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Europa

Grenzbereiche der Rezeptpflicht

Wo Apotheker unter welchen Bedingungen welche Arzneimittel abgeben dürfen

Mit einem Netzwerk von 160.000 Abgabestellen sind die öffentlichen Apotheken in Europa die am leichtesten zugänglichen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung. Oft sind sie bei Gesundheitsproblemen der erste Ansprechpartner. Dies gilt vor allem für geringfügige Gesundheitsstörungen, die im Rahmen der Selbstmedikation mit OTC-Arzneimitteln behandelt werden können. Die Freiheit endet jedoch da, wo die Verschreibungspflicht anfängt. In manchen Ländern wird mit diesem Prinzip sehr strikt umgegangen, in anderen traut man den Apothekern mehr zu und billigt ihnen auch bezüglich der Abgabe rezeptpflichtiger Arzneimittel bestimmte Kompetenzen zu. Dieser Beitrag gibt einen Einblick in den empfindlichen Grenzbereich der Rezeptpflicht. | Von Helga Blasius

In der Europäischen Union wird nicht einheitlich festgelegt, welche Wirkstoffe unter welchen Bedingungen verschreibungspflichtig sind. Der Kodex für Humanarzneimittel (Richtlinie 2001783/EU) enthält lediglich die grundlegenden Kriterien für die Unterstellung unter die Rezeptpflicht. Die Entscheidung über den Abgabe-Status eines einzelnen Wirkstoffs liegt bei den Mitgliedstaaten. Deshalb gibt es keine verbindliche Europa-einheitliche Liste rezeptpflichtiger Stoffe bzw. Arzneimittel. Bei zentral zugelassenen Arzneimitteln wird der Abgabestatus allerdings für die gesamte EU/den EWR einheitlich und verbindlich festgelegt (Beispiele: Pantoprazol, Ulipristal). Das Beispiel des zentral zugelassenen Notfallkontrazeptivums Ulipristal (ellaOne®), bei dem Polen ausgeschert ist, zeigt jedoch, dass auch dieses regulatorische Prinzip offenbar nicht „in Stein gemeißelt“ ist.

Per Switch in die Selbstmedikation

Neuartige Arzneimittel werden im Regelfall der Rezeptpflicht unterstellt. So wird gewährleistet, dass sie zunächst für einen gewissen Zeitraum unter ärztlicher Kontrolle und Überwachung eingesetzt werden. Erweist sich die Anwendung als ausreichend sicher, so ist eine Entlassung aus der Verschreibungspflicht in die Selbstmedikation möglich. Dieser Vorgang wird als „Switch“ bezeichnet. Der umgekehrte Fall wird als „Re-Switch“ bezeichnet. Die Kriterien, die bei einem Antrag auf Entlassung aus der Rezeptpflicht zu prüfen sind, hat die Europäische Kommission in einer eigenen Guideline (Switch-Guideline) zusammengefasst [1].

Rezeptpflicht in ausgewählten Ländern

Deutschland: Welche Stoffe in Deutschland konkret von der Rezeptpflicht erfasst sind, bestimmt die Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV). Sie werden nach Anhörung eines Sachverständigen-Ausschusses bestimmt [2}. Der Abgabestatus wird bei der Zulassungsverlängerung regelmäßig überprüft. Die Verschreibungspflicht kann auf bestimmte Dosierungen, Potenzierungen, Darreichungsformen, Fertigarzneimittel oder Anwendungsbereiche beschränkt werden und es können auch Einschränkungen hinsichtlich Höchstmengen für den Einzel- und Tagesgebrauch festgelegt werden. Die AMVV legt auch die Einzelheiten zum Format und den Inhalten von Verschreibungen fest. Fehlt die Angabe der Gültigkeitsdauer, so gilt die Verschreibung drei Monate (wobei die gesetzlichen Krankenkassen Rezepte nur innerhalb eines Monats erstatten). Die wiederholte Abgabe eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels auf dasselbe Rezept über die verschriebene Menge hinaus ist in Deutschland nicht erlaubt.

