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Debatte
Paracetamol: Wolf im Schafspelz oder Haushund?
Der Aufsatz von Brune [1] und der Kommentar von Kops et al. [2] versprachen den Beginn einer spannenden wissenschaftlichen Diskussion, die Apotheker wie Ärzte interessieren muss: welches Risiko hat das viel gebrauchte Paracetamol? Da folgte den sprachlich brillant vertretenen Thesen von Brune die wissenschaftlich stringente Replik. Doch was folgt dann? Ein "Basta" von Brune [3], das als abschließendes Statement überschrieben ist. Kein Eingehen auf die vorgetragenen Argumente, sondern die Wiederholung seiner ursprünglich vorgetragenen Thesen und der Forderung nach Unterstellung von Paracetamol unter die Verschreibungspflicht. Dies allein ist bedauerlich, doch noch mehr enttäuscht, dass zahlreiche Aussagen nicht durch die zitierte Literatur unterstützt werden oder den Referenzen sogar direkt widersprechen. Da nützt es auch nicht, die "bullet points" lustig als hässliche Kröten zu bezeichnen. Einige Beispiele:
Leberschäden
Die bekannten und durch hohe Dosen ausgelösten Leberschäden kommen laut Brune auch bei niedrigen Dosierungen von Paracetamol vor. Seine erste Referenz [4] ist eine Übersicht zur Situation in den USA, die aber zur Toxizität niedriger Dosen von Paracetamol nur sagt, dass diese wohl häufiger in Verbindung mit Alkoholkonsum aufträten. Die zweite Referenz [5] gibt an, dass 6 von 22 Patienten mit einem Leberversagen 3 bis 5 g Paracetamol eingenommen hätten. Worauf sich diese Angabe stützt, ist der Arbeit leider nicht zu entnehmen; auch nicht, ob ein ursächlicher Zusammenhang hergestellt werden konnte.
Blutdrucksteigerung
Brune erläutert mit Hinweis auf eine Arbeit [6], deren Koautor er ist, dass der Blutdruck erhöht werde, weil Paracetamol ein nicht-selektiver Hemmer der Cyclooxygenase-2 sei. Im Titel dieser Arbeit wird aber Paracetamol als selektiver Hemmstoff bezeichnet!
Chan et al. [7] sehen eine Korrelation zwischen kardiovaskulären Ereignissen und häufigem Gebrauch sowohl von Paracetamol wie von NSAIDs, insbesondere bei Rauchern. In der Nurses’ Health Study [8] wurde gezeigt, dass Paracetamol genauso wie NSAIDs mit dem vermehrten Auftreten von Hochdruck korreliert war. Kardiovaskuläre Ereignisse hingegen wurden in dieser Arbeit gar nicht dargestellt. Diese Studien können – wie alle epidemiologischen Studien – allenfalls Korrelationen aufzeigen, keine Kausalitäten!
Blutungsrisiko durch Kombinationen
Rahme [9] soll laut Brune festgestellt haben, dass die Kombination von Paracetamol mit ASS besonders häufig zu Magen-Darm-Blutungen führe.
Diese Autoren schließen jedoch sehr vorsichtig, dass das Risiko von Nebenwirkungen der NSAIDs im oberen Magen-Darm-Trakt durch Kombination mit Paracetamol gesteigert wird.
In einer früheren Arbeit dieser Autoren [10] wird angegeben, dass das Risiko einer Hospitalisation wegen gastrointestinaler Komplikationen durch die Kombination von ASS mit Paracetamol gleichermaßen wie bei Ibuprofen geringfügig (hazard ratio von 1,2 auf 1,5) gesteigert wird. Ob die gefundenen Korrelationen eine Bedeutung für die Paracetamol-Verwendung in der Selbstmedikation haben, ist äußerst zweifelhaft, zeigen sie doch keine Nachteile von Paracetamol gegenüber anderen NSAIDs auf.
Asthma
Die Aussage "Hohe Paracetamolkonzentrationen … können zu Asthmaanfällen führen" wird mit einem Fallbericht [11] begründet, in dem weder Asthmaanfälle noch hohe Dosen eine Rolle spielen. Vielmehr geht es dort um eine anaphylaktische Reaktion, wie sie bei Paracetamol sehr selten ist [12].
