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Arzneimittelsicherheit
„Vollständig, fair und transparent aufklären“
Interview mit Andre Sommer und Dr. Beate Kirk
DAZ: Herr Sommer, seit Ihrer Geburt leben Sie mit schweren Missbildungen, die Sie auf Duogynon zurückführen. Mit welchen Einschränkungen haben Sie zu kämpfen?
Sommer: Ich kam mit einer Blasenekstrophie zur Welt. Diese ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 50.000 eine sehr seltene angeborene Fehlbildung, bei der die Blase außerhalb des Körpers liegt. Deswegen wurde ich bereits 15 Mal operiert und trage ein Leben lang einen Beutel am Körper. Es handelt sich dabei um ein Urinstoma. Der Urin fließt also in einen Beutel. Das schränkt mich ständig ein, bei allen Bewegungen. Ich muss vorsichtig sein, dass der Beutel nicht platzt und es so zu peinlichen Momenten kommen könnte. Insgesamt sind diese künstlichen Harnableitungen nicht sehr förderlich für den Körper und insbesondere die Nieren. Im Jahre 2013 hatte ich aufgrund von Verwachsungen nach Folgeoperationen fast einen Darmverschluss und musste operiert werden.
DAZ: Für die Öffentlichkeit und Fachwelt ergeben sich auf den ersten Blick Parallelen zwischen Duogynon und Contergan: Vor Jahrzehnten kamen beide Präparate auf den deutschen Markt, die Einnahme während der Schwangerschaft wurde explizit empfohlen, und bis heute klagen verkrüppelte und missgebildete Menschen gegen Pharmakonzerne, die für ihr Leid verantwortlich sein sollen. Warum ist der „Fall Duogynon“ trotzdem ganz individuell?
Sommer: Die Arzneimittelskandale Contergan und Duogynon fanden fast zeitgleich statt. Während bei Contergan das Schädigungsbild relativ eindeutig ist, sind die Schädigungen bei Duogynon unterschiedlich. Das macht auch den Nachweis so schwer. Duogynon wurde ja als Schwangerschaftstest verkauft, und in den 1970er-Jahren durfte man diesen explizit nicht mehr als Schwangerschaftstest benutzen. Bei Duogynon fand ein Ermittlungsverfahren statt, aber das menschliche Leben war damals erst ab Geburt geschützt, und so wurde das Verfahren eingestellt.
Kirk: Die Vertriebsphase der beiden Duogynon-Applikationsformen in der Bundesrepublik Deutschland währte viel länger als die erste Vertriebsphase von Contergan und anderer thalidomidhaltiger Arzneimittel. Duogynon war von 1950 bis 1981 in den bundesdeutschen Apotheken erhältlich, also mehr als 30 Jahre. Contergan dagegen nur vom 1. Oktober 1957 bis zum 26. November 1961. Allerdings ist die Forschung in Bezug auf thalidomidbedingte Schädigungen deutlich weiter. Das Bild vorgeburtlicher Schädigungen durch Contergan bzw. Thalidomid ist dabei keineswegs einheitlich. Die Phokomelie, also die Gliedmaßenfehlbildungen an zwei oder vier Extremitäten, ist zwar auffällig, indes gibt es auch Fehlbildungen der inneren Organe, der Blutgefäße, angeborene Taubheit oder Schädigungen der Augen. Gerade in jüngster Zeit wird vermehrt über Gefäßschädigungen berichtet. Genaue Erhebungen über durch Thalidomid verursachte Schädigungen findet man im Contergan-Infoportal. Auch durch Thalidomid werden Schädigungen des Urogenitaltraktes verursacht.
DAZ: Lassen sich die Schädigungen durch Contergan und Duogynon denn gar nicht voneinander abgrenzen?
Kirk: Meiner Meinung nach ist die Abgrenzung fast nicht möglich. Eine diesbezügliche Anfrage von mir an die Contergan-Stiftung ergab, dass die medizinische Kommission der Contergan-Stiftung die „Contergan-Schäden“ nur gegen genetisch bedingte Krankheitsbilder abgrenzt, nicht aber gegen mutmaßlich durch Duogynon verursachte Schädigungen. Diese existieren auf dem Papier ja nicht. Es gibt etliche „Nicht-Anerkannte“, also Menschen, die einfach zur falschen Zeit geboren wurden. Bei Fällen vor 1957 geht die Contergan-Stiftung davon aus: Das kann keine Arzneimittelschädigung durch Thalidomid sein. Ob es eine durch Duogynon verursachte Schädigung sein kann, ist nicht Gegenstand der medizinischen Prüfung.
