Außerplanmäßiger Jour Fixe zu Lieferengpässen

Coronakrise: Arzneimittel mit formellen Mängeln nicht vernichten

Stuttgart - 31.03.2020, 07:00 Uhr

Knapp sind in der Corona-Pandemie nicht nur Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel. Wichtigste Maßnahme des außerplanmäßig einberufenen Jour Fixe zu Lieferengpässen dürfte sein, dass Arzneimittel vorerst nicht vernichtet werden sollen, wenn sie nur formelle Mängel haben. (Foto: imago images / Ralph Peters)

Knapp sind in der Corona-Pandemie nicht nur Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel. Wichtigste Maßnahme des außerplanmäßig einberufenen Jour Fixe zu Lieferengpässen dürfte sein, dass Arzneimittel vorerst nicht vernichtet werden sollen, wenn sie nur formelle Mängel haben. (Foto: imago images / Ralph Peters)


Die Coronakrise sorgte für einen außerplanmäßigen „Jour Fixe zu Liefer- und Versorgungsengpässen“ beim BfArM – es ging um Desinfektionsmittel, Paracetamol und die BMG-Notreserve bestimmter Arzneimittel für schwere COVID-19-Verläufe. Außerdem sollen qualitativ einwandfreie Arzneimittel mit rein formellen „Mängeln“ (Anforderung an Fälschungsschutz) vorerst nicht vernichtet werden, sie könnten im Notfall wichtig werden.

Außergewöhnliche Zeiten erfordern außerplanmäßige Maßnahmen. Aufgrund der angespannten Liefersituation bei Arzneimitteln und Desinfektionsmitteln berief das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) am 25. März 2020 eine Sondersitzung des „Jour Fixe zum Thema Liefer- und Versorgungsengpässe“ ein. Nach Auffassung aller Beteiligten ist die Arzneimittelversorgung in Deutschland in der Fläche grundsätzlich weiterhin als gut zu bewerten, dennoch sind unbestritten manche Arzneimittel und Desinfektionsmittel rar. Das sehen auch die Jour-Fixe-Teilnehmer so.

Wer nahm am Jour Fixe teil?

Beim außerplanmäßigen „Jour Fixe zum Thema Liefer- und Versorgungsengpässe“ am 25. März 2020 beim BfArM waren Vertreter der

  • Bundesoberbehörden (BfArM, PEI),
  • Landesbehörden, Pharmaverbände (BAH, BPI, Pro Generika, vfa),
  • Arzneimittelkommissionen (AMK, AkdÄ),
  • Apotheker (ABDA, ADKA),
  • Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG),
  • Fachgesellschaften (AWMF),
  • Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sowie
  • des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband)
  • des Bundesgesundheitsministeriums (BMG)
  • des Großhandels (Phagro)

Desinfektionsmittel: Versorgung angespannt

Nach wie vor klappt eine ausreichende Versorgung mit Desinfektionsmitteln nach Einschätzung des BMG nicht lückenlos. Die „Situation bei der Versorgung mit Desinfektionsmitteln ist weiterhin angespannt“, erläuterte das BMG laut einer Kurzinformation zur Sondersitzung. Herausfordernd sei auch die Beschaffung von Behältnissen für die desinfizierenden Mittel. Allerdings zeigten die ergriffenen Maßnahmen „zunehmend Wirkung“, unter anderem dürfte damit gemeint sein, dass es Erleichterungen bei der Herstellung von Desinfektionsmitteln und der Beschaffung von Ausgangsstoffen gibt, sodass auch beispielsweise unter anderem Spirituosenhersteller mittlerweile Desinfektionsmittel in größerem Maße bereitstellen können.

Paracetamol entspannt sich

Was die Situation um Paracetamol betrifft, so „entspannt“ sich diese nach Einschätzung der Experten beim Jour Fixe zunehmend. Das fiebersenkende Schmerzmittel war in den letzten Wochen stark gefragt, nicht zuletzt, weil Ibuprofen in den sozialen Netzwerken in Verbindung mit schweren COVID-19-Verläufen gebracht wurde und viele sich dann vorsorglich mit Paracetamol eingedeckt haben.

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Mittlerweile haben jedoch WHO, EMA und AMK klargestellt, dass derzeit keine Daten einen Zusammenhang zwischen COVID-19 und NSAR stützen. Bei Paracetamol hatte sich sogar Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eingeschaltet, um eine Versorgung damit auch weiter zu sichern. Er hatte unter anderem angeordnet, dass Paracetamol in Apotheken nur abgegeben werden soll, wenn es keine fieber- und schmerzsenkenden Alternativen gibt.

