Bundestagswahl 2021 – Teil 6: Bündnis 90/Die Grünen

E-Rezept als „neues Beispiel gescheiterter Digitalisierung“?

Berlin - 23.08.2021, 07:00 Uhr

Der Arzt und Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen beklagt im DAZ-Interview den Umgang des Bundesgesundheitsministers mit den Apotheken während der Pandemie: Spahn habe das Image der Offizinen ohne Not beschädigt. (c / Foto: IMAGO / Political-Moments)

Der Arzt und Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen beklagt im DAZ-Interview den Umgang des Bundesgesundheitsministers mit den Apotheken während der Pandemie: Spahn habe das Image der Offizinen ohne Not beschädigt. (c / Foto: IMAGO / Political-Moments)


Die Grünen fordern seit Längerem schon eine Neuordnung des Gesundheitswesens. Dabei ist auch eine Lockerung des Mehrbesitzverbots möglich, erläutert der Notfallarzt und Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen im Gespräch mit der DAZ. Deutliche Kritik äußert er an der geplanten Einführung des E-Rezepts. Und auch der Umgang des Bundesgesundheitsministers mit den Apotheken in der Pandemie kommt nicht gut weg.

DAZ: Herr Dahmen, nach der Bundestagswahl am 26. September wird sich die neue Regierung wohl gleich sehr intensiv mit der Coronavirus-Pandemie beschäftigen müssen – es droht eine vierte Welle. Ist Deutschland dafür gerüstet?

Dahmen: Ich schaue mit Anspannung in Richtung Herbst. Leider hat das Bundesministerium für Gesundheit den Sommer nicht ausreichend genutzt, um zum Beispiel beim Thema Impfen wirklich Tempo zu machen und die Schutzmaßnahmen so anzupassen, dass im Herbst und Winter möglichst wenige Menschen krank werden können. Auch ein konkretes Konzept für die Schulen vermisse ich.

Die Apotheken haben in der Pandemiebekämpfung viele zusätzliche Aufgaben übernommen. Wie bewerten Sie die Leistung der Offizinen?

Die Apotheken haben über den gesamten Zeitraum der Pandemie Mammutaufgaben gestemmt, auch fernab des klassischen Apothekengeschäfts. Ich weiß, dass das für viele von ihnen große Umstellungen bedeutet hat, etwa was die räumliche Organisation betrifft oder auch Prozessabläufe. Durch ihren Einsatz sind die Apotheken zu einem wichtigen Baustein in der Pandemiebewältigung geworden und haben dazu beigetragen, im Einzelnen schlimme Folgen abzumildern.

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Ihre Parteikollegin Frau Klein-Schmeink hat im Gespräch mit ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening die Ausgabe von Schutzmasken über die Apotheken kritisiert. Aus ihrer Sicht wäre diese Aufgabe eher was für die Drogerien gewesen. Sehen Sie das auch so?

Das muss man aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. Einerseits ist es für die Apotheken eine sehr missliche Lage, dass zu mehreren Zeitpunkten während der Pandemie – unter anderem beim Thema Masken, aber auch jüngst bei den Impfzertifikaten – der Eindruck entstanden ist, sie würden sich an der Not Anderer bereichern wollen. Ich weiß aus den vielen Gesprächen mit den Verbänden und auch den Apothekerinnen und Apothekern selbst, dass sie auf die Ausgestaltung der Vergütung keinerlei Einfluss hatten, sondern der Bundesgesundheitsminister allein darüber entschieden hat. Andererseits hätte es bei der Ausgabe der Masken sicherlich praktikablere und preiswertere Wege gegeben als per Coupon-System über die Apotheken. Das ist aber keine Kritik an den Apotheken selbst. Dass sich der Bundesgesundheitsminister für dieses umständliche System entschieden hat, dafür können sie nichts. Wir hätten allerdings in vielen Phasen der Pandemie insgesamt deutlich mehr Pragmatismus vonseiten der Politik gebraucht.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat nach der anhaltenden Kritik – auch vonseiten der Grünen – die Vergütung der Apotheken für die Ausgabe der Masken nachträglich abgesenkt. Dies ist letztlich zu einer Art Muster geworden: Auch bei den Bürgertests und zuletzt beim Ausstellen von Impfzertifikaten gab es für die Apotheken am Ende doch deutlich weniger Geld als zunächst zugesagt. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?

