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Digitales für Apotheker

Frauen jubeln, Ärzte warnen

Kontroverse um eine Verhütungs-App – „Digitales für Apotheker“ (Folge 4)

Seit dem 10. August 2018 ist die App „Natural Cycles“ nun auch in den USA von der FDA zuge­lassen [1, 2]. Der Berufsverband der Frauenärzte hat dies zum Anlass ­genommen, erneut vor der App zu warnen [3, 4]. Sie sei keine sichere Verhütungsmethode, die Berechnung der fruchtbaren Tage sei unzuverlässig, die wissenschaftlichen Studien hätten schwerwiegende Mängel und seien von der FDA nicht überprüft worden, heißt es in der Pressmitteilung des Berufsverbandes [3]. | Von Ursula Kramer

Im Gegensatz zu den kritischen Stimmen der Fachwelt stehen die Angaben des Herstellers: Über 600.000 Nutzerinnen weltweit [5], fast 90.000 Follower auf Facebook [6] und eine Sammlung von mittlerweile mehr als 38 Millionen Messdaten [6] – alles Hinweise für die Beliebtheit der App Natural Cycles und für die überaus erfolgreiche Vermarktungsstrategie. Sie zielt auf junge, selbstbewusste Frauen ab, die müde sind, Hormone zu schlucken. Über soziale Medien teilen sie ihre Erfahrungen mit der App, sie ermutigen sich gegenseitig, ihren Monatszyklus zu beobachten und die Familienplanung selbst in die Hand zu nehmen.

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Ein Blick zurück

Die App Natural Cycles wurde Anfang 2017 mit großem Medieninteresse als erste, TÜV-zertifizierte Verhütungs-App gefeiert [4]. Der TÜV Süd hatte als benannte Stelle das erforderliche EU-Konformitätsverfahren durchgeführt und die App als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa zertifiziert.

Seither gerät die App Natural Cycles immer wieder in die Schlagzeilen: Im Oktober letzten Jahres wurden bei der schwedischen Aufsichtsbehörde ungewollte Schwangerschaften von Nutzerinnen gemeldet. Von 668 Frauen, die im Zeitraum von September bis Dezember 2017 zum Schwangerschaftsabbruch das meldende Krankenhaus aufgesucht haben, haben 37 die Verhütungs-App Natural Cycles genutzt [7] (DAZ berichtete). Die Untersuchungen dauern bis heute an.

Auch bei der Selbstregulierungsorganisation der Werbeindustrie in England ASA (Advertising Standards ­Authority) ist die App aufgefallen [5]. Die offensive Bewerbung als die erste, „vom TÜV ­zertifizierte“ App zur Verhütung könnte einen zu leichtfertigem Umgang mit der App veranlassen. Junge Frauen könnten die App überschätzen, die Zahl ungewollter Schwangerschaften könnte steigen. Die von der ASA beanstandete Facebook-Werbeanzeige hat der App-Anbieter mittlerweile zurückgezogen und nicht mehr genutzt.

Erwartungen an eine „sichere“ Verhütungs-App

Eine „sichere“ Verhütungs-App, die – wie die App Natural Cycles – die Messung der Basaltemperatur zur Bestimmung der fruchtbaren Tage nutzt,

  • muss die Nutzerinnen informieren, wie die Temperaturmethode und damit die App richtig angewendet wird,
  • für wen diese Methode – und damit die App – nicht geeignet ist und,
  • in welchen Fällen die Methode – und damit auch die App – keine zuverlässigen Ergebnisse liefert.

Das macht die App Natural Cycles mit einer Gebrauchsanleitung [8]. Darin weist der Hersteller auch explizit darauf hin, dass die App keine sichere Verhütungsmethode ist: „Auch bei perfekter Verwendung der App kannst du ungewollt schwanger werden. Bei typischer Verwendung der App ist Natural Cycles zu 93 Prozent wirksam; das bedeutet, dass 7 von 100 Frauen, die die App ein Jahr lang nutzen, schwanger werden.“

Als zertifiziertes Medizinprodukt muss die App

  • eine Risikoanalyse liefern (Risk Management EN ISO 14971:2007), d. h. die Zuverlässigkeit des Algorithmus in klinischen Studien nachweisen [9].

Diese Nachweise hat die App – aus Sicht des TÜV Süd und jüngst auch der FDA – erbracht. Der Berufsverband der Frauenärzte sieht das anders und weist auf die hohe Abbruchrate der Studie hin. Das könne als Indiz für die unzuverlässige Berechnung der furchtbaren Tage gewertet werden.