BfArM-Empfehlung zur Kontingentierung von Arzneimitteln „breit auslegen“

Der Engpass bei OTC-Paracetamol veranschaulicht, dass „es schwer vorhersehbar ist, für welche Arzneimittel ein plötzlicher, wenn auch gegebenenfalls unbegründeter, Mehrbedarf entsteht“, müssen die Jour Fixe-Teilnehmer erkennen. Interessant ist dies vor allem vor dem Hintergrund, dass das BfArM jüngst eine Anordnung zur Kontingentierung von Arzneimitteln erlassen hat – für welche Arzneimittel diese Anordnung genau gilt, war jedoch aus dieser selbst nicht ganz deutlich hervorgegangen. Denn: Das BfArM soll künftig im Hinblick auf Lieferengpässe versorgungsrelevanter Arzneimittel Maßnahmen – auch zur Kontingentierung – ergreifen können. Das sieht das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz vor, dessen Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt zwar jeden Tag zu erwarten, aber bislang nicht erfolgt ist.

Dies im Blick hätte man folglich annehmen können, dass sich die BfArM-Anordnung nur auf versorgungsrelevante Arzneimittel bezieht. Angesichts der derzeitigen Pandemiesituaion wäre es jedoch sicherlich im Sinne des BfArM, die Kontingentierung als Appell zu Augenmaß auch bei anderen Arzneimittel (inklusive OTC) zu verstehen, um einer flächendeckenden Ungleichverteilung von Arzneimitteln entgegenzuwirken. Hier schafft der Jour Fixe nun Klarheit: Es „wird angeregt in der aktuellen Situation die allgemeine Empfehlung des BfArM auch breit auszulegen. Es soll dann engmaschig geprüft werden, ob und für welche Produkte Aufweichungen möglich sind“, so die Teilnehmer.

Appell an Versandapotheken

Über die BfArM-Anordnung hinaus, hatte das BMG bereits in den vergangenen Wochen Maßnahmen ergriffen, um Ungleichverteilungen bei Arzneimitteln möglichst frühzeitig entgegenzusteuern. Unter anderem waren Ärzte vom BMG aufgefordert worden, bedarfsgerecht zu verordnen und keine zusätzlichen Privatrezepte auszustellen, wobei Chroniker auch weiterhin N3-Packungen erhalten sollten, um die Frequenz der Arztbesuche gering zu halten. Apotheken waren angehalten, OTC-Arzneimittel nur bei tatsächlichem Bedarf abzugeben und mit Augenmaß. Zusätzlich hatte das BfArM vor kurzem eine Anordnung  erlassen, wonach Großhandel und Apotheken keine eigenen Überbevorratungen vornehmen sollten. All diese Maßnahmen bestärken die Teilnehmer des Jour Fixe, die „gegenseitige Solidarität (sei) das oberste Prinzip“. Explizit betonen sie, dass die anberaumten Maßnahmen nur dann erfolgreich seien, wenn sich alle Beteiligten daran halten und diese „insbesondere auch von den Versandapotheken umgesetzt wird.“ 

Kritisch gesehen wird ein Vorschlag des GKV-Spitzenverbandes, der auch Verordnungen über einen längeren Zeitraum für chronisch Kranke ermöglichen möchte, wobei der Zeitraum im Jour-Fixe-Kurzprotokoll nicht genauer umrissen wird. Aktuelle Priorität habe die Versorgung in der Fläche, so die Teilnehmer, und nur in besonderen begründeten Ausnahmefällen sollte dies praktiziert werden.

BMG sichert Arzneimittelreserve mit Kaletra, Avigan, Foipan, Chloroquin und Hydroxychloroquin

Das BMG hat sich dem Jour-Fixe-Protokoll zufolge einen Notvorrat mit bestimmten Arzneimitteln angelegt. Die beschafften Arzneimittel – Kaletra® (Ritonavir/Lopinavir), Avigan® (Favipiravir), Foipan® (Camostat) und die Wirkstoffe Chloroquin und Hydroxychloroquin – werden bei COVID-19 untersicht. Das BMG möchte mit der Reserve einerseits die Versorgung von schwer an COVID-19-Erkrankten in den Klinken sichern und andererseits auch die Versorgung der Patienten, die diese Arzneimