Lutz Boden (BAH) im Interview

„Mit 7 Cent holt man keine Produktion zurück“

Stuttgart - 07.10.2022, 13:44 Uhr

Lutz Boden, Abteilungsleiter Gesundheitsversorgung.beim BAH, zeigt auf, wo es beim Festbetragssystem hakt. (Foto: Svea Pietschmann / BAH)

Lutz Boden, Abteilungsleiter Gesundheitsversorgung.beim BAH, zeigt auf, wo es beim Festbetragssystem hakt. (Foto: Svea Pietschmann / BAH)


Die Festbeträge für Paracetamol in oralen Darreichungsformen sollen angehoben werden. Lutz Boden vom Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) bezweifelt, dass sich dadurch die Versorgungssituation bei den Fiebersäften für Kinder entspannen wird. Im Interview erläutert er, weshalb er eine grundlegende Überarbeitung des Festbetragssystems für erforderlich hält. Außerdem zeigt Boden auf, welche Fehler die Politik im Rahmen des geplanten GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes unbedingt vermeiden sollte.

DAZ: Mitte August schlug der GKV-Spitzenverband vor, die Festbeträge für Paracetamol in oralen Darreichungsformen anzuheben. Für Tabletten mit der Wirkstärke 500 mg soll der bisher gültige Festbetrag in Höhe von 1,50 Euro auf 3,47 Euro steigen. Herr Boden, was bedeutet das für die Paracetamol-haltigen Fiebersäfte? Wird sich die Versorgungssituation dadurch entspannen?

Boden: Das würde mich überraschen. Ich glaube nicht, dass diese Maßnahme entscheidend dazu beiträgt, die Lieferengpässe bei den Fiebersäften zu lösen.

DAZ: Erläutern Sie uns Ihre Zweifel bitte genauer.

Boden: Ein grundlegendes Problem der Festbetragsgruppenbildung wird an diesem Beispiel sehr deutlich. Es geht um Paracetamol in allen oralen Darreichungsformen. Neben Tabletten und Kapseln sind davon auch die flüssigen Arzneiformen betroffen, also beispielsweise Fiebersäfte für Kinder. Wenn der GKV-Spitzenverband nun eine Anhebung des Festbetrags auf Ebene des Apothekenverkaufspreises von 1,50 Euro auf 3,47 Euro für die nicht-verschreibungspflichtige Standardpackung Paracetamol-Tabletten 500 mg vorschlägt, dann scheint das auf den ersten Blick eine ordentliche Erhöhung zu sein. Sie trifft aber in diesem Maße eben nicht für die Säfte zu. Hier reden wir über eine Erhöhung um lediglich 7 Cent, und zwar von 1,36 Euro auf 1,43 Euro auf Ebene des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers. 7 Cent sollen also dazu dienen, um die seit Jahren anhaltenden Kostensteigerungen im Zulieferbereich und die Inflation von inzwischen 10 Prozent zu kompensieren? Das kann nicht funktionieren.

DAZ: Weshalb wirkt sich die vorgeschlagene Festbetragsanpassung in derselben Gruppe so unterschiedlich auf die Preise aus?

Boden: Die Festbetragssystematik sieht vor, dass eine Standardpackung definiert wird. Im vorliegenden Fall von Paracetamol sind es die 20 Tabletten mit der Wirkstärke 500 mg. Die Festbeträge für alle anderen Paracetamol-haltigen Präparate dieser Festbetragsgruppe mit abweichenden Packungsgrößen, Wirkstärken und Darreichungsformen werden nun anhand eines Regressionsverfahrens ermittelt. Damit handelt es sich also nicht um ein lineares Hoch- oder Herunterrechnen. Das Verfahren führt unter Berücksichtigung der Wirkstärkenvergleichsgröße dazu, dass die Säfte dabei gewissermaßen hinten runterfallen.

