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Experimentierphase mit ungewollten Nebenwirkungen?

IQWiG sieht frühe Nutzenbewertung positiv, Hersteller beklagen Verfahrensdefizite

BERLIN (ks). Ein gutes Jahr ist das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) nun in Kraft. Sein Herzstück ist die frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. Diese soll künftig dafür sorgen, dass patentgeschützte Arzneimittel einen Preis haben, der ihrem Zusatznutzen gegenüber bereits vorhandenen Therapien angemessen ist. Seit November letzten Jahres hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bereits zehn Dossiers von Arzneimittelherstellern bewertet. Das Kölner Institut ist mit seiner bisherigen Arbeit sehr zufrieden – die forschenden Pharma-Unternehmen sehen sie hingegen kritisch. Sie halten es für nötig, an einigen Stellen des Verfahrens nachzubessern.

24 Präparate durchlaufen derzeit das Verfahren der frühen Nutzenbewertung. Brilique® (Ticagrelor) von AstraZeneca ist dabei das einzige, für das bereits ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zum Zusatznutzen vorliegt. Die Verhandlungen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband über den künftigen Erstattungsbetrag sind bereits angelaufen – auf das Ergebnis wartet man gespannt.


Jürgen Windeler: "Es hat sich bestätigt, dass das Verfahren funktioniert". Foto: MDS

Windeler: Ein transparentes Verfahren

Das IQWiG bilanzierte die ersten Nutzenbewertungen in der vergangenen Woche als "insgesamt positiv". "Es hat sich bestätigt, dass das Verfahren funktioniert. Es führt zu wichtigen und praktisch relevanten Ergebnissen", erklärte Institutsleiter Jürgen Windeler. Es zeige sich nun auch, dass die Regelungen des AMNOG einen erheblichen Zugewinn an Transparenz bringen: "Jeder kann nachlesen, welche Unterlagen und Argumente ein Hersteller vorlegt, und jeder kann nachvollziehen, wie wir zu unserem Ergebnis gekommen sind. Alle Informationen, auf denen die Bewertung beruht, werden publiziert."

Von den insgesamt zehn bislang veröffentlichten Bewertungen habe das IQWiG drei Wirkstoffen zumindest für einige Patientengruppen einen "beträchtlichen", einem einen "geringen" und zwei weiteren einen vorhandenen, aber "nicht quantifizierbaren" Zusatznutzen bescheinigen können. Windeler: "Das ist unter dem Strich ein deutlich positiveres Ergebnis als viele erwarteten." Er verweist auf "internationale Experten", die davon ausgingen, dass von 20 Wirkstoffen, die im Durchschnitt jährlich auf den Markt kommen, nur einer einen wirklichen Fortschritt bringe.

vfa vermisst Standards der evidenzbasierten Medizin

Doch aufseiten der Pharmaindustrie sieht man die Ereignisse der vergangenen Monate weniger rosig. Hier wachsen die Zweifel, dass es sich wirklich um ein faires Verfahren handelt, das auf den Standards der evidenzbasierten Medizin basiert. Birgit Fischer, Hauptgeschäftsführerin des Verbands forschender Pharma-Unternehmen (vfa) stimmt es bedenklich, dass bereits in der ersten Phase des Verfahrens – in der es eigentlich nur um den Zusatznutzen gehen sollte – der Spargedanke durchschlage. Zudem bemängelt sie, dass Erkenntnisse der Zulassungsbehörden ausgeblendet würden.

Birgit Fischer: "Erkenntnisse der Zulassungsbehörden werden ausgeblendet". Foto: vfa

Konkret kritisiert Fischer etwa die "Salamitaktik" des IQWiG, ein Anwendungsgebiet in mehrere Subgruppen zu unterteilen, für die der Hersteller jedoch schlicht keine Daten liefern könne. Aber auch die Beurteilung von zwei Hepatitis-Mitteln (Boceprevir, Telaprevir) sieht Fischer mit Sorge: Das IQWiG fordere, dass der Erreger nachweislich dauerhaft nicht mehr im Blut zu finden ist – ist dies der Fall, verringere sich das Risiko von Folgeerkrankungen, so auch der Leberzirrhose. Konkret konnte das Institut lediglich einen "nicht quantifizierbaren" Zusatznutzen feststellen. Denn die wissenschaftliche Datenlage erlaube keine abschließende Einschätzung, bei wie vielen Patienten tatsächlich ein Leberkrebs verhindert werde, so das IQWiG. Für den vfa eine nicht haltbare Argumentation: Es könne schließlich 20 oder 30 Jahre dauern, ehe man sicher feststellen könne, dass ein Patient keine Leberzirrhose bekomme. Ähnliche Anforderungen – Daten, die bis an das Lebensende eines Patienten reichen – befürchtet man beim vfa nun beispielsweise bei der Bewertung eines neuen HIV-Mittels. Dr. Siegfried Throm, vfa-Geschäftsführer Forschung/Entwicklung/Innovation, sieht hier "Unethisches" von den Herstellern gefordert. Von "Rechtsbruch" spricht er gar, wenn er an die erste Dossierbewertung eines Orphan Drug denkt. Hier hatte das IQWiG keinen Zusatznutzen festgestellt – obwohl das SGB V sagt, bei Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen gelte der Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt. Ein weiteres Defizit im IQWiG-Verfahren sieht der vfa darin, dass Drittlinienpräparate mit Erst- oder Zweitlinienpräparaten verglichen würden – für die Hersteller schlicht ein Unding.