Der Schaden, den Herr Spahn damit verursacht hat, geht aus meiner Sicht weit über eine wenig verlässliche Kalkulationsgrundlage für die Apotheken hinaus: Er hat auch das Bild der Apotheken in der Öffentlichkeit völlig unnötig in ein zweifelhaftes Licht gerückt. Denn es ist der Eindruck entstanden, sie hätten irgendwelche Fantasiepreise für ihre Arbeit abrufen wollen. Es wäre viel redlicher gewesen, von vornherein im Dialog mit den Apotheken eine faire und auskömmliche Vergütung zu erarbeiten.

Zu Beginn der Pandemie hat Spahn den Apotheken recht viel Beinfreiheit eingeräumt, wenn es um das Erfüllen der Rabattverträge geht. Dennoch haben die Kassen im Jahr 2020 so viel Geld durch Rabatte gespart wie noch nie zuvor. Plädieren Sie dafür, die Abgabeerleichterungen beizubehalten, auch über die Pandemie hinaus?

Es ist zumindest geboten, sich jetzt noch einmal mit allen Beteiligten an einen Tisch zu setzen und zu prüfen, ob die kritischen Gegenargumente, die es zuvor gegeben hat, noch haltbar sind. Vielleicht sind wir besser beraten, das, was in der Pandemie gut funktioniert hat, in den Alltag zu überführen.

Fehlstart für das E-Rezept

Welche Aufgaben könnten die Apotheken im Zuge der Pandemiebekämpfung noch übernehmen?

Nach wie vor erlebe ich, dass es in vielen Umgangsfragen, wie etwa in Bezug auf Impfstoffe oder Masken, Unsicherheiten und einen hohen Beratungs- und Informationsbedarf innerhalb der Bevölkerung gibt. Die Bundesregierung hat es versäumt, abseits vereinzelter Kampagnen für eine sichtbare und systematische Aufklärung zu sorgen, die bei den Menschen ankommt. Daher ist es umso wichtiger, dass Apotheken als wichtiger Teil der Gesundheitsversorgung im direkten Kontakt mit den Menschen Unsicherheiten auffangen.

Sollten die Apotheken auch selbst impfen dürfen?

In der aktuellen Situation sehe ich keinen Mangel an Menschen, die impfen können. Die große Herausforderung wird eher sein, Überzeugungsarbeit zu leisten, damit möglichst viele Menschen sich tatsächlich impfen lassen. Hier ist ein Schulterschluss zwischen Praxen und Apotheken ganz wichtig.

Ein weiteres großes Thema in der Gesundheitspolitik wird gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode die Einführung des E-Rezepts sein – zunächst auf freiwilliger Basis, ab Januar 2022 dann verpflichtend. Ist das Gesundheitswesen darauf ausreichend vorbereitet?

Nein, überhaupt nicht. Wir haben ja faktisch einen Fehlstart gehabt, denn eigentlich sollte das E-Rezept bundesweit schon da sein, zumindest auf freiwilliger Basis. Und selbst der aktuell laufende Modellversuch in Berlin-Brandenburg ist nicht so angelaufen wie geplant. Ich habe nach wie vor große Sorge, dass wir einen Prozess, der analog gut funktioniert, nämlich das Ausstellen und Einlösen von Rezepten, durch das Digitalisieren verschlechtern. Ich bin ein großer Freund der Digitalisierung des Gesundheitswesens, aber ich fürchte, dass wir damit ein neues Beispiel gescheiterter Digitalisierung schaffen. Das wäre fatal für andere Prozesse, in denen wir sie dringend bräuchten. Die Politik muss sich endlich ernsthaft und seriös um das Thema E-Rezept kümmern, damit es zu einer Verbesserung der Patientenversorgung beitragen kann und sie nicht verschlechtert.

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Wo würden Sie nachbessern?

Im Moment geht es ja nur darum, den Transport eines Zettels von der Praxis in die Apotheke durch einen digitalen Prozess zu ersetzen. Das ist zu wenig. Es muss sowohl für die Ärzte- und Apothekerschaft als auch für die Versicherten einen erlebbaren Nutzen geben. Davon sind wir aktuell noch weit entfernt.

Welche Chancen räumen Sie in diesem Zusammenhang Plattform-Konzepten ein?