Mehrere Studien befassen sich mit der Frage, ob bei Kindern nach intrauteriner oder frühkindlicher Exposition vermehrt Asthma auftritt. Eine solche Assoziation findet sich gleichermaßen für Paracetamol wie für NSAIDs [13] und Antibiotika [14 – 17]. Besonders die einzige prospektive Studie [18] spricht dafür, dass pulmonale Infekte, nicht aber deren Therapie bei der Entstehung von Asthma eine Rolle spielen ("confounding by indication"). Nach Bewertung aller einschlägigen Publikationen [18 – 27] konnte die europäische Pharmacovigilance Working Party keinen Kausalzusammenhang zwischen der Einnahme von Paracetamol und dem Auftreten von Asthma erkennen [28].
Fertilitätsstörungen
Die beiden von Brune angeführten Arbeiten [29, 30] befassen sich nicht mit Fertilität, sondern mit dem Auftreten von Hodenhochstand. Die Ergebnisse sind widersprüchlich und lassen nicht erkennen, dass Paracetamol ein höheres Risiko als andere schwachen wirksamen Analgetika hat.
Im "abschließenden Statement zur Sicherheit" führt Brune noch aus: "Es ist keine Seltenheit, dass der Rechtsmediziner Paracetamol im Blut scheinbar grundlos verstorbener Kleinkinder findet." Beide zitierten Arbeiten belegen diese Aussage nicht. Eine [31] beschreibt 10 Todesfälle bei Kindern, bei denen möglicherweise Erkältungsmittel beteiligt sind. In drei Fällen wurden Paracetamol-Plasmakonzentrationen über 10 mg/l gemessen. Die Diagnosen bei diesen Todesfällen waren Klebsiellen-Sepsis, Intoxikation mit Dextromethorphan, Ephedrin, Pseudoephedrin und Carbinoxamin sowie SIDS (Sudden Infant Death Syndrome). Im letzteren Falle hatte der Hausarzt den Verdacht auf eine Vergiftung durch OTC-Medikamente geäußert, der aber vom amtlichen Leichenschauer nicht bestätigt wurde. In Israel ist Paracetamol zwar eine häufige Ursache von Vergiftungen, jedoch ist der einzige Todesfall im Kleinkindalter in dieser Studie als Kohlenmonoxidvergiftung beschrieben [32].
Eine kritische Nutzen-Risiko-Bewertung auch von altbekannten Wirkstoffen ist von großer Wichtigkeit, besonders wenn es sich um bei Kindern viel verwendete Präparate handelt. Eine solche Bewertung erfolgt auch regelmäßig im Rahmen der Pharmakovigilanz sowohl national wie international. Die diskrepante Beurteilung von Brune und dem zuständigen europäischen Gremium allein ist Anlass, die Diskussion nicht abzuschließen. Dazu kommt, dass die von Brune [1, 3] in der DAZ publizierten Arbeiten erhebliche Zweifel daran aufkommen lassen, dass der Bewertung eine adäquate wissenschaftliche Analyse der Literatur vorausgegangen ist. Vielmehr erweckt sie den Anschein, dass die Forderung nach Einschränkung des Vertriebs von Paracetamol das primum movens war und nicht das Ergebnis der Bewertung. Sonst wären begründete Einwände [2] nicht ignoriert worden. Unter dem Schafspelz hat sich wohl nur ein Abkömmling des Wolfes, nämlich ein ganz normaler Haushund versteckt.
Der Stil der Diskussion trägt nicht zur Arzneimittelsicherheit bei und ist einem so wichtigen Thema völlig unangemessen. Weder Eltern noch Kindern wird geholfen, wenn ein gut untersuchter Wirkstoff mit bekannten Risiken durch andere, weniger gut untersuchte mit (noch) nicht bekannten Gefahren ersetzt wird. Die Diskussion über die Auswahl und den sinnvollen Gebrauch von Analgetika sollte auf der Basis von Daten, nicht von Behauptungen, geführt werden.
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Dr. med. Christian Steffen, FA für Pharmakologie und Toxikologie, Direktor und Professor i. R., Andreas-Schlüter-Str. 19, 53639 Königswinter
Erklärung zu Interessenkonflikten: Dr. Christian Steffen erklärt, keine Interessenkonflikte zu haben.