DAZ: Aber die aktuelle Versorgungssituation erfordert doch eine deutliche Anpassung der Festbeträge vor allem im Bereich der Fiebersäfte für Kinder und nicht unbedingt bei den Tabletten für Erwachsenen.

Boden: Die Festbeträge insgesamt bedürfen der Anpassung, aber hier müsste viel weiter differenziert werden. Die Festbetragsgruppe von Paracetamol umfasst zu viele unterschiedliche orale Darreichungsformen. Die bestehende Gesetzeslage müsste an dieser Stelle den Ermessensspielraum des Gemeinsamen Bundesausschusses bei der Gruppenbildung sachgerechter einschränken und damit dem GKV-Spitzenverband für die Festbetragsberechnung eine geeignetere Vorgabe machen. Das Festbetragsverfahren ist grundsätzlich etabliert und akzeptiert, aber man sollte auch hier nicht mit dem Lernen aufhören und die bestehenden Bedingungen und das Verfahren auf den Prüfstand stellen. Es darf nicht sein, dass ein Erstattungssystem zur Benachteiligung von Patienten führt. Bestimmte orale Darreichungsformen für beispielsweise Kinder oder Menschen mit Schluckstörungen sollten in separaten Festbetragsgruppen aufgeführt werden.

DAZ: Im Hinblick auf die Fiebersäfte ist es schon fünf nach zwölf: In den letzten Monaten mussten viele Kinder auf ihre Arzneimittel verzichten. Hätte man die Situation durch eine Anhebung der Festbeträge nicht viel früher entschärfen können und müssen?

Boden: Der GKV-Spitzenverband ist per Gesetz aufgefordert, die Festbeträge jährlich zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Es liegt nahe, dass die aktuell sehr ernste Situation im Markt zum Vorschlag einer Anpassung geführt hat. Es gibt den Spruch „Nach fest kommt ab“. Für Lithium in retardierten oralen Darreichungen soll der Festbetrag beispielsweise aufgehoben werden. Hier haben wir über Jahre hinweg den Ausstieg der Hersteller beobachtet. Mangels ausreichender Angebote wird jetzt also interveniert. Die Schraube wurde eindeutig überdreht.

DAZ: Was bedeutet die Aufhebung von Festbeträgen praktisch?

Boden: Dann würde das Preismoratorium, also der Preisstand August 2009 zuzüglich der seit 2018 geltenden jährlichen Inflationsausgleiche greifen. Hinzu kommen der 6-prozentige Hersteller- und ohnehin der 10-prozentige Generikaabschlag.

DAZ: Im Gesetz ist zwar eine Dynamisierung der Festbeträge vorgesehen, doch diese muss aktiv eingeleitet werden und orientiert sich nicht automatisch an der Inflation oder der Marktsituation. Was muss Ihrer Meinung nach verbessert werden?

Boden: Diese Systematik wird ganz offensichtlich nicht der praktischen Versorgung gerecht. Wir beim BAH wissen auch um die knappen Kassen. Dennoch muss es einen regelmäßigen, unterjährigen Inflationsausgleich im Bereich der Festbeträge und auch der Rabattverträge geben. Außerdem fordern wir ein Moratorium für Festbetragsabsenkungen, sodass die Erstattungshöchstpreise nicht noch weiter in den Keller gehen. Wir halten es darüber hinaus für unsinnig, Präparate in Festbetragsregelungen zusätzlich dem Generikaabschlag zu unterwerfen. Von diesem können sich die Hersteller nur befreien, wenn sie ihre Präparate zu Preisen von mindestens 30 Prozent unter Festbetrag anbieten. Sie können ihn mindern durch Preissenkungen. Erhöhen sie aber ihren Abgabepreis, um auf einen gegebenenfalls nun erhöhten Festbetrag anzupassen, müssen sie den 10-prozentigen Abschlag vom dann aktuellen Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers leisten. Damit wird deutlich: Je mehr Kostendämpfungsinstrumente in einem Markt greifen, umso schwieriger ist es für die Unternehmen zu kalkulieren. Das führt langfristig zu Unsicherheiten und schließlich zu betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, die nicht im Sinne der Versorgung sind.