Plattformen gehören sicher zu den neuen Versorgungskonzepten, die künftig eine große Rolle spielen werden. Es gilt aber darauf zu achten, dass sich keine Insellösungen entwickeln, die letztlich wieder Schnittstellenprobleme mit sich bringen. Sie müssen integrativ wirken und unbedingt aus Patientensicht gedacht werden. Konzepte aus anderen Lebensbereichen, in denen Plattformen einen hohen Stellenwert haben, eins zu eins zu kopieren, wird nicht funktionieren.

Regional sollte es möglich sein, „bestimmte Regeln zu lockern“

Im DAZ-Interview haben Sie im Januar davon gesprochen, das Mehrbesitzverbot lockern zu wollen, wenn sonst eine wohnortnahe Versorgung mit Arzneimitteln nicht mehr möglich wäre. Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Wir Grüne wollen die Versorgung vor Ort durch sogenannte Gesundheitsregionen stärken. Nach unserer Vorstellung sollte der Bund im Gesundheitswesen den groben Rahmen vorgeben und zum Beispiel Qualitätsstandards festlegen. Die konkrete Organisation sollte aber vor Ort erfolgen, denn die Versorgungsrealitäten sind in Deutschland regional sehr unterschiedlich. Mit nur einem Regelungskonzept die Arzneimittelversorgung bundesweit gewährleisten zu wollen, führt dazu, dass einige Gebiete letztlich unterversorgt sind. In solchen Fällen sollte es möglich sein, bestimmte Regeln zu lockern und es zum Beispiel zu gestatten, mehr als eine Haupt- und drei Filialapotheken zu betreiben, wenn nur dadurch die Versorgung mit Medikamenten vor Ort inklusive Beratung gesichert werden kann.

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Sie nehmen also eine Kettenbildung in Kauf?

Nein, wir sind weiterhin keine Befürworter von Apothekenketten. Es geht nicht darum, einen neuen Markt zu öffnen, sondern in Einzelfällen lokale Lösungen zu schaffen. Auch dass ein Apotheker, der in einer völlig anderen Region in Deutschland niedergelassen ist, plötzlich in einem unterversorgten Gebiet eine Apotheke eröffnet, ist nicht in unserem Sinn. Unser Ziel sind partnerschaftliche Lösungen mit ortsansässigen Apotheken.

Welche weiteren Veränderungen planen Sie für den Apothekenmarkt? Gibt es noch andere ordnungspolitische Pfeiler, die Sie hinterfragen wollen?

Wir werden grundsätzlich am Gesundheitsberufegesetz arbeiten müssen und uns fragen, wie wir auch das Berufsbild der Apothekerinnen und Apotheker verändern wollen. Mein persönliches Ziel ist es, den Beruf als Gesundheits- und Heilberuf zu stärken. Derzeit sind die Apotheken sehr stark patientenorientiert. Ich kann mir für die Zukunft gut vorstellen, dass sie auch Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte intensiver beraten als bisher. Den Apothekerinnen und Apothekern mit all ihren Kompetenzen mehr Verantwortung zu übertragen und dies auch im System zu verankern, sehe ich als eine der großen Aufgaben zukünftiger Gesundheitspolitik.

Wir müssen in diesem Zusammenhang natürlich auch über das Apothekenhonorar sprechen. Sind hier Anpassungen geplant und wenn ja, welche?

Das kann ich so konkret noch nicht sagen. Aber natürlich wird man, wenn sich die Aufgaben der Apotheken verändern, auch über das Honorar sprechen müssen. Denn wenn die Apothekerinnen und Apotheker ihre Kompetenzen verstärkt einbringen, sollen sie dafür auch auskömmlich bezahlt werden.

Ein zweites Standbein sollen perspektivisch die honorierten pharmazeutischen Dienstleistungen werden. Noch immer ist nicht bekannt, über welche konkreten Dienstleistungen Apotheker und Kassen derzeit verhandeln. Welche Leistungen können Sie sich persönlich vorstellen?

Wir müssen sowohl was die Arzneimitteltherapiesicherheit als auch die Adhärenz angeht, Apotheken verstärkt einsetzen, auch was das Controlling und Monitoring von Medikation betrifft. Am Ende des Tages muss jemand ein Auge darauf haben, dass Patientinnen und Patienten ihre Arzneimittel richtig und regelmäßig einnehmen und gleichzeitig ihnen nicht etwa durch Mehrfachbehandlungen oder Fehlsteuerungen Nachteile entstehen.

Aktuell sind 150 Millionen Euro jährlich im Topf – ein Tropfen auf den heißen Stein. Planen Sie, das Volumen zu erhöhen?