Österreich: In Österreich sind die Vorgaben für die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln und für Verschreibungen im Rezeptpflichtgesetz [3] und in der Rezeptpflichtverordnung [4] niedergelegt.

Die verschreibungspflichtigen Wirkstoffe sind im Anhang zu der Verordnung erfasst.

Ein Rezept bleibt grundsätzlich zwölf Monate gültig, sofern die erste Abgabe innerhalb des ersten Monates nach Ausstellung erfolgt ist und auf dem Rezept kein kürzerer Gültigkeitszeitraum vermerkt ist. Der Bezug darf fünfmal wiederholt werden, wenn nichts anderes vermerkt ist. Einige Wirkstoffe (z. B. Antibiotika oder Diazepam) sind allerdings mit einem Wiederholungsverbot belegt.

Schweiz: In der Schweiz werden zugelassene Arzneimittel nach den Vorgaben der Verordnung über die Arzneimittel (VAM) [5] durch die Arzneimittelbehörde Swissmedic in Abgabekategorien eingeteilt. Arzneimittel der Kategorie A (1770 Wirkstoffe) dürfen nur einmalig auf eine ärztliche Verschreibung abgegeben werden. Für Stoffe in der Kategorie B (3855) sind Dauer-Rezepte für den wiederholten Bezug erlaubt. Arzneimittel der Kategorie C (597), D (1926) und E (167) sind nicht rezeptpflichtig und dürfen je nach Kategorie nur in Apotheken oder auch in Drogerien bzw. in allen Geschäften verkauft werden.

Auch in der Schweiz dürfen die auf einem normalen Rezept verschriebenen Präparate in der Regel innerhalb eines Jahres bezogen werden. Auch hier ist die wiederholte Abgabe auf ein Dauerrezept möglich. Verschreibt der Arzt ein Präparat ohne Repetitionsvermerk, so darf der Apotheker es in begründeten Ausnahmefällen trotzdem noch einmal abgeben (außer Kategorie A). Die verschreibende Person kann die Wiederholung aber auch untersagen. Bringt der Arzt zum Arzneimittel auf dem Rezept einen allgemeinen Repetitionsvermerk an (Dauertherapie), so darf ein Arzneimittel nach Maßgabe der verordneten Tagesdosis oder der Normaldosierung während der Gültigkeitsdauer des Rezeptes wiederholt abgegeben werden. Wie lange ein solches Dauerrezept gültig ist, legen die Kantone in ihren Gesundheitsgesetzen fest. In der Regel liegt die Spanne bei einem Jahr [6].

Frankreich: In Frankreich sind Arzneimittel, die nur auf Rezept abgegeben werden dürfen, in zwei Listen erfasst. Arzneimittel auf der Liste I, die mit einem höheren Risiko behaftet sind, dürfen nur einmalig abgegeben werden, es sei denn, der Arzt hat ausdrücklich angegeben, wie oft die Abgabe an dieselbe Person wiederholt werden darf (maximal über 12 Monate). Einige davon können weiteren Beschränkungen unterliegen, wie etwa der Anwendung durch Krankenhauspersonal oder auch der Verwendung durch bestimmte Spezialisten. Demgegenüber dürfen Arzneimittel auf der Liste II innerhalb von maximal zwölf Monaten mehrfach an denselben Empfänger abgegeben werden, jedoch immer nur in einer Menge, die jeweils für eine monatliche Behandlung nötig ist [7].

