die Apothekenleiter waren etwas Ähnliches wie Abteilungsleiter. Wir wussten natürlich, dass Veränderungen kommen. Aber das schon innerhalb der nächsten Monate die Apothekenleiter ihre Apotheken kaufen durften, war für uns eine große Umstellung.“
1990er-Jahre: Zusammenwachsen
1989, im Jahr der Wende, beginnt die Ära von Magdalene Linz als Bundesvorsitzender des BVA. Sie sorgt für eine Professionalisierung, ohne die die Umbrüche der Wendezeit kaum zu bewältigen gewesen wären. Denn durch die Wiedervereinigung verdoppelte sich die Mitgliederzahl fast schlagartig. Neue Berufsgruppen wie die Pharmazie-Ingenieure werden integriert und Anfang der 90er-Jahre fünf neue Landesgruppen gebildet. So entsteht durch Kontakte von Linz schon 1990 aus dem kurz vorher gegründeten „Berufsverband der mittleren pharmazeutischen Berufe Thüringen e. V.“ die BVA-Landesgruppe Thüringen.
Neben Linz war auch die frühere BVA-Bundesvorsitzende Irmgard Engelke besonders aktiv. 2014 erinnert sich die ehemalige PTAheute-Chefredakteurin Reinhild Berger daran, wie Engelke „ihren beruflichen Ruhestand sausen ließ und keine Ruhe gab, bevor sie nicht alle neuen Bundesländer bereist und ausgiebig, kompetent und überzeugend die Werbetrommel für den BVA gerührt hatte. DAZ und PTAheute berichteten regelmäßig auf den BVA-Infoseiten, Aufmerksamkeit war garantiert.“
Und 2015, zum 25-jährigen Jubiläum der ADEXA-Landesgruppe Sachsen, erzählt deren langjährige Vorsitzende, Annerose Berndt: „Das gesamte Personal in den DDR-Apotheken war im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) organisiert, dem Dachverband der 16 Einzelgewerkschaften der DDR. Die Interessen der Angestellten im Gesundheitswesen waren im FDGB so gut wie gar nicht vertreten worden, aber das war ja nun vorbei. 1990 gab es eine aktive Gruppe, die als Interessenverband der Angestellten (IVA) in Apotheken bereits Kontakte zum damaligen BVA hergestellt hatte.“ So fanden sich im September 1990 etwa 110 Angestellte aus sächsischen Apotheken in einem kleinen Hörsaal der Universität Leipzig zusammen, um die BVA-Landesgruppe Sachsen zu gründen und den ersten Landesvorstand zu wählen.
Berndt: „Wir setzten große Erwartungen in den BVA – und innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich die Landesgruppe Sachsen zur größten BVA-Landesgruppe in Deutschland.“ Die Erwartungen richteten sich nicht nur auf eine tarifliche Vertretung, sondern auch auf die arbeitsrechtliche Beratung und die Interessenvertretung der verschiedenen Berufsgruppen. So wurden die Pharmazie-Ingenieure in die Apothekenbetriebsordnung als pharmazeutischer Beruf mit aufgenommen und den Apothekerassistenten gleichgestellt. Und die Apothekenassistentinnen durften aufgrund des Engagements des BVA wieder ohne Gegenzeichnung des Apothekers arbeiten.
Tarifliche Angleichung erst 2007 vollendet
Allen BVA-Aktiven, im Westen wie im Osten, wird in der Zeit der Wiedervereinigung viel Einsatz abverlangt. Erste Tarifverträge werden abgeschlossen, die die neuen Apothekenberufe aus der DDR-Zeit integrieren. Das Tarifniveau liegt zunächst bei 60 Prozent des Westens, steigert sich aber innerhalb weniger Jahre beträchtlich. Die vollständige Angleichung des Rahmentarifvertrages erfolgt 1997, zu Dezember 1998 werden auch die Gehälter auf 100 Prozent angeglichen – allerdings mit Ausnahme der PI! Sie wurden 1995 auf Initiative der sächsischen Apothekenleiter vom allgemeinen Gehaltsniveau abgekoppelt. Doch auch dieser Kompromiss, den der BVA „zähneknirschend“ eingeht, hält die Sachsen nicht in der Tarifgemeinschaft der Apothekenleiter. Zu Ende 1996 wird der Austritt der sächsischen Arbeitgeber aus dem ADA vollzogen.
Die Tarifverhandlungen der 90er-Jahre sind durch ein heftiges Auf und Ab gekennzeichnet. Waren Anfang des Jahrzehnts noch Gehaltsteigerungen von fünf bis sechs Prozent möglich, folgten mit der langen Reihe der Gesundheitsreformen auch mehrere Nullrunden und niedrige Abschlüsse nach zähen Verhandlungen, so ein Rückblick von ADEXA-Vertreterinnen.
In der ADEXA-Tarifkommission sind die ostdeutschen Landesgruppen und die wichtigsten Apothekenberufe der DDR-Zeit natürlich auch vertreten – lange Zeit durch Antje Hoch, PI aus Berlin, sowie Birgit Engelmann, PI aus Leipzig, die auch der aktuellen Tarifkommission angehört.
Ab 2007 gelten dann mit der Angleichung der PI-Gehälter in Ost und West für alle Berufsgruppen in Apotheken die gleichen Tarife.
Für Sachsen werden immer wieder Vorstöße unternommen, den tariflosen Zustand zu beenden. So wird um die Jahrtausendwende die Verhandlung um einen Tarifvertrag mit einem Modell zur Honorierung von Fortbildungen erfolglos abgebrochen. Erst 2016 kommt es zu einer Wiederannäherung von SAV und ADEXA, die im Herbst 2019 zu einer ersten Runde für die Erarbeitung eines neuen Rahmen- und Gehaltstarifvertrages für den Freistaat führt. Erst wenn wieder im ganzen Bundesgebiet Tarifverträge gelten, ist aus Sicht von ADEXA das Kapitel der Wiedervereinigung endgültig abgeschlossen. |
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