  • Im Rahmen des gesetzlich vorgeschriebenen Marktüberwachungsprogramms muss der App-Anbieter Beschwerden bzw. Meldungen zu ungewollten Schwangerschaften dokumentieren, auswerten und an die Aufsichtsbehörde melden.

Grundsätzlich sind die Hersteller von Medizinprodukten – und dazu gehören auch Medizin-Apps – dazu verpflichtet, ein systematisches Marktüberwachungsprogramm (Post-Market Surveillance, PMS) als Teil des Qualitätsmanagements einzurichten. Damit sollen klinische Wirksamkeit und Sicherheit der im Markt befindlichen Produkte überprüft und erforderliche Korrekturen in geeigneter Weise veranlasst werden.

Foto: NaturalCycles Nordic AB

Auf diese Weise wird wohl auch die Datenbasis zu Natural Cycles wachsen, mit der die Zuverlässigkeit der Verhütungs-App gegebenenfalls neu bewertet werden kann. App-Nutzerinnen, die ungewollt schwanger werden, sind daher im Sinne der Anwendungssicherheit unbedingt zu melden.

Wie stark digitale Therapien bestehende Märkte verändern können, lässt das Beispiel Natural Cycles erahnen. Was, wenn es in naher Zukunft z. B. (implantierbare) Sensoren gibt, die den Zyklus der Frau kontinuierlich mit hoher Genauigkeit aufzeichnen und auswerten, so dass „sichere“ Verhütung nur noch an den wenigen, fruchtbaren Tagen erforderlich ist? Schon heute messen Diabetiker mithilfe von Sensoren kontinuierlich ihren Blutzucker (z. B. Freestyle Libre). Blutzuckerteststreifen werden nach und nach verzichtbar. Wie wird sich der Markt der oralen Kontrazeptiva durch Innova­tionen auf dem Gebiet des digitalen Zyklusmonitorings verändern? Erreicht die Selbstbestimmung der Frau damit einen neuen Meilenstein?

Weitere Informationen zum Thema „Digitale Unterstützung für die Fami­lienplanung aus dem App-Store“ finden Sie in DAZ 2018, Nr. 21, S. 44. |

Literatur

[1] FDA-Meldung, 10. August 2018. https://www.fda.gov/NewsEvents/Newsroom/PressAnnouncements/ucm616511.htm

[2] Begründung der FDA für die Zulassung als Medizinprodukt der Klasse II. https://www.accessdata.fda.gov/cdrh_docs/­reviews/DEN170052.pdf

[3] Berufsverband der Frauenärzte e.V. Warnung vor FDA-zugelassener Verhütungs-App. 16.08.2018 http://www.bvf.de/presse_info.php?s=0&r=2&m=0&artid=572

[4] Ignaczak C. Wie sicher ist die TÜV-geprüfte Verhütungs-App? Badische Zeitung, 16. Februar 2017. http://www.badische-zeitung.de/gesundheit-ernaehrung/wie-sicher-ist-die-tuev-gepruefte-verhuetungs-app--133579740.html

[5] The Guardian. Natural Cycles: ASA investigates marketing for contraception app. https://www.theguardian.com/technology/2018/jul/29/natural-cycles-asa-investigates-marketing-for-contraception-app

[6] Natural Cycles auf Facebook. https://www.facebook.com/NaturalCyclesNC/?ref=br_rs

[7] 37 ungewollte Schwangerschaften. Kritik an Verhütungs-App. Januar 2018. Future­zone.at https://futurezone.at/apps/37-ungewollte-schwangerschaften-kritik-an-verhuetungs-app/307.214.814

[8] Gebrauchsanweisung der Verhütungs-App. https://storage.googleapis.com/nc-public/hcp/cms-content/2018/08/c016e759-1019-2-10-instructions_de-eu.pdf

[9] EC Declaration of Conformity. https://storage.googleapis.com/ncbackend-test.appspot.com/Declaration%20of%20conformity.pdf


Autorin

Dr. Ursula Kramer, Apothekerin. 2011 Gründung der Informations- und Bewertungsplattform für Health-Apps Healthon.de, das größte Portal für deutschsprachige Gesundheits- und Medizin-Apps. Dreimalige Gewinnerin des Präventions­preises des Wissenschaftlichen Instituts für Prävention im Gesundheits­wesen und der Deutschen Apotheker Zeitung.

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