Expertise der Zulassungsbehörden berücksichtigen

Fischer gibt sich in ihrer Wortwahl zurückhaltender als ihr Kollege. Doch auch sie konstatiert noch erhebliche Umsetzungsprobleme. Zwar handele es sich bei dem neuen Verfahren um einen "lernenden Prozess" – doch eine "Experimentierphase mit ungewollten Nebenwirkungen" dürfe dies nicht werden. Um dem entgegenzuwirken und nicht revisible Fehler zu verhindern, müsse man nicht zwingend gesetzlich nachsteuern. Schließlich sei es eine Selbstverständlichkeit, dass man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen könne, so die vfa-Chefin. Darüber hinaus hält sie es für nötig, ein Korrektiv ins Verfahren einzubauen, damit die Erkenntnisse der Zulassungsbehörden – BfArM und EMA – mit in die Bewertung einfließen können. Denkbar wäre zudem ein Beirat, über den die Expertise von Fachgesellschaften hinzugezogen werden kann.

IQWiG weist Kritik zurück

Auch wenn die Töne nicht so scharf sind, wie in den Zeiten von Windelers Vorgänger Peter Sawicki – das IQWiG sieht sich durch die Herstellerverbände in "nicht gerechtfertigter Weise angegriffen". Windeler: "Die Kritik ist sachlich nicht haltbar, in einigen Punkten nachweislich falsch". Dies betreffe etwa den Vorwurf, das IQWiG "zerstückle" Studien und unterteile Patienten beziehungsweise Indikationen willkürlich so lange, bis für die Untergruppen keine Daten verfügbar seien. Das IQWiG und der G-BA müssten sich vielmehr an den Zulassungsstatus und an die Fachinformation halten. Bei den Berichten, die in der oben beschriebenen Weise kritisiert wurden, habe das Problem darin bestanden, dass der Zulassungsstatus nicht mit den Einschlusskriterien der Zulassungsstudien in Deckung zu bringen war. "Das ist in der Tat ein Problem, aber keines, das dem IQWiG zur Last gelegt werden kann", sagt Windeler.

Auch die Behauptung, das IQWiG fordere unethische Studien, weist Windeler zurück. So habe das IQWiG etwa bei der Bewertung der zwei Wirkstoffe zur Behandlung der Hepatitis-C-Infektion "keineswegs gefordert, dass erst noch bewiesen werden müsse, die Mittel könnten Leberkrebs verhindern". Im Gegenteil habe man den Surrogat-Endpunkt, dass Viren nicht mehr nachweisbar sind, als valide anerkannt und einen Zusatznutzen ausdrücklich bestätigt. Sein Ausmaß habe sich aus den vorliegenden Daten jedoch nicht ausreichend ableiten lassen – in der Sprache des AMNOG heißt dies: Zusatznutzen "nicht quantifizierbar".

Neue Prozesse müssen sich einspielen

Letztlich hätte es auch stark verwundert, wenn die ersten frühen Nutzenbewertungen für alle Beteiligten optimal verliefen. Neue Prozesse müssen sich einspielen. Der vfa will auf die potenziellen Problemfelder hinweisen, ohne dabei das IQWiG und seinen Leiter persönlich anzugreifen. Es muss sich nun zeigen, wann sich das Verfahren eingespielt hat. Die jetzt in der frühen Nutzenbewertung befindlichen Produkte konnten sich in der Zulassungsphase noch nicht auf die neuen Anforderungen einstellen – in Zukunft kann das anders sein. Insbesondere wenn Hersteller und G-BA die Möglichkeit bekommen sollten, sich schon vor Beginn von Phase III-Studien über eine Vergleichstherapie abzustimmen. Dieser Idee ist jedenfalls auch der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn zugetan.

Reibereien bei Aushandlung der Erstattungsbeträge

Ein anderes Problemfeld ist die der frühen Nutzenbewertung anschließende Aushandlung der Erstattungsbeträge. Hier wird es zu neuen Reibereien kommen – insbesondere mit den Krankenkassen. Die halten beispielsweise nichts davon, diese künftigen Rabatte vertraulich zu halten. Die forschenden Hersteller halten hingegen eine gesetzliche Nachjustierung in diesem Punkt für nötig – und auch für umsetzbar.


Zum Weiterlesen


Probleme bei früher Nutzenbewertung: Gibt es Alternativen zum AMNOG?

DAZ 2011, Nr. 47, S. 84ff


Frühe Nutzenbewertung: Hess zweifelt an Milliarden-Einsparung

DAZ 2011, Nr. 46, S. 20


Arzneimittelfragen im G-BA: BPI fordert mehr Mitsprache

DAZ.online, Meldung vom 11.11.2011




DAZ 2012, Nr. 7, S. 38

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