DAZ: Die drastisch gestiegene Inflationsrate bringen viele Menschen vor allem in Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg. Doch für die Arzneimittelhersteller muss der Druck schon Jahre zuvor begonnen haben. Woran liegt das?

Boden: Die Inflation ist ja nur teilweise die Ursache der Kostensteigerungen. Im Zulieferbereich der Arzneimittelindustrie war die Entwicklung schon lange zuvor präsent. Wirkstoff- und Verpackungskosten steigen seit Jahren. Weil zugleich Preismoratorium und Festbeträge eine Anpassung der Abgabepreise praktisch unmöglich machen, ist die Kluft aus Sicht der Unternehmen immer größer geworden. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach spricht nach wie vor von „Effizienzreserven“ im Gesundheitswesen, doch wir müssen eher aufpassen, dass durch übertriebene oder kontraproduktive Regulierung die Versorgung nicht gefährdet wird – siehe Paracetamol-Fiebersaft für Kinder. Dabei reden wir keinesfalls über die gern zitierten Mondpreise, sondern um ein Präparat im Cent-Bereich.

DAZ: Eine politisch erklärte Absicht ist die Rückholung beziehungsweise der Aufbau von pharmazeutischer Industrie wieder vermehrt in Europa. Ist das Ihrer Meinung nach tatsächlich zielführend?

Boden: Also zunächst einmal: Mit 7 Cent holt man keine Produktion zurück nach Europa. Ich glaube auch nicht, dass es wirklich zielführend ist, grundsätzlich die Industrie zurückzuholen. Es muss vielmehr darum gehen, diejenigen Arzneimittelhersteller zu unterstützen, die nach wie vor hierzulande produzieren oder es zukünftig vorhaben. Wir leben in einer globalisierten Welt und als Gesellschaft profitieren wir vom globalen Handel. Es funktioniert nicht, sich einerseits abschotten zu wollen und andererseits Stoffe oder Produkte importieren zu müssen, die wir hier gar nicht herstellen können. Die Unternehmen sollten aber befähigt werden, besser entlang der Lieferketten zu diversifizieren. Das führt zu mehr Versorgungssicherheit. Die Politik sollte aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und sie nicht wiederholen.

Wirkstoff-Lexikon

Paracetamol

DAZ: Und im Hinblick auf essenzielle Wirkstoffe, wie beispielsweise Antibiotika, Schmerzmittel oder Onkologika?

Boden: Dann würde ich direkt die Gegenfrage stellen: Welche Arzneimittel sind denn nicht essenziell? Ohne Insulin können Diabetiker nicht überleben und hierbei geht es um eine wirklich sehr große Patientengruppe. Es mag Wirkstoffe geben, die man aus unterschiedlichen Gründen für so wichtig hält, dass sie in Europa oder Deutschland produzieren werden sollten. Dem geht eine schwierige, wenn auch notwendige Bewertung voraus. Doch grundsätzlich profitieren wir alle davon, wenn Arzneimittelherstellung und Versorgung multilateral betrieben werden. Menschen in anderen Teilen der Welt erhalten so erst den Zugang zu wichtigen Therapien.

DAZ: Welche Möglichkeiten haben Sie als Bundesverband Einfluss auf das aktuell geltende Erstattungssystem zu nehmen?