Literatur[1] Brune K: Paracetamol: Ein Wolf im Schafspelz läuft frei herum. DAZ, 2010. 2010(49): p. 42 – 43.[2] Kops M, et al.: Paracetamol: altbewährt oder riskant? DAZ, 2011. 2011(7): p. 68 – 70.[3] Brune K: Paracetamol: Ein abschließendes Statement. DAZ, 2011; 151(8): 60 – 63.[4] Lee, WM: Acetaminophen toxicity: changing perceptions on a social/medical issue. Hepatology, 2007; 46(4): 966 – 70.[5] Canbay A, et al.: Acute liver failure in a metropolitan area in Germany: a retrospective study (2002 – 2008). Z Gastroenterol, 2009; 47(9): 807 – 13.[6] Hinz B, Cheremina O, Brune K: Acetaminophen is a selective cyclooxygenase-2 inhibitor in man. Faseb J, 2008; 22(2): p. 383 – 90.[7] Chan AT, et al.: Nonsteroidal antiinflammatory drugs, acetaminophen, and the risk of cardiovascular events. Circulation, 2006; 113(12): p. 1578 – 87.[8] Forman JP, et al: Non-narcotic analgesic dose and risk of incident hypertension in US women. Hypertension, 2005; 46(3): 500 – 7.[9] Rahme E, et al.: Hospitalizations for upper and lower GI events associated with traditional NSAIDs and acetaminophen among the elderly in Quebec, Canada. Am J Gastroenterol, 2008; 103(4): 872 – 82.[10] Rahme E, et al.: Hospitalization for gastrointestinal adverse events attributable to the use of low-dose aspirin among patients 50 years or older also using non-steroidal anti-inflammatory drugs: a retrospective cohort study. Aliment Pharmacol Ther, 2007; 26(10):1387 – 98.[11] Ho MH, et al.: Anaphylaxis to paracetamol. J Paediatr Child Health, 2008; 44(12): 746 – 7.[12] Stephenson I, Nightingale JM: Commentary-anaphylactic reactions to paracetamol. Postgrad Med J, 2000; 76(898): 503.[13] Marquis A, et al.: Paracetamol, nonsteroidal anti-inflammatory drugs, and risk of asthma in adult survivors of childhood cancer. J Allergy Clin Immunol, 2010; 127(1): 270 – 2.[14] Foliaki S, et al.: Antibiotic use in infancy and symptoms of asthma, rhinoconjunctivitis, and eczema in children 6 and 7 years old: International Study of Asthma and Allergies in Childhood Phase III. J Allergy Clin Immunol, 2009; 124(5): 982 – 9.[15] Risnes KR, et al.: Antibiotic exposure by 6 months and asthma and allergy at 6 years. Am J Epidemiol, 2010; 173(3):310 – 8.[16] Sobko T, et al.: Neonatal sepsis, antibiotic therapy and later risk of asthma and allergy. Paediatr Perinat Epidemiol, 2010. 24(1): 88 – 92.[17] Wickens K, et al.: Antibiotic use in early childhood and the development of asthma. Clin Exp Allergy, 1999; 29(6):766 – 71.[18] Lowe AJ, et al.: Paracetamol use in early life and asthma: prospective birth cohort study. BMJ 2010; 341: c4616.[19] Amberbir A, et al.: The role of acetaminophen and geohelminth infection on the incidence of wheeze and eczema: a longitudinal birth-cohort study. Am J Respir Crit Care Med, 2011; 183(2): 165 – 70.[20] Bakkeheim E, et al.: Paracetamol in early infancy: the risk of childhood allergy and asthma. Acta Paediatr, 2010; 100(1): 90 – 6.[21] Beasley RW, et al.: Acetaminophen use and risk of asthma, rhinoconjunctivitis, and eczema in adolescents: International Study of Asthma and Allergies in Childhood Phase Three. Am J Respir Crit Care Med, 2010; 183(2): 171 – 8.[22] Garcia-Marcos L, et al.: Early exposure to acetaminophen and allergic disorders. Curr Opin Allergy Clin Immunol, 2009; 11(3): 162 – 73.[23] Kang EM, et al.: Prenatal exposure to acetaminophen and asthma in children. Obstet Gynecol, 2009; 114(6): 1295 – 306.