Niederlande: In den Niederlanden werden bei der Arzneimitteldistribution vier Kategorien unterschieden. Rezeptpflichtige Arzneimittel (UR-geneesmiddel) dürfen nur in Apotheken abgegeben werden (Ausnahmen für ländliche Regionen mit ärztlichem Dispensierrecht und Krankenhausambulanzen für besonders teure Arzneimittel, die ­unter das Krankenhausbudget fallen). Bei den OTC-Arzneimitteln (NR-geneesmiddel) wird unterschieden zwischen apothekenpflichtigen (UA-geneesmiddel) und denjenigen, die sowohl in Apotheken als auch in Drugstores abgegeben ­werden dürfen (UAD-geneesmiddel). Hinzu kommen OTC-Arzneimittel, die überall verkauft werden dürfen (AV-geneesmiddel) [8]. Die Klassifizierung nimmt die niederländische Arzneimittelbehörde vor, die auch die Listen führt.

Abgabe rezeptpflichtiger Arzneimittel in Notfällen

Die Beachtung der Rezeptpflicht wird sehr streng gehandhabt. In Deutschland ist die Abgabe eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels ohne Vorlage eines ärztlichen Rezeptes eine Straftat, die mit hohen Geldstrafen oder bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Außerdem steht der Verlust der Betriebserlaubnis und sogar der Approbation auf dem Spiel. Von dieser Regel darf nur unter den sehr engen Voraussetzungen abgewichen werden (§ 4 AMVV): Wenn die Verschreibung des Arzneimittels keinen Aufschub duldet, kann der verschreibende Arzt den Apotheker über die Verordnung unterrichten, zum Beispiel telefonisch, muss das Rezept aber unverzüglich nachreichen. In vielen anderen Ländern sind die Notfallregelungen liberaler. So dürfen Apotheker zum Beispiel in Österreich (§ 4 Abs. 5 Rezeptpflichtgesetz) und in der Schweiz (§ 24 Abs. 1 des Heilmittelgesetzes) in begründeten Ausnahmefällen rezeptpflichtige Medikamente auch ohne Vorliegen einer Verordnung an die Patienten abgeben. In Österreich bezieht sich die Ausnahme nur auf die kleinste im Handel erhältliche Packung.

Zwei Gradmesser

Die Antwort auf die Frage, wie streng die Verschreibungspflicht in den einzelnen Ländern gehandhabt wird, bemisst sich aber nicht nur an der Frage, ob ein Arzneimittel auf Rezept wiederholt abgegeben werden darf, und wann es in Notfällen auch ohne Rezept abgegeben werden darf. Ein wichtiger Gradmesser für das Vertrauen in die Kompetenz der Apotheker ist der Umfang des Sortiments an Arzneimitteln, die als OTC-Arzneimittel für die Selbstmedikation zur Verfügung stehen. Ein weiterer Gradmesser ist, inwieweit Apotheker in eigener Verantwortung auch rezeptpflichtige Arzneimittel abgeben dürfen. In einigen Ländern gibt es bereits Erfahrungen hiermit. Diese beiden Aspekte sollen im Folgenden für einige Länder schwerpunktmäßig beleuchtet werden.

Selbstmedikationsmärkte in Europa

Die Situation im europäischen Selbstmedikationsmarkt ist sehr heterogen. Die dritte Auflage des „Observatoire Européen sur l‘automédication“, die der französische Selbstmedika­tionsverband Afipa vorgelegt hat, vergleicht die Märkte in acht Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Schweden und Spanien) im Jahr 2014 [9]. Hiernach ist der Anteil der Selbstmedikation am Gesamtmarkt in Großbritannien mit knapp 58% am größten, gefolgt von Deutschland mit rund 45% (zu den Zahlen für 2016 siehe Kasten) und Schweden (41%). Länder wie Frankreich (15%), Italien und Spanien (jeweils 12%) hinken hier noch weit hinterher. Die Niederlande und Belgien liegen mit rund 38% etwas über dem Mittel der acht Länder von etwas über 32%. In manchen Ländern sind OTC-Arzneimittel verschreibungs- und erstattungsfähig (OTX-Arzneimittel), so zum Beispiel teilweise in Spanien und grundsätzlich in Frankreich. Gerade in Frankreich behindert diese Option die Selbstmedikation, obwohl rezeptfreie Arzneimittel dort vergleichsweise preisgünstig sind.

Anteile rezeptpflichtiger/rezeptfreier Arzneimittel am deutschen Apothekenmarkt:

Anteile nach Umsatz, gesamt zu Apothekenverkaufspreisen (AVP): 51,7 Mrd. Euro, davon

  • rezeptpflichtige: 45,1 Mrd. Euro
  • rezeptfreie: 6,6 Mrd. Euro

Anteil nach Absatz, gesamt: 1481 Mio. Packungseinheiten, davon

  • rezeptpflichtige: 741 Mio.
  • rezeptfreie: 741 Mio.

Quelle: Bundesverband der Arzneimittel Hersteller (BAH). Der Arzneimittelmarkt in Deutschland. Zahlen und Fakten 2016

Deutschland: 132 Wirkstoffe rezeptfrei

Wie steht es mit der Zahl der für die Selbstmedikation verfügbaren Substanzen? Hier rangiert Deutschland nach einer aktuellen Analyse, basierend auf der Datenbank des Europäischen Verbandes der Selbstmedikationsindustrie (AESGP) im Mittelfeld der weltweit wichtigsten Switch-Nationen [10]. 132 chemisch definierte Wirkstoffe sind hierzulande verschreibungsfrei erhältlich. Unter den europäischen Ländern nimmt Deutschland Platz zwei ein, hinter Großbritannien mit 143 Wirkstoffen. Auf den weiteren Plätzen folgen Italien (128), Frankreich (126), Schweden (80) und die Niederlande (76). Weit vor Deutschland und Großbritannien rangieren allerdings Neuseeland mit 171, Australien mit 164 und die USA mit 155 rezeptfrei verfügbaren Substanzen.

Bei modernen Wirkstoffen in der Spitzengruppe

In den Indikationsbereichen Analgetika (topisch und oral), Antimykotika (topisch und oral), Antihistaminika, Erkältung, Gastrointestinal-Trakt, Migräne und Sympathomimetika gibt es nach der AESGP-Datenbank rund 80 Wirkstoffe, die zumindest in einem Land verschreibungsfrei erhältlich sind. 62 davon können die Patienten auch in Deutschland ohne Rezept bekommen. Das sind weitaus mehr, als zum Beispiel in Großbritannien, nur in Schweden ist es noch ein Wirkstoff mehr. Bei den moderneren Wirkstoffen in der Selbstmedikation liegt Deutschland auch im außereuropä­ischen Vergleich in der Spitzengruppe, deutlich vor typischen Switch-Nationen wie Großbritannien und den USA.

In den letzten Jahren wurden in einigen Ländern Impfstoffe zur Abgabe und Anwendung durch einen Apotheker von der Rezeptpflicht freigestellt, so zum Beispiel in Großbritannien, Irland, Portugal und der Schweiz. Mittlerweile darf in zwölf Kantonen, hauptsächlich in der Westschweiz direkt geimpft werden. In Zukunft sollen die Pharmazeuten in der Schweiz schon während des Studiums für diesen besonderen Service ausgebildet werden [11].

UK: Entlastung durch Minor Ailment Schemes

Gerade in Großbritannien ist die Selbstmedikation auf der gesundheitspolitischen Agenda systembedingt hoch angesiedelt. Um das Hausarztsystem und die Notambulanzen der Krankenhäuser zu entlasten wurden dort in den letzten zehn Jahre sogenannte „Pharmacy-based minor ailment schemes“ (PMASs) eingeführt. Sie sollen bewirken, dass die Patienten mit geringfügigen Gesundheitsstörungen direkt in die Apotheke gehen und nicht erst zum Arzt, wo ein konkreter Fall den National Health Service (NHS) dreimal so viel kosten kann [12].

Die PMAS sind je nach lokalem Bedarf unterschiedlich ausgelegt und umfassen jeweils einen vereinbarten Anwendungsbereich, darunter Hautkrankheiten wie Akne oder leichte Ekzeme, Husten und Erkältung, Obstipation, Hämorrhoiden, Heuschnupfen, Allergien, Magen-Darm-Probleme, Menstruationsbeschwerden, Fußpilz, usw. sowie einen Katalog an Arzneimitteln. Die Patienten können über das System ohne Arztbesuch ein gewisses Spektrum an nicht rezeptpflichtigen Arzneimitteln zulasten des NHS erhalten, und zwar je nach Fallkonstellation entweder kostenfrei oder mit Zahlung der Rezeptgebühren. Für die Apotheken bedeutet es einen Imagegewinn, und sie bekommen den Service vom NHS honoriert. Nach einem Review von Studien zur Evaluierung der Erfolge des PMAS aus dem Jahr 2013 waren über 90 Prozent der Nutzer des Systems mit dem Service der Apotheken insgesamt zufrieden. Auch die Hausärzte stehen ihm positiv gegenüber [13].

Non-medical prescriber: Genauso gut wie Ärzte

Die Verschreibung von Arzneimitteln durch Nicht-Mediziner (non-medical prescribing, NMP) ist demgegenüber eine erheblich weitergehende Option. In mehreren Ländern wie den USA, Australien, Neuseeland, Großbritannien und Irland ist sie bereits Realität. Viele andere Ländern arbeiten ebenfalls an entsprechenden Modellen. Hierbei sind nicht nur Apotheker einbezogen, sondern auch Angehörige anderer Gesundheitsberufe, wie Krankenschwestern, Physio­therapeuten oder Diätassistenten [14].

Ein Cochrane-Review hat die Ergebnisse von 46 Studien (darunter 26 zur Verschreibung durch Krankenschwestern und 20 durch Apotheker) evaluiert [15]. Dabei hat der Vergleich bestimmter Marker für chronische Erkrankungen gezeigt, dass die Arzneimittelverschreibung durch Apotheker oder Krankenschwestern bei der Diabetes-Kontrolle (hoher Evidenzgrad) sowie bei Bluthochdruck und Hypercholesterinämie (mittlerer Evidenzgrad) zu ähnlichen Ergebnissen führte wie ärztliche Verschreibungen. Auch bezüglich der Adhärenz, der Zufriedenheit der Patienten und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität waren die Ergebnisse ähnlich. In den meisten Studien, die Zahlen zum Einsatz von Arzneimittel lieferten, setzten die nicht-medizinischen Verschreiber mehr Arzneimittel und höhere Dosen ein. Außerdem war das Spektrum der verordneten Präparate größer als bei den Ärzten. Die Cochrane-Reviewer ziehen daraus den Schluss, dass nicht-medizinische Verschreiber diese Aufgabe mit einer entsprechenden Ausbildung und Unterstützung ebenso gut erfüllen konnten wie die Ärzte.

Wie wird man „independent prescriber“?

In Großbritannien, das für seine fortschrittlichen Initiativen hinsichtlich der Kompetenzen der Apotheker häufig gelobt wird, ist die Verschreibung durch Nicht-Mediziner seit 1998 gängige Praxis. Anfangs durften nur Krankenschwestern ein eingeschränktes Sortiment von Arzneimitteln verschreiben. Seitdem wurde das Spektrum der Gesundheitsberufe und der erlaubten Arzneimittel immer mehr ausgeweitet. Heute dürfen Apotheker ein weitgehendes Sortiment (mit Ausnahme von drei kontrollierten Substanzen) völlig eigenständig (independent prescriber) oder auch im Rahmen eines mit dem behandelnden Arzt abgestimmten Management-Plans verordnen (supplementary prescribing).