DAZ: Vor ziemlich genau zehn Jahren begannen Sie, Herr Sommer, Ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Was war der entscheidende Anstoß?
Sommer: Ich hatte damals einen Bericht über die Bayer-Hauptversammlung gelesen, bei der Redner auftraten, die Entschädigungen verlangten. Mein Vater machte mich darauf aufmerksam und berichtete dann von den Geschehnissen bei meiner Geburt.
DAZ: Und dann klagten Sie 2011 und 2012 gegen Bayer, den heutigen Mutterkonzern von Schering.
Sommer: Ich klagte damals auf Akteneinsicht. Das
Arzneimittelgesetz hatte sich, ich glaube im Jahre 2005, geändert. Man
kann bei einem begründeten Verdacht gegen den Hersteller auf Auskunft
klagen. Dann muss die Firma die Unterlagen, wie Tierversuche oder
interne Berichte, offenlegen.
DAZ: Wie ging das Verfahren aus?
Sommer: Bayer berief sich einzig auf die Verjährung. Nach 30 Jahren verjährt alles außer Mord. Nach außen hin stellte es der Konzern so dar, die Klage sei unbegründet und würde deswegen abgewiesen. In Wahrheit interessiert sich das Gericht nicht für Fakten, sondern muss nur rein formell entscheiden. Da die Verjährung mit dem schädigenden Ereignis beginnt, also mit der Einnahme der beiden Dragees durch meine Mutter, lief die Verjährungsfrist in meinem Fall im Jahre 2005 ab. Mein Vater hat mir erst 2009 von den Vorgängen erzählt. Die Verjährungsfrist begann also schon fast neun Monate vor meiner Geburt – eine Gesetzeslücke, wie ich finde. Dies dient nicht dem Rechtsfrieden. Das Gericht schlug auch eine Mediation vor, aber auch dies lehnte Bayer ab.
DAZ: Frau Dr. Kirk, nun gab es in der Vergangenheit ja
auch Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter der Firma Schering. Wie
bewerten Sie diese als Pharmaziehistorikerin?
Kirk: Als Frau habe ich sogar evtl. nochmal einen anderen Blick auf die Thematik. Am 19.12.1980 wurde das Ermittlungsverfahren im Fall Duogynon eingestellt. Grund war in der Tat vor allem: Erst der Mensch steht unter dem Schutz des Grundgesetzes. Der Fötus ist demnach vor schädlichem Arzneimitteleinfluss infolge der Applikation an die schwangere Frau rechtlich nicht geschützt. Indes frage ich mich: Warum ist die Berliner Staatsanwaltschaft nicht dem meiner persönlichen Bewertung nach offensichtlich vorliegenden Verstoß gegen § 218 StGB nachgegangen? Dieser Paragraf soll die werdende Mutter schützen. Das habe ich zumindest dem genauen juristischen Wortlaut entnommen. Es wurde vom Berliner Landgericht vor der Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht geprüft, ob Mitarbeiter der Firma Schering bzw. die verschreibenden Gynäkologen gegen § 218 StGB verstoßen haben. Ferner galt in der Bundesrepublik Deutschland auch für schwangere Frauen nach Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 die Bestimmung vom Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Applikation von Duogynon – zu welchem Zwecke auch immer – hat dem Organismus von Schwangeren massiven Schaden zugefügt. Der weibliche Körper war nicht länger in der Lage, das entstehende Leben mit Sauerstoff und allen notwendigen Nährstoffen zu versorgen. Warum die Berliner Staatsanwaltschaft dies nicht thematisiert hat, ist zumindest für mich unverständlich. Als Nichtjuristin halte ich diese Nichtverfolgung von Verstößen gegen Bestimmungen des Grundgesetzes und des Strafgesetzbuches für rechtswidrig.
DAZ: Herr Sommer, nachdem Sie gegen Bayer vor Gericht gezogen waren, standen Sie nun in der Öffentlichkeit und bekamen Tausende E-Mails von Betroffenen und Hinterbliebenen. Was berichteten Ihnen diese Menschen?