[24] Mitchell EA, et al.: Cross-sectional survey of risk factors for asthma in 6-7-year-old children in New Zealand: International Study of Asthma and Allergy in Childhood Phase III. J Paediatr Child Health, 2009.[25] Perzanowski MS, et al.: Prenatal acetaminophen exposure and risk of wheeze at age 5 years in an urban low-income cohort. Thorax, 2010. 65(2): p. 118 – 23.[26] Scialli AR, et al.: Childhood asthma and use during pregnancy of acetaminophen. A critical review. Reprod Toxicol, 2010; 30(4): 508 – 19.[27] Wickens K, et al: The effects of early and late paracetamol exposure on asthma and atopy: a birth cohort. Clin Exp Allergy, 2011; 41(3): 399 – 406.[28] Pharmacovigilance_Working_Party, Monthly report, February 2011 plenary meeting. 2011, http://www.ema.europe.eu/docs/en_GB/document_library/Report/2011/02/WC500102322.pdf.[29] Jensen JF, et al.: Paracetamol for feverish children: parental motives and experiences. Scand J Prim Health Care, 2010; 28(2): 115 – 20.[30] Kristensen DM, et al.: Intrauterine exposure to mild analgesics is a risk factor for development of male reproductive disorders in human and rat. Hum Reprod, 2011; 26(1): 235 – 44.[31] Marinetti L, et al.: Over-the-counter cold medications - postmortem findings in infants and the relationship to cause of death. J Anal Toxicol, 2005; 29(7): 738 – 43.[32] Bentur Y, et al.: Pediatric poisonings in Israel: National Poison Center data. Isr Med Assoc J, 2010; 12(9): 554 – 9.
Paracetamol: wo bleibt das Positive?
Eine Antwort von Prof. Dr. Dr. Kay Brune, Ursula Niederweis, FAU Erlangen-Nürnberg
Die Entscheidung des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht des BfArM über meinen (Brunes) Antrag, Paracetamol der Rezeptpflicht zu unterstellen, rückt näher. Dementsprechend melden sich Kritiker zu Wort – im konkreten Fall Herr Kollege Christian Steffen, ein ehemaliger Verantwortlicher des BfArM, der – wie vor ihm die Kollegin Kops und der Kollege Kroth – Paracetamol auf dem freiverkäuflichen Markt nicht missen möchte. Seine Ausführungen folgen im Duktus denjenigen von Frau Kops und Herrn Kroth; allerdings sind sie weniger konziliant formuliert. Inhaltlich treten keine neuen Aspekte auf. Herr Kollege Steffens Schlusstenor deckt sich mit dem seiner Vorkommentatoren: "Niemandem wird geholfen, wenn ein gut untersuchter Wirkstoff durch andere, weniger gut untersuchte mit nicht bekannten Gefahren ersetzt wird". Die Frage jedoch, welche guten Untersuchungen Herr Kollege Steffen meint und welche unbekannten Risiken er für Alternativen (wie z. B. Ibuprofen und Diclofenac; beide wirken – evidenzbasiert – zuverlässig und sind bei Überdosierung nicht letal [1 – 2]) erwartet, bleibt offen.
Wissenschaftliche Evidenz für rezeptfreie Wirkstoffe?
Bei Zulassung eines neuen Wirkstoffes oder bei Entlassung eines alten in die Rezeptfreiheit geht es darum, festzustellen, ob ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis gegeben ist. Entscheidungsgrundlage war und ist immer ausreichende wissenschaftliche Evidenz. Umgekehrt muss dies bedeuten, dass bereits im rezeptfreien Gebrauch befindliche Wirkstoffe nach denselben Kriterien evaluiert werden und bei fehlender Evidenz oder einem negativen Nutzen-Risiko-Verhältnis den bestehenden Status verlieren (vgl. z. B. Metamizol).
Die Entscheidung, einen Wirkstoff der Rezeptpflicht zu unterstellen, ist schwierig. Offensichtlich glauben viele, was alt ist, hat sich bewährt, und mit "bekannten Risiken" kann man ja umgehen. (Die Psychologen nennen dieses Phänomen "Kontrollillusion".)
Anilinderivate: wenig untersucht!