Wer ein „independent prescriber“ werden will, muss ein vom General Pharmaceutical Council akkreditiertes Programm absolvieren. Dieses wird in Teilzeit mit Face-to-Face-Unterricht und Selbststudium durchgeführt und dauert in der Regel sechs Monate. Hinzu kommt ein mindestens zwölftägiges von einem Arzt betreutes Praktikum in einem bestimmten klinischen Gebiet. Damit wählen die Aspiranten ihren Kompetenzbereich, der später ausgeweitet werden kann.

In Apotheken nur wenige Verschreiber

Das Angebot wird aber offenbar bislang nicht so gut angenommen. Anfang November 2015 waren beim General Pharmaceutical Council (GPhC) für ganz Großbritannien rund 3950 Apotheker als Verschreiber registriert (ca. 8% aller dort eingetragenen Apotheker), davon rund 2600 als unabhängige Verschreiber. Nach einer Umfrage des GPhC im Herbst 2015 [16] arbeitete fast die Hälfte der Rückläufer (Response-Rate: 17%) im Krankenhaus, 30 Prozent bei einem Allgemein-/Hausarzt und nur 8 Prozent in einer öffentlichen Apotheke. Fast 90 Prozent gaben an, Verschreibungen getätigt zu haben, mehr als ein Viertel davon auch ohne direkten Kontakt mit dem Patienten, sondern zum Beispiel per Telefon (73%) oder online (10%). Rund ein Drittel tätigte in einer Woche allerdings nur Verordnungen für fünf oder weniger Patienten. 10 Prozent kamen auf 21 bis 30 Patienten.

Aufwand für die Apotheken zu hoch

Als Hindernisse für ihre Tätigkeit als Verschreiber nannten die Befragten mangelnde Ressourcen und Unterstützung durch das Umfeld, mangelnde Gelegenheiten und die fehlende Akzeptanz ihrer Rolle durch die Ärzte. Außerdem fühlen sich einige nicht gut genug ausgebildet für diese verant­wortungsvolle Aufgabe und trauen sich nicht zu, eine Erst-Diagnose zu stellen.

Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse von acht Selbstbehandlungsinitiativen im Auftrag der Europäischen Kommission, darunter auch das Non-Medical Prescribing sind die Kosten dafür auf Anbieterseite, das heißt in den Apotheken, zu hoch, um aus gesellschaftlicher Sicht einen positiven Nettonutzen daraus ziehen zu können. Das Personal muss speziell geschult werden und die Beratung der Patienten ist erheblich aufwendiger. Positiv wird die Kosteneinsparungsbilanz höchstens aus der Sicht der Patienten, die sich den Gang zum Arzt sparen [12].

Sonderfall „Patient Group Directions“

Eine weitere, besondere Möglichkeit für Apotheker in Großbritannien, rezeptpflichtige Arzneimittel eigenständig ohne ein individuelles Rezept abzugeben, sind die sogenannten „Patient Group Directions“ (PGD). Hierbei handelt es sich um individuelle Vereinbarungen zwischen Arzt und Apotheker, die sich auf bestimmte Gruppen von Patienten und bestimmte Arzneimittel erstrecken. Das britische Institute for Health and Care Excellence (NICE) hat hierzu eine eigene Guideline herausgegeben [17].

„Prescription for Excellence” in Schottland

In Schottland arbeiten Apotheker schon seit Anfang der 1990er-Jahre in Hausarzt-Praxen. Derzeit gibt es dort mehr als 750 Apotheker (rund 20%), die entweder bereits unabhängige Verschreiber sind oder die Ausbildung dazu begonnen haben [14].

Nun wollen die Schotten das Modell mit großem Einsatz flächendeckend umsetzen. Näheres ist in dem „Vision and Action Plan” mit dem Titel „Prescription for Excellence” von September 2013 niedergelegt [18]. Nach der Vision der schottischen Regierung sollen bis zum Jahr 2023 alle Apotheker, die im Rahmen des National Health Service eine pharmazeutische Betreuung anbieten, zu NHS-akkreditierten „clinical pharmacist independent prescribers” werden und in enger Partnerschaft mit den niedergelassenen Ärzten arbeiten. Diese behalten ihrerseits die volle Verantwortung für die Diagnose. Um die Kontinuität und Konsistenz der Betreuung zu gewährleisten, sollen die Patienten jeweils einem bestimmten Apotheker zugeordnet werden, was beim NHS entsprechend registriert wird [14].

