49. Schwarzwälder Frühjahrskongress

Tabuthemen der Frau und Männerleiden in der Apotheke

Stuttgart - 23.03.2021, 09:15 Uhr

Trotz der großen Häufigkeit und Anzahl der Betroffenen sind viele Themen in Apotheke und Gesellschaft noch immer mit Scham belegt – egal ob Mann oder Frau. (Foto: Wayhome Studio / stock.adobe.com)

Trotz der großen Häufigkeit und Anzahl der Betroffenen sind viele Themen in Apotheke und Gesellschaft noch immer mit Scham belegt – egal ob Mann oder Frau. (Foto: Wayhome Studio / stock.adobe.com)


Es mag in diesem Frühjahr noch schwerer fallen als zu Beginn der Corona-Pandemie, den Blick für die positiven Dinge nicht zu verlieren. Den Fortbildungswillen der Apotheker:innen hat COVID-19 jedenfalls noch nicht gebrochen. Das zeigte am vergangenen Wochenende die hohe Zahl der Teilnehmer:innen am 49. Schwarzwälder Web-Kongress. Es ging um Tabuthemen in der Apotheke – wie die sexuelle Dysfunktion, Inkontinenz und Infektionen der Intimzone. Die Referent:innen stellten sich dabei den zahlreichen Fragen der Zuschauer:innen.

Es gab schon Zeiten, da habe man sich zum Schwarzwälder Frühjahrskongress durch Schnee gekämpft, wie der Präsident der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg Dr. Günther Hanke angesichts des trüben Frühlingsbeginns am vergangenen Wochenende zur Eröffnung des Kongresses erinnerte, der nun bereits zum zweiten Mal wetterunabhängig aufgrund der Corona-Pandemie online übertragen wurde. Eine komplizierte Anreise blieb den Zuschauer:innen also erspart, auch wenn die meisten diese „Strapazen“ wahrscheinlich gerne auf sich genommen hätten. Eine positive Sache ist der Gesamtsituation dann aber doch eindeutig abzugewinnen: Statt der 700 Teilnehmer:innen, die sonst maximal in die Neue Tonhalle in Villingen-Schwenningen passen, haben sich nach Angaben der Kammer ganze 1.127 Zuschauer:innen zum Web-Kongress angemeldet.

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Patrick Schäfer (Leitung Aus-, Fort-, Weiterbildung bei der LAK BW) und Denise Kohler (Ausbildung Apotheker bei der LAK BW) führten durch den Kongress, ordneten die zahlreichen Fragen, die über die Chatfunktion eingingen und leiteten diese an die Referent:innen weiter. Die wissenschaftliche Leitung des Kongresses liegt seit 2019 in den Händen von Almuth Buchgeister-Volk (Apothekerin aus Emmendingen), Herr Prof. Dr. Martin Hug (Krankenhausapotheker aus Freiburg) und Frau Dr. Carolin Schuhmacher (Krankenhausapothekerin aus Villingen-Schwenningen).

Sägepalme: Es kommt auf das Extraktionsmittel an

Dr. rer. nat. Christian Ude von der Stern-Apotheke in Darmstadt widmete sich vor allem den pflanzlichen Optionen zum Thema „Männerleiden“. Zur Behandlung der benignen Prostatahyperplasie ging er neben den chemisch-synthetischen Alpha-Blockern, PDE-Hemmern und 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren auf Phytopharmaka auf Basis von Sägepalme, Brennnessel und Kürbiskernen ein – auch wenn deren Relevanz in der Apotheke mittlerweile etwas abgenommen habe. Besonderes Interesse unter den Zuschauer:innen weckten hierbei seine Schilderungen zu einem Sägepalmen-Extrakt (Permixon), den es in Deutschland nicht gibt. Es handelt sich dabei um einen organischen Hexan-Extrakt, der in der HMPC-Monografie (Committee on Herbal Medicinal Products) 2014 einen „well-established use“ zuerkannt bekam, während der deutsche Ethanol-Extrakt lediglich unter dem „traditional use“ aufgeführt wird. Auch der Brennessel und den Kürbiskerne wird jeweils nur eine traditionelle Anwendung zuerkannt. Allerdings scheint eine Kombination aus Sägepalme und Brennessel wirksam und verträglich zu sein.

LAK-Mediathek geht online

Der Präsident der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg Dr. Günther Hanke machte auf die neue Mediathek der LAK BW aufmerksam. Dort sollen von nun an, regelmäßig Fortbildungsvideos veröffentlicht werden, die ort- und zeitunabhängig im mitgliedergeschützten Bereich angesehen werden können. Sie sollen circa 45 Minuten dauern, die erste Lektion zu den Neuerungen beim Interaktionscheck in der ABDA-Datenbank kann man sich bereits anschauen. Wer einen Fortbildungspunkt erwerben möchte, dem steht online eine Lernerfolgskontrolle zur Verfügung. 

Ein weiteres Anliegen, das Ude hervorhob, war die gestiegene Zahl an sexuell übertragbaren Krankheiten. Diese stellt sich als eine Schattenseite der Einführung der Präexpositionsprophylaxe gegen HIV dar. 