Die 100-jährige Negativbilanz des Gebrauchs von Anilinderivaten hat nicht zu deren Elimination aus der rezeptfreien Schmerztherapie geführt. Nacheinander wurden das Acetanilid (Methämoglobinbildung) und das Phenacetin (Nierenschäden) [3] durch den Hauptmetaboliten des Phenacetins, das Paracetamol (Leberschäden), ersetzt. Es bleibt unklar, ob Paracetamol langfristig das Auftreten von Nierenschäden begünstigt – trotz einiger (industriefinanzierter) Studien [4]. Auch die Frage, inwieweit für nachfolgende Generationen Risiken durch die Verwendung von Paracetamol entstehen (Asthma, Hodenhochstand), bleibt offen. Der zu Beginn zitierten apodiktischen Feststellung von Herrn Kollege Steffens, Paracetamol sei "ein gut untersuchter Wirkstoff mit bekannten Risiken", steht vielmehr ein beeindruckendes Fehlen von gesichertem (evidenzbasiertem) Wissen zur Wirksamkeit und zum Nebenwirkungsprofil gegenüber.
In dubio pro reo?
Die bevorstehende Entscheidung des Sachverständigenausschusses sollte die ungeklärten Fragen jedoch nicht zur Basis einer Entscheidung machen. Unbestritten ist, dass Paracetamol schlecht wirkt [5 – 7], die Leber schädigt [8 – 10] – auch bei korrekter Dosierung [11 – 13] – und die Illusion trügt, das Antidot N-Acetylcystein könne die Leberschäden sicher antagonisieren. Diese Nachteile lassen sich nicht eliminieren, sondern höchstens klein reden. Dieses Verharmlosungsritual wird der Problematik nicht gerecht: Leberversagen durch Paracetamol muss nicht sein!
Eine vergleichende Risikobewertung aller im rezeptfreien Gebrauch befindlichen analgetischen Wirkstoffe durch das BfArM steht immer noch aus. Ob ein langjähriger Gebrauch eines Arzneimittels allein positive Rückschlüsse auf Sicherheit, Wirksamkeit und Ähnliches zulässt, darf angezweifelt werden. Schließlich hat es auch mehr als 30 Jahre gedauert, bis z. B. das beliebte Hustenmittel Clobutinol vom (rezeptfreien) Markt genommen wurde.
Zusätzliche Publikationen
Aus Fairnessgründen möchten wir dem Wunsch von Herrn Kollegen Steffen entsprechen und relevante Kommentare diskutieren. Wir werden versuchen, nicht beckmesserisch an Kleinigkeiten haften zu bleiben:
Leberschäden
Herr Kollege Steffen weiß besser als wir, dass die Pharmakovigilanz in Deutschland kein Ruhmesblatt ist. Dementsprechend sind die Berichte zum Leberversagen (bei therapeutischer Dosierung) aus Deutschland selten. Die Publikation von Canbay wurde angeführt. Andere, ebenfalls wenig detaillierte Publikationen liegen vor [14]. Die Dunkelziffer ist sicher groß. Mir (Brune) sind zwei Fälle von akutem Leberversagen nach Paracetamol bekannt, die allerdings nie gemeldet wurden. In Anbetracht der ca. 500 Todesfälle in den USA und ebenso vielen in England pro Jahr [15 – 16], von denen ca. 50% keine Suizidversuche darstellen, erscheint diese Diskussion nachrangig.
Herr Kollege Steffen moniert meine (Brunes) Aussage: "Es ist keine Seltenheit, dass der Rechtsmediziner Paracetamol im Blut scheinbar grundlos verstorbener Kleinkinder findet." Ich (Brune) beziehe mich dabei vor allem auf die Publikation von Marinetti, der unter neun untersuchten Blutproben von verstorbenen Kleinkindern (jünger als 12 Monate) bei sieben Paracetamol im Blut fand. Herr Kollege Steffen stellt fest, dass daraus die Todesursache dieser Kinder nicht deduziert werden kann. Richtig, aber meine Überlegung ging in eine andere Richtung: Was hat Paracetamol im Blut von Neugeborenen und Kleinkindern (im ersten Lebensjahr) überhaupt zu suchen? Wäre es nicht geboten, gerade die Verwendung des Paracetamols sowie paracetamolhaltiger Mischpräparate im ersten Lebensjahr der Rezeptpflicht zu unterstellen? Schließlich gilt diese Rezeptpflicht auch für alle anderen, unseres Erachtens erheblich sichereren Wirkstoffe, wie Ibuprofen. Im Übrigen fehlen valide Daten zur Wirkung, Nebenwirkung, Kinetik etc. beim Kleinkind für Paracetamol genauso wie für alle anderen Analgetika, die jedoch – im Gegensatz zu Paracetamol – im ersten Lebensjahr nicht angewendet werden dürfen. Nicht nur in diesem speziellen Fall wird ganz offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen! Übrigens werden auch bei älteren Kindern mit akutem Leberversagen häufig Paracetamolspuren im Blut gefunden [17].