Schweiz: Abgabe ohne Rezept soll zunehmen

Nach der Revision des schweizerischen Heilmittelgesetzes im März 2016 sollen auch dort die Kompetenzen für die Abgabe rezeptpflichtiger Arzneimittel ohne Verordnung ausgeweitet werden, um die Selbstmedikation zu vereinfachen. Gedacht wird dabei zunächst an bestimmte Arzneimittelgruppen und Indikationen. Die hierfür notwendigen Ausführungsbestimmungen werden derzeit erarbeitet. Die Anhörung (Vernehmlassung) dazu wurde am 21. Juni 2017 gestartet. Sie dauert bis zum 20. Oktober 2017 [19].

Bereits jetzt erfüllen die Schweizer Apotheker im Rahmen des Projektes „netCare“ eine wichtige Triage-Funktion in der Gesundheitsversorgung (s. die Beiträge S. 64 „Telemedizin – die Medizin der Zukunft?“ und S. 72 „Impfen in der Apotheke“ in dieser DAZ-Ausgabe). Dabei nehmen speziell weitergebildete Apotheker anhand von vorgegebenen Ablaufdiagrammen (Algorithmen) in der Apotheke eine Erstabklärung gesundheitlicher Beschwerden vor. Bei Bedarf wird ein Arzt per Telefon oder Videokonferenz zu Rate gezogen. Eine Pilotphase von NetCare zwischen April 2012 und Juni 2014 mit 200 beteiligten Apotheken wurde erfolgreich ab­geschlossen. Rund drei Viertel der Fälle konnten die Apo­theker selbstständig lösen [20}.

Apotheker verschreiben auch in Kanada

In Kanada wurde die Verschreibung durch Apotheker im Jahr 2007 erstmals legalisiert, und zwar in der Provinz Alberta im Rahmen des „Pharmacist-led ambulatory condition program“ (PACP). Fünf andere Provinzen (Nova Scotia, Saskatchewan, Manitoba, New Brunswick und Prince Edward Island) haben diesbezüglich nachgezogen. Andere sind auf dem Weg dahin, die Verschreibung durch Apotheker in unterschiedlichem Umfang zuzulassen. Eine provinzübergreifende Initiative hierzu gibt es bislang nicht. Seit Februar 2012 ist die Regierung von Saskatchewan die erste in Kanada, die die Apotheker für Verordnungen bei geringfügigen Gesundheitsstörungen bezahlt (18 Kanadische Dollar, d. h. ca. 15,20 Euro pro Fall) [21, 22].

Fazit

Die Ausweitung der Kompetenzen der Apotheker hinsichtlich der Rezeptpflicht ist ein sehr sensibles Feld. In einigen Ländern, vor allem in Großbritannien gibt es hierzu bereits einige Erfahrungen, die jedoch gewisse Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Praktikabilität aufkommen lassen. Auch die Schweizer Apotheker tasten sich diesbezüglich weiter vor. Demgegenüber können sich die deutschen Apotheker in Sachen Selbstmedikation im europäischen Vergleich durchaus sehen lassen. Sollte „der Schuster“ also besser bei seinen Leisten“ bleiben? Weitere gezielte Untersuchungen dürften nötig sein, um der Antwort auf diese Frage ein Stück näher zu kommen. |

Literatur

 [1] European Commission. A Guideline on changing the classification for the supply of a medicinal product for human use. Revision January 2006. https://ec.europa.eu/health/sites/health/files/files/eudralex/vol-2/c/switchguide_160106_en.pdf

 [2] Sucker-Sket K. Schalter auf rezeptfrei. Wie der Switch von verschreibungspflichtig auf rezeptfrei abläuft. Deutsche Apotheker Zeitung 2017;157(27):22-26.

