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30 Jahre Mauerfall
Aus der Geschichte lernen?
Die Fachgruppe Allgemeinpharmazie vor und nach der Wende
Historisch betrachtet war die DDR ein gesellschaftliches Großexperiment, dass durch den Ausgang des Zweiten Weltkrieges ermöglicht wurde. Es wurde nach 40 Jahren beendet, weil die regierende Minderheit keine Unterstützung der Mehrheit hatte. Durch den schnellen Vereinigungsprozess mit Übernahme praktisch aller verwaltungsrechtlichen und sozialen Normen der Bundesrepublik wurde aber auch alles null und nichtig, was aus heutiger Sicht weiterhin diskussionswürdig ist.
Für die Pharmazie als Universitätsfach soll dies am Beispiel der in der DDR engeren Verzahnung von Wissenschaft und Praxis nachvollzogen werden, die insbesondere die gesellschaftliche Verantwortung der Apothekerinnen und Apotheker für die sachgerechte Anwendung von Arzneimitteln betonte. Dieser Ansatz wurde sogar noch eher durch die USA und die nordischen Länder verfolgt und zwar in direkter Konsequenz der Ereignisse um das Contergan im Jahre 1961.
Neben der Arzneimittelsicherheit bildeten aber auch Fragen der Organisation und Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung in der breiten Bevölkerung sowie soziale Aspekte der Arzneimittelanwendung bei Frauen und Männern bzw. in unterschiedlichen Altersgruppen Schwerpunkte der Forschungstätigkeit der entsprechenden Fachbereiche an den drei Universitäten der DDR in Berlin, Greifswald und Halle an der Saale. Die „Organisation und Ökonomie des Arzneimittelwesens“ wurde 1968 als gleichberechtigtes Lehr- und Prüfungsfach in den Lehrplan aufgenommen, was auch die wissenschaftliche Bearbeitung praxisrelevanter Forschungsfragen einschloss. So wurden bis 1989 an den drei Universitäten, die jährlich mindestens einmal zusammen kamen und ihre jeweiligen Forschungsschwerpunkte abstimmten, ca. 90 Diplomarbeiten, 25 Dissertationen und sechs Habilitationsarbeiten erfolgreich verteidigt. Dass sich diese Fachbereiche, später als „Organisation und Ökonomie der Arzneimittelversorgung“ bezeichnet, kurz vor 1989 – wiederum einem Trend in den nordischen Ländern folgend, in „Sozialpharmazie“ umbenannten, trug vermutlich nicht unwesentlich dazu bei, dass sie kurz nach der Wende als „sozialistische Altlast“ abgetan werden konnten, die in der gesamtdeutschen Apothekerausbildung nichts zu suchen hatte (s. a. C Friedrich, W-D Müller-Jahncke. Wissenschaftsdifferenzierung in der Pharmazie. Vorträge der Pharmaziehistorischen Biennale in Regensburg vom 20. bis 22. April 2012).
Die Organisation und Ökonomie der Arzneimittelversorgung war darüber hinaus auch in der Fachapothekerweiterbildung verankert, d. h. es konnte auch in einer mehrjährigen Ausbildung, die mit einer mündlichen Prüfung abschloss, der entsprechende Fachapothekertitel erworben werden. Hier war nach 1990 immerhin eine Umwidmung, meist in den Fachapotheker für Offizin-Pharmazie möglich.
Zudem war die „Arbeitsgemeinschaft Organisation und Ökonomie des Arzneimittelwesens“ auch in der Pharmazeutischen Gesellschaft der DDR vertreten und wurde im Rahmen einer Umstrukturierung 1983 in „Fachgesellschaft für Allgemeinpharmazie“ umbenannt. Wie die anderen Fachgesellschaften führte auch die Allgemeinpharmazie eigene wissenschaftliche Veranstaltungen durch, die durch Tagungen der untergliederten „Sektionen“ ergänzt wurden. Davon gab es insgesamt sieben (Sektion Arzneimittelversorgung, Sektion Arzneimittelinformation, Sektion Aus- und Weiterbildung, Sektion Krankenhauspharmazie, Sektion Recht und Sektion Wissenschaftliche Arbeitsorganisation), die eigene Themen bearbeiteten und die Ergebnisse vorstellten (s. a. „Die Gesellschaft für Allgemeinpharmazie in der ehemaligen DDR von 1983 – 1990 in „Pharmazie in unserer Zeit“ 1991(20);4:145-149). Last but not least wurden Ergebnisse der praxisorientierten Forschung aus der Organisation und Ökonomie des Arzneimittelwesens“ bzw. der „Sozialpharmazie“ in der Fachliteratur veröffentlicht, u. a. in der auch international bekannten „Die Pharmazie“, die von der Pharmazeutischen Gesellschaft der DDR herausgegeben wurde (letzter Chefredakteur Prof. Dr. Siegfried Pfeifer). „Die Pharmazie“ überlebte die Wende ebenfalls und wird heute von der Avoxa Mediengruppe herausgegeben, die allerdings nur die nach 1990 tätigen Chefredakteure auflistet und den Ursprung aus der DDR nicht erwähnt.
Die Allgemeinpharmazie nach 1990
Die pharmazeutischen Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR haben sich schon vor dem offiziellen Datum der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 in einer feierlichen Veranstaltung zusammengefunden, was sich an offizieller Stelle so liest: „Am 8. September 1990 trat die PhG-DDR in Berlin der 1890 gegründeten Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) bei. Auf der Wikipedia-Seite der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft werden weder dieses Datum noch das Ereignis selbst erwähnt, lediglich ein Abdruck des zu diesem Anlass herausgegebenen Postwertzeichens zeugt davon. Obwohl der damalige Präsident der DPhG, Prof. Dr. Dr. E. Mutschler, dem amtierenden Vorsitzenden der Gesellschaft für Allgemeinpharmazie, Dr. Klaus Fischer, in einem Schreiben vom 28. August 1990 mitgeteilt hatte, dass „sämtliche Regional- und Fachgesellschaften der Pharmazeutischen Gesellschaft der DDR Mitglieder mit Sitz und Stimme im Präsidium der DPhG werden“, gab es nachfolgend weitere Gespräche mit Vertretern der Pharmazeutischen Gesellschaft der DDR. So auch mit der Fachgruppe Allgemeinpharmazie, die gebeten wurde zu begründen, weshalb es auch in der DPhG eine Fachgruppe Allgemeinpharmazie geben sollte. Die zwei eigens dafür am 21. März 1991 nach Frankfurt/M. angereisten Vertreterinnen der Fachgruppe trugen gut fünf Stunden lang ihre Argumente vor, hörten als Antwort aber meist, dass das in der Bundesrepublik alles von den Apothekerkammern und -verbänden abgedeckt würde. Eher überraschend kamen die drei anwesenden Präsidiumsvertreter dann zu dem Schluss, dass die Fachgruppe Allgemeinpharmazie in die DPhG übernommen werde und die bisherige Vorsitzende (Dr. Marion Schaefer) dies auch bleiben sollte.
Die neue Fachgruppe Allgemeinpharmazie in der DPhG organisierte ab 1991 weiterhin eigene Jahrestagungen mit einem wissenschaftlichen Vortragsprogramm, aber auch Seminare und Workshops, etwa zur Pharmazeutischen Betreuung am 23. September 1995 in Jena mit immerhin 60 Teilnehmern. Die Mitglieder der Fachgruppe wurden jährlich mit einem Rundschreiben über alle Aktivitäten informiert. Auf Anregung des DPhG-Präsidenten, Prof. Dr. Hermann P.T. Ammon, und gestützt durch einen Beschluss des Vorstandes der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft vom 17. Januar 1996, wurde am 16. November 1996 innerhalb der Fachgruppe Allgemeinpharmazie eine „Arbeitsgemeinschaft Arzneimittelepidemiologie“ im Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität gegründet, für die sich immerhin 50 Interessenten gemeldet hatten. Thematisch heute noch aktuell waren Fachgruppentagungen am 14. März 1998 zum „Datenmanagement im Prozess der Pharmazeutischen Betreuung“ oder am 7. Oktober 1999 zum „Nutzen der Pharmazeutischen Betreuung“, die erstmals als Vorsymposium der DPhG-Jahrestagung in Frankfurt/M. konzipiert war. Die Tagungen der Arbeitsgemeinschaft Pharmakoepidemiologie in der DPhG fanden ab 1999 gemeinsam mit der Gesellschaft für Arzneimittelanwendungsforschung und der Projektgruppe Pharmakoepidemiologie der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie statt.