Blutdrucksteigerung
Das Wissen, dass Paracetamol die COX-2 stärker als die COX-1 hemmt (präferenzieller Hemmer), ist u. a. das Verdienst unserer Arbeitsgruppe. Unerwartet eindeutig fiel eine aktuelle, prospektive Kohortenstudie aus. Sudano et al. [18] zeigen, dass bereits nach 14 Tagen Paracetamoleinnahme der mittlere Blutdruck bei Patienten signifikant angestiegen war. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die längerfristige Einnahme von Paracetamol mit einer erhöhten Inzidenz von Herzinfarkten und Schlaganfällen einhergeht [19 – 20]. Leider wurde die von mir (Brune) zitierte Arbeit von Sudano von Herrn Kollegen Steffen übersehen.
Magen-Darm-Blutungen
Zusätzlich zu Rahme [21] kommen auch andere Autoren zu dem Schluss, dass Paracetamol die gastrointestinale Toxizität anderer NSAID bei gleichzeitiger Einnahme potenziert [22].
Asthma / Blutung
Paracetamol kann Blutgerinnungsstörungen und Asthmaattacken auslösen [23 – 24].
Soweit einige zusätzliche Fakten. Wie schon erwähnt, erlangte Paracetamol seine Rezeptfreiheit nicht nach gründlicher Prüfung (wie Diclofenac, Ibuprofen und Naproxen), sondern wurde als Altbestand dort positioniert. Wenn jetzt neue Risiken beschrieben werden, muss das Risiko-Nutzen-Verhältnis erneut (bzw. erstmalig) evidenzbasiert abgewogen werden: Paracetamol weist alle Nachteile eines Cyclooxygenasehemmers auf, es wirkt häufig unzureichend und löst zusätzlich häufig Leberschäden bis zu akutem Leberversagen aus. Wo bleibt das Positive?
Dass Herr Kollege Steffen beanstandet, unsere Bewertung und Sorge stünden nicht im Einklang mit den Bewertungen der internationalen Pharmakovigilanzgruppen, ist im Zeitalter von Fukushima ein schwaches und im Übrigen inkorrektes Argument. Die FDA hat kürzlich die Dosierung von Paracetamol auch in Mischanalgetika weiter reduziert [25] und erwägt weitere Schritte. Die AASLD (American Association for the Study of Liver Diseases) empfiehlt dringend weitere Maßnahmen, insbesondere gegen paracetamolhaltige Mischpräparate [26] – zumal die Verminderung der Verfügbarkeit von Paracetamol mit einer messbaren Verminderung von Leberversagen einherging [27].
Natürlich geben wir uns nicht der Illusion hin zu glauben, der Antrag auf Unterstellung von Paracetamol sei ein Selbstläufer. Die kritischen Reaktionen gegen diesen Vorschlag bestätigen das bekannte Zitat von Max Planck:
"Die Wahrheit triumphiert nie; ihre Gegner sterben nur aus."
Es besteht also – langfristig – Hoffnung, obwohl es natürlich auch um viel Geld geht [28].
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Kay Brune, Ursula Niederweis, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Fahrstr. 17, 91054 Erlangen
Erklärung zu Interessenkonflikten:Prof. Dr. Dr. Kay Brune hat in den vergangenen zehn Jahren die folgenden Firmen von Analgetika hinsichtlich der Anwendung (Möglichkeiten und Grenzzen) beraten: Aventis (Metamizol), Bayer (ASS, Naproxen), GlaxoSmithKline (Paracetamol), MSD (Coxibe), Novartis (Diclofenac, Lumiracoxib), Pfizer (Coxibe).
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