 [3] Bundesgesetz vom 25. Oktober 1972 über die Abgabe von Arzneimitteln auf Grund ärztlicher Verschreibung (Rezeptpflichtgesetz). BGBl. Nr. 413/1972, in der geltenden Fassung

 [4] Verordnung des Bundesministers für Gesundheit und Umweltschutz vom 30. August 1973 über rezeptpflichtige Arzneimittel (Rezeptpflichtverordnung). BGBl. Nr. 475/1973, in der geltenden Fassung

 [5] Verordnung über die Arzneimittel (Arzneimittelverordnung, VAM) vom 17. Oktober 2001 (Stand am 1. Mai 2016).

 [6] https://pharmama.ch/2016/08/31/ueber-die-gueltigkeitsdauer-von-rezepten-in-der-schweiz/

 [7] Code de la Santé Publique, Art. L. 5132-6, Art. R.5132-21 und Art. R.5132-22. www.legifrance.gouv.fr

 [8] Geneesmiddelenwet (Niederländisches Arzneimittelgesetz), Stand: 01.08.2016. Art. 57. wetten.overheid.nl

 [9] Afipa. 3ème Observatoire Européen sur l‘automédication. www.afipa.org.

[10] Kroth E. Switch – Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da? Gesundh ökon Qual manag 2017;22:S3-S11.

[11] Blasius H. Impfen? Das können Apotheker auch. Deutsche Apotheker Zeitung 2016;156(41):20-41.

[12] Ostermann H, Renner AT, Bobek J. Schneider P. Vogler S. A cost/benefit analysis of selfcare systems in the European Union. Final report. April 2015.

[13] Paudyal V, Watson MC, Sach T, Porteous T, Bond CM, Wright DJ, Cleland J, Barton G, Holland R. Are pharmacy-based minor ailment schemes a substitute for other service providers? A systematic review. Br J Gen Pract. 2013 Jul;63(612):e472-81.

[14] Stewart D, Jebara T, Cunningham S, Awaisu A, Pallivalapila A, MacLure K. Future perspectives on nonmedical prescribing. Ther Adv Drug Saf. 2017 Jun;8(6):183-197

[15] Weeks G, George J, Maclure K, Stewart D. Non-medical prescribing versus medical prescribing for acute and chronic disease management in primary and secondary care. Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 11. Art. No.: CD011227. DOI: 10.1002/14651858.CD011227.pub2.

[16] General Pharmaceutical Council. Prescribers survey report. www.pharmacyregulation.org.

[17] National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Patient Group Directions Medicines practice guideline [MPG2] Published date: August 2013 Last updated: March 2017. www.nice.org.uk

[18] The Scottish Government. Prescription for excellence: a vision and action plan for the right pharmaceutical care through integrated partnerships and innovation. September 2013. www.gov.scot

[19] https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/mensch-gesundheit/biomedizin-forschung/heilmittel/aktuelle-rechtsetzungsprojekte/ordentliche-revision-hmg.html?_organization=317

[20] Blasius H. Nicht für alles ein Rezept. Das Gesundheits-und Apothekenwesen in der Schweiz – ein Überblick. Deutsche Apotheker Zeitung 2016;156(24):22-27

[21] Taylor JG, Joubert R. Pharmacist-led minor ailment programs: a Canadian perspective. Int J Gen Med. 2016 Aug 10;9:291-302.

[22] Lee R, McCarthy L. Canadian „minor ailments” programs: Unanswered questions. Can Pharm J (Ott) 2015 Nov; 148(6):302-304.


Autorin

Dr. Helga Blasius ist Fachapothekerin für Arzneimittelinformation, Dipl.-Übersetzerin (Japanisch, Koreanisch) und regelmäßige Autorin der DAZ.

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