Erektionsstörungen – Warnzeichen für kardiovaskuläres Risiko

Dr. med. Christian Leiber (Leitender Oberarzt der Sektion Andrologie Uniklinik Freiburg) ging auf die sexuellen Dysfunktionen, insbesondere Erektionsstörungen beim Mann ein. Diese seien nicht nur, aber vor allem ein Problem im Alter. Bei jüngeren Männern stellt eher die Ejakulatio praecox ein Problem dar. Apotheker:innen, werden sie auf das Problem aufmerksam – etwa weil nach entsprechenden Nahrungsergänzungsmitteln gefragt wird – sollten sich bewusst machen, dass die meisten Erektionsstörungen eine organische Ursache haben wie Gefäßleiden und Diabetes Mellitus. Wer also über Erektionsstörungen berichtet, dem sollte klargemacht werden, dass er wahrscheinlich ein insgesamt erhöhtes kardiovaskuläres Risiko hat. 50 Prozent in Leibers Sprechstunde seien zudem Raucher. An dieser Stelle können also auch Apotheker:innen beratend weiterhelfen.

Kommt ein Patient bereits mit einer Verordnung für einen PDE-5-Hemmer in die Apotheke, können Apotheker:innen beispielsweise weiterhelfen, wenn der Patient darüber klagt, dass er auf das Arzneimittel nicht anspricht. Das liege laut Leiber oft an einer falschen Einnahme – etwa nur die halbe Dosis. Man solle außerdem mindestens acht Versuche wagen. Der Priapismus gilt als urologischer Notfall, betonte Leiber.

Harnwegsinfektionen: mit Kindern immer zum Arzt

Dr. rer. nat. Miriam Ude, ebenfalls von der Stern-Apotheke in Darmstadt, widmete sich dem Thema „Harnwegsinfektionen in der Selbstmedikation“. Sie verriet interessantes Hintergrundwissen, beispielsweise, dass Schmerzen bei einer Blasenentzündung vor allem auftreten, wenn die Blase leer ist. Sie sprach aber auch konkrete Fälle in der Apotheke an, wie etwa dass Kinder nie einen „unkomplizierten“ Harnwegsinfekt haben. In der Schwangerschaft sei an die anatomischen Veränderungen zu denken und an das Risiko, dass Keime aufsteigen können. In der Fragerunde kam besonders dem Thema der Rezidive ein besonderes Interesse zu.

Harndranginkontinenz: Botox besser als Anticholinergika?

Dr. med. Brigitte Willer (Leitende Oberärztin des Kontinenz-Zentrums Süd-West, Schwarzwald-Baar Klinikum) bot sehr praxisnahe Einblicke in das Thema „Enuresis und Inkontinenz“. Sie verriet interessante Details, wie beispielsweise, dass Duloxetin nur zur Behandlung von Frauen mit mittelschwerer bis schwerer Belastungs(harn)inkontinenz zugelassen ist – nicht bei Männern, dort aber teils im Off-Label-Use zum Einsatz kommt und sogar besser wirksam ist als bei Frauen. Beim Thema Beckenbodentrainiung merkte sie an, dass es hier sinnvoll sei, wenn Ärzt:innen überprüfen, ob die Frau bei ihren Übungen auch wirklich den Beckenboden anspannt. 

Bei der Harndranginkontinenz gab sie zu bedenken, dass Anticholinergika nur bei 60 Prozent der Patient:innen ansprechen, während eine Botox-Injektion in den Muskel eine Erfolgsrate von 85 bis 90 Prozent aufweise – solche Patient:innen müssten allerdings bereit sein einen Einmalkatheterismus durchzuführen.

Bei Kindern stünden vor allem Trink- und Miktionsprotokolle im Zentrum der Therapie (Urotherapie).

pH-Messstreifen aus der Apotheke für Schwangere

Dr. med. Susanne Maurer (Praxis für Frauengesundheit, Gräfelfing) zeigte in ihrem Vortrag zu „Infektionen der Intimzone“ auf, dass die Selbstmedikation über die Apotheke bei Nichtschwangeren eine große Rolle spielt. Dabei steht, wie Apotheker:innen wahrscheinlich erwarten würden, die vaginale Pilzinfektion im Vordergrund. Aber auch bei der bakteriellen Vaginose sei eine Behandlung im Rahmen der Selbstmedikation gerechtfertigt. In einer Tabelle bot Maurer einen praktischen Überblick zur Einordnung von vaginalem Ausfluss. 

Dr. med. Susanne Maurer – Praxis für FRAUENGesundheit

Schließlich waren wie bei den Harnwegsinfektionen die Rezidive ein großes Thema. Bei der bakteriellen Vaginose gehe man mittlerweile davon aus, dass Bakterien einen Biofilm bilden, der wahrscheinlich auch sexuell übertragbar ist und für die Rezidive verantwortlich zeichnet. Frauen, die wissen, dass sie anfällig für vaginale Infektionen sind, sollten in der Schwangerschaft gerne auf pH-Indikatorstreifen aus der Apotheke zurückreifen. Diese seien zur Überwachung „Gold wert“, meint Maurer.

Abschließend bot Prof. Dr. phil. Michael Niehaus einen historischen Blick darauf wo unsere Ratgeberliteratur herkommt. Dabei ging es nicht um Gesundheitsratgeber, sondern um „Ratgeber, die wir aufschlagen, wenn wir im Leben erfolgreich und glücklich sein wollen“. NIehaus erwähnte auch den französischen Apotheker Émile Coué, der als Begründer der modernen Autosuggestion gilt.



Diana Moll, Apothekerin und Redakteurin, Deutsche Apotheker Zeitung (dm)
redaktion@daz.online


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