Die letzte eigenständige Tagung der Fachgruppe Allgemeinpharmazie widmete sich am 28./29. April 2001 der „Pharmazie im Internetzeitalter“, danach fanden nur noch Veranstaltungen als Vorsymposien zur DPhG-Jahrestagung statt, da etwaige Überschüsse aus eigenen Veranstaltungen an den DPhG-Vorstand abgeführt werden mussten und nicht mehr für die eigene Vorbereitung zur Verfügung standen.
Ab 2013 wurden die Veranstaltungen der Fachgruppe Allgemeinpharmazie auf Anweisung des Präsidiums der DPhG in den „Tag der Offizinpharmazie“ integriert und in Kooperation mit den Apothekerkammern der jeweiligen Bundesländer vorbereitet. Dies versprach einerseits höhere Teilnehmerzahlen, andererseits rückte die Allgemeinpharmazie weiter in den Hintergrund, zumindest in der offiziellen Berichtserstattung. Auch der Schwerpunkt der Veranstaltungen lag nun vor allem auf der Weiterbildung.
Wie weiter mit der Allgemeinpharmazie?
Auf der letzten Veranstaltung der Allgemeinpharmazie am Vortag der diesjährigen DPhG-Jahrestagung in Heidelberg fand am Abend des 31. August 2019 nach dem offiziellen Veranstaltungsschluss eine zugegebenermaßen schlecht besuchte Mitgliederversammlung statt, in deren Verlauf die beiden bisherigen Vorsitzenden (Dr. Michael Hannig und Dr. Juliane Kresser) nach mehr als zehnjähriger Tätigkeit ohne Vorabsprache, aber mit aktiver Unterstützung der eigens dazu erschienenen Präsidiumsmitglieder, durch neue Kollegen ersetzt wurden. Welche konkreten Ziele das neue, präsidiumsnahe Leitungsgremium verfolgt, lässt sich im Moment schwer abschätzen. Offenbar möchte man über den verstärkten Einsatz der neuen Kommunikationsmedien nicht zuletzt die Mitgliederzahlen erhöhen und den praktischen Apothekern mehr Informationen zukommen lassen.
Der ursprüngliche Anspruch einer wissenschaftlichen Gesellschaft, der sich aus Lehre und vor allem eigener Forschung speist, Probleme der praktischen Apothekertätigkeit aufgreift, sie wissenschaftlich bearbeitet und die Ergebnisse für die Fort- und Weiterbildung zur Verfügung stellt, ist damit für die Allgemeinpharmazie aufgegeben. Gerade in Zeiten der zunehmenden Digitalisierung der gesundheitlichen und folglich auch der Arzneimittelversorgung sowie der immer stärkeren Differenzierung und Individualisierung der Arzneimitteltherapie und den dabei produzierten Datenmengen wäre es gerade auch für die Offizinapotheker wichtig, dass auch jene Fragen wissenschaftlich bearbeitet werden, die ihnen täglich auf den Nägeln brennen.
Letztlich unterstützt eine solche Forderung aber auch die Stimmen, die gerade wieder sehr zu Recht eine Aktualisierung bzw. grundsätzliche Überarbeitung der Approbationsordnung fordern, die sich stärker an der Realität orientieren muss. Die naturwissenschaftliche Basis der Pharmazie wird damit nicht angetastet, aber der Alleinvertretungsanspruch, der in dieser Form nur noch in Deutschland erhoben wird, sollte aus den genannten Gründen aufgegeben werden. |
30 Jahre Mauerfall
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