Ich glaube, meine Haushälter würden mir den Kopf abreißen, wenn ich jetzt diesbezüglich irgendwelche Versprechen abgeben würde. Es ist Teil seriöser Politik, nach der Wahl einerseits in die Portemonnaies und andererseits auf die anstehenden Aufgaben zu schauen und dann zu entscheiden, was möglich ist.

Stehen die pharmazeutischen Dienstleistungen auf der Kippe?

Beobachter fürchten, dass die pharmazeutischen Dienstleistungen den Sparprogrammen zum Opfer fallen könnten, die durch die Coronakrise nötig werden. Können Sie den Apothekern versprechen, dass das mit den Grünen nicht passieren wird?

Wie gesagt, man kann nur das Geld ausgeben, das da ist. Hier werden wir insbesondere vor dem Hintergrund der Pandemie sehr genau hinschauen müssen, wie wir unsere Ressourcen am sinnvollsten einsetzen können. Wo jetzt schon Dinge messbar zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen, wird man sicher daran festhalten. Und wo etwas dringend intensiviert oder verbessert werden muss, wird man vielleicht sogar Geld drauflegen müssen. Ist der Nutzen einer Intervention allerdings zweifelhaft, wird man es künftig noch schwerer haben als bisher, daran festzuhalten.

Im Wahlprogramm betonen die Grünen auch den Stellenwert der Prävention. Wollen Sie hier die Apotheken künftig stärker einbinden als bisher und wenn ja, wie genau?

Prävention gelingt nur als Querschnittsaufgabe. Daher wird man alle Gesundheitsberufe mit einbinden müssen und darüber hinaus auch zum Beispiel den Bildungsbereich über nachgebesserte Lehrpläne. Apotheken haben gerade mit chronisch kranken Menschen einen intensiven Kontakt. Von daher sollte Prävention unbedingt ein Teil des Aufgabenspektrums der Apotheken sein.

Die Grünen halten an der Freigabe von Cannabis zu Genusszwecken fest. Im Wahlprogramm ist die Rede davon, es in „lizensierten Fachgeschäften“ abgeben zu lassen. Sind damit auch die Apotheken gemeint?

Zu Cannabisfachgeschäften, in denen Cannabis für den Freizeitgebrauch erhältlich ist, sollen nur Erwachsene Zutritt haben, das unterscheidet sie von Apotheken. Cannabis zu medizinischen Zwecken soll dagegen weiterhin nur in Apotheken abgegeben werden.

In Zusammenhang mit Drogenkonsum taucht auch das Stichwort Drug Checking auf. Eine Aufgabe für die Apotheken?

Mit Drug Checking kann dem Konsum von hochdosierten und verunreinigten Substanzen vorgebeugt werden. Drug Checking kann und sollte mehr in Apotheken durchgeführt werden. Zusätzlich werden außerdem weitere stationäre und mobile Angebote benötigt, die beispielsweise Konsumierende im Partysetting direkt erreichen.

Sollten Sie an der nächsten Regierung beteiligt sein, wird es dann ein grünes Gesundheitsministerium geben?

Die Gesundheitspolitik liegt den Grünen insgesamt sehr am Herzen. Die Veränderungen, die dort anstehen, sind neben der Klimaschutzpolitik die zweite Mammutaufgabe, die wir als Gesellschaft bewältigen müssen. Für beides stehen wir ein. Und wenn man etwas verändern will, gelingt das besonders gut, wenn die entsprechenden Zuständigkeiten auch auf ministerieller Ebene gegeben sind.

Weshalb sollen die Apotheker:innen ihre Stimme den Grünen geben?

Die Grünen treten seit langer Zeit und nicht erst jetzt im Wahlkampf für eine Politik mit den Apothekerinnen und Apothekern ein. Wir machen uns für den Beruf stark und dafür, dass Apothekerinnen und Apotheker mehr können als nur die Versorgung von Menschen mit Arzneimitteln zu sichern. Sie sollen als Gesundheitsexperten in die Neugestaltung des Gesundheitswesens einbezogen werden. Ich bin sicher, dass die Apotheken vor Ort als zentrales Element gesellschaftlichen Lebens mit grüner Gesundheitspolitik eine starke Stimme hätten.

Herr Dahmen, vielen Dank für das Gespräch.



Christina Müller, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (cm)
redaktion@daz.online


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