Sommer: Sie berichteten von ihren Erfahrungen mit Duogynon. Bis heute treibt es die Menschen um. Viele sprachen von schlimmsten Missbildungen und bei Babys, die in den Tagen und Wochen nach der Geburt qualvoll starben. Andere Menschen leiden bis heute unter den teils gravierenden Beeinträchtigungen. Es gab allerdings auch Frauen, die von Fehlgeburten sprachen und Abgängen nach der Einnahme. Viele Anwenderinnen hatten, wie meine Mutter auch, sofort Blutungen und Ausfluss. Dies hätte ja eigentlich bedeutet, dass keine Schwangerschaft vorhanden wäre. Zudem berichteten Menschen vom Einsatz als „Pille danach“. Unter der Hand wurde Duogynon als „morning after pill“ benutzt oder – in dreifacher Dosierung – als eine Möglichkeit der Abtreibung. Bis heute ist es mir unklar, wie ein und dasselbe Arzneimittel in Normaldosierung als Schwangerschaftstest und in Doppel- bzw. Dreifachdosierung als Abtreibungspille benutzt werden kann.
Kirk: In der Tat ist es unbegreiflich, wie das naturwissenschaftlich gesehen möglich sein soll. Mir sind übrigens infolge meiner Mitgliedschaft im Netzwerk Duogynon mehrere Fälle bekannt geworden, in denen die Einnahme der normalen Dosis von zwei Dragees Duogynon zum Abort geführt hat. Ich nehme an, dass der Folsäure-Status, das Gewicht und die Größe sowie die individuelle „Vulnerabilität“ bzw. „Empfindlichkeit“ der werdenden Mutter hierauf Einfluss haben. Außerdem gilt natürlich: „Die Dosis macht das Gift“. Dass Überdosierungen mit Duogynon-Dragees zum Abort geführt haben, geht bereits aus den Informationen zu Duogynon im „Frauenhandbuch Nr. 1“ hervor. Das war ein Bestseller der feministischen Literatur der 1970er-Jahre. Die bekannte Regisseurin Helke Sander gründete Anfang der 1970er-Jahre die Berliner Frauengruppe „Brot und Rosen“, deren Mitglieder sich mit Verhütung und Abtreibung auseinandersetzten und darüber publizierten. Auch im Bestand des Berliner Landesarchivs gibt es Berichte über die Nutzung von Duogynon als Abortivum.
DAZ: Meinen Sie, abortive und teratogene Wirkungen sind immer untrennbar miteinander verbunden?
Kirk: Mir selbst ist ein Arzneistoff bekannt, der abortiv wirkt, allerdings nicht teratogen: Mifepriston. In den 1980er-Jahren habe ich im Pharmaziestudium gelernt: „Abortive und/oder teratogene Eigenschaften eines Arzneistoffes: Ob es zu einer Fruchtschädigung oder zum Abort kommt, ist abhängig vom Zeitpunkt des Einwirkens der Noxe, von der Dosis, von der individuellen Konstitution des Tieres bzw. des Menschen sowie vom Ernährungszustand. Im Grunde ist es dieselbe Eigenschaft.“
DAZ: Neben dem unendlichen Leid und den vielen persönlichen Schicksalen gab es natürlich auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Duogynon und dem vermeintlich teratogenen Potenzial. Die Beweislage gilt als schwach: Die einen Studien können Zusammenhänge zwischen der Einnahme und Missbildungen herstellen, die anderen Studien kommen zu dem Schluss, dass die Zahl der angeblich durch Duogynon missgebildeten Säuglinge ziemlich genau der Quote der natürlichen genetischen Mutationen entspricht. Was ist Ihre Meinung?
Sommer: Im Jahr 2018 konnte der schottische Forscher Neil Vargesson im Tierversuch einen Zusammenhang mit der Einnahme von Duogynon und Missbildungen beweisen. Das sind die neuesten Untersuchungen. Aus meiner Sicht ist dies ein eindeutiger wissenschaftlicher Beweis, der zudem in der renommierten Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht wurde. Weitere Forschungen laufen und sollen noch 2018 oder 2019 veröffentlicht werden. Zudem hat Schering schon 1969 eigene Tierversuche durchgeführt. Dabei kamen Missbildungen vor, die man sich nicht erklären konnte. Ferner wurden Fruchtresorptionen beobachtet, die als eindeutiges Indiz für Teratogenität gelten. Schering hätte auf die Forschungsergebnisse aus den firmeneigenen Laboratorien reagieren und einen sofortigen Stopp der Produktion veranlassen müssen.
Kirk: Meiner Meinung nach gibt es keinen vernünftigen
Grund, den kausalen Zusammenhang zwischen der Duogynon-Applikation in
der Frühschwangerschaft und Kindesmissbildungen zu verneinen. Dass die
Beweislage als schwach gilt, ist meiner Meinung nach auf massive
Einflussnahme von interessierten Kreisen zurückzuführen. Die Nutzung von
Duogynon als Abortivum in Form von sechs Dragees ergibt sich
physiologisch bedingt aus den fruchtschädigenden Eigenschaften der
Inhaltsstoffe. Gerade in den Dragees befinden sich mit
Norethisteronacetat und Ethinylestradiol extrem reaktive chemische
Substanzen als Wirkstoffe. Es existiert seit geraumer Zeit ein von dem
Chemiker und Allgemeinmediziner Dr. R. Seeber entwickelter theoretischer
Überbau zur Erläuterung der Teratogenität von Duogynon. Die terminalen
Alkine von Norethisteron und Ethinylestradiol gelten demnach als
hochgradig reaktiv. Laut Seeber ist seit Ende der 1970er-Jahre aufgrund
von an einer deutschen Universität gewonnenen Forschungsergebnissen
bekannt, dass bestimmte chemische Verbindungen mit den Basen der DNA
reagieren. So erklären sich laut Seeber die teratogenen und kanzerogenen
Eigenschaften von synthetischen Hormonen wie Norethisteron und
Ethinylestradiol. In diesem Zusammenhang bitte ich um Informationen:
Welche Experten an den deutschen pharmazeutischen Instituten sind in der
Lage und auch bereit, einen derartigen theoretischen Überbau zu
überprüfen?
DAZ: Sie richten also einen klaren Appell an die Berufskollegen?
Kirk: Gerade in der heutigen Zeit sind die in Deutschland im Berufsleben stehenden Apothekerinnen und Apotheker mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Um als Heilberufler und Arzneimittelfachleute wahrgenommen zu werden und bestehen zu können, ist es notwendig, auch unpopuläre Wahrheiten anzuerkennen. Da ich mich in meiner pharmaziehistorischen Dissertation mit dem „Fall Contergan“ auseinandergesetzt habe und mir der Wissensstand der teratologischen Forschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert vertraut ist, halte ich den „Fall Duogynon“ für eine Arzneimittel-„Katastrophe“, die vermeidbar gewesen wäre. So galten die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die die Contergan-„Katastrophe“ nicht verhindert haben, nicht nur von 1957 bis 1961, sondern schon während der Vertriebsphase des Hormonmittels der Firma Schering in der Bundesrepublik ab 1950. In der DDR war es dagegen aufgrund der anderen Rechtslage möglich, ähnliche Präparate des VEB Jenapharm aufgrund der Berichte in den Westmedien aus dem Handel zu nehmen. Auch andere Staaten haben aufgrund anderer arzneimittelgesetzlicher Möglichkeiten frühzeitig reagiert.
DAZ: Herr Sommer, was ist seit den Verfahren vor dem Landgericht Berlin gegen Bayer geschehen?
Sommer: Wir konnten in den nachfolgenden Jahren das Landesarchiv in Berlin betreten. Dort lagern die Ermittlungsakten gegen Verantwortliche der Firma Schering. In diesen Akten gab es zahlreiche Beweise für die Teratogenität von Duogynon. Die Akten des Ermittlungsverfahrens belegen: Die englischen Rechtsanwälte von Schering berieten sich schon über die mögliche Höhe der Entschädigungszahlungen an die Betroffenen. Es gibt eine Vielzahl von Unterlagen. Wir konnten über 7.000 Seiten einsehen. Es wird auch das Versagen der Aufsichtsbehörden klar aufgezeigt. Die deutschen Gesundheitsbehörden haben nicht nur zugeschaut, sondern waren teilweise auch mit Schering eng verbandelt. Bis heute steht so immer noch eine Amtshaftungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland im Raum. Würde die Bundesregierung auf die Einrede der Verjährung verzichten, könnte man den Fall Duogynon komplett vor Gericht aufklären.
DAZ: Worum geht es Ihnen genau mit dem Verein Netzwerk Duogynon, was ist das Ziel?
Sommer: Ein Ziel ist die vollständige, faire und transparente Aufklärung des Falles Duogynon und die notwendige Versorgung der Betroffenen. Vor allem sollte sich der Hersteller und auch die Bundesregierung für die „Versäumnisse“ der damaligen Zeit entschuldigen. Zudem sollten die Patientenrechte in solchen Fällen gestärkt werden und es Patienten einfacher gemacht werden, gegen Konzerne vorzugehen.
DAZ: Herr Sommer und Frau Dr. Kirk, vielen Dank für das Interview. |
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