Boden: Bei den Anpassungen von Festbeträgen gibt es ein Stellungnahmeverfahren. Für die jetzigen Vorschläge, inklusive Paracetamol, ist dies am 26. September abgelaufen. Dabei dürfen wir uns aber nur zu formalen Aspekten äußern. Wir ändern damit nicht die zugrunde liegenden Bedingungen. Hier ist also der Gesetzgeber gefordert, um zum Beispiel die pharmazeutischen Unternehmen zu unterstützen, Therapien mit bekannten Wirkstoffen und damit Versorgung weiterzuentwickeln. Bisher stehen dem das sogenannte erweiterte Preismoratorium und das Festbetragssystem in der jetzigen Form entgegen. Chancen bestünden darin, unsere Vorschläge im aktuellen Verfahren für ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz zu berücksichtigen.

DAZ: Und zwar?

Boden: Therapie- und patientenrelevante Weiterentwicklungen könnten für einen befristeten Zeitraum unter Berücksichtigung von Umsatzschwellen vom Preismoratorium beziehungsweise den Festbeträgen sowie vom Substitutionsgebot ausgenommen werden. Es geht aber auch um die Entwicklung gänzlich neuer Wirkstoffe. Hier läuft das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz Gefahr, so es denn in vorliegender Form Realität wird, einen großen Fehler zu begehen. Denn es ist unter anderem beabsichtigt, dass Arzneimittel, die gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie einen geringen oder einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen attestiert bekommen, hinsichtlich des Erstattungsbetrags nicht besser gestellt werden dürfen als diese zweckmäßige Vergleichstherapie. Kann der Zusatznutzen noch nicht belegt werden, wird das Arzneimittel per se und zuzüglich eines weiteren Abschlags schlechter als die zweckmäßige Vergleichstherapie gestellt. Unter diesen Bedingungen würden betroffene neue Arzneimittel im schlimmsten Fall gar nicht in die Versorgung gelangen können. Und kämen sie auf den Markt, würde sich bei den Preisen ein ähnlicher Kellertreppen-Effekt ausbilden wie in den Festbetragsgruppen. Diese politische Absicht lässt in einem gefährlichen Ausmaß außer Acht, dass Fortschritt in Wissenschaft und Forschung nicht allein auf Quantensprüngen beruht, sondern in aller Regel schrittweise erfolgt, aber gleichwohl einen spürbaren therapeutischen Fortschritt für die betroffenen Patienten bedeutet. Allein das Vorhandensein einer therapeutischen Alternative kann für die Patienten bereits von entscheidender Bedeutung sein.

DAZ: Herr Boden, vielen Dank für das Gespräch.

Lutz Boden (Foto: cyp-Schumacher / info@celebrateyourpicture.com)

Zur Person

Lutz Boden ist Fachapotheker für Arzneimittelinformation und Wirtschaftsassistent. Seine berufliche Laufbahn startete der gebürtige Leverkusener 1997 bei ABDATA. Dort leitete er zwischen 2000 und 2011 die Redaktion. Von 2012 bis 2017 war er bereits beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) als Abteilungsleiter GKV-Arzneimittelversorgung und Selbstmedikation tätig. Nach einer Station in der Geschäftsführung der Informationsstelle für Arzneispezialitäten (IFA) kehrte er im Oktober 2020 zum BAH zurück und leitet seitdem die Abteilung Gesundheitsversorgung.


Dr. Armin Edalat, Apotheker, Chefredakteur DAZ
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

System völlig durch GKV korrumpiert

von ratatoske am 08.10.2022 um 8:38 Uhr

Die GKV hat ein System von der Politik bekommen, in dem sie den Preis nach eigenen Wünschen gestalten kann. Erhöhungen, außer Gehältern und Boni werden einfach so weit wie möglich blockiert, egal was das für Konsequenzen für andere ! hat. Karl mit seinen imaginären Reserven, erstaunlicherweise nur bei Gruppen die er halt nicht mag, aber nicht in einer völlig desolaten Verwaltung oder der aufgeblähten GKV Verwaltung, aber da sitzen natürlich die Pfründe der Parteien. Leider fehlt eben die grundlegende wirtschaftliche Kompetenz einen komplexen Bereich halbwegs richtig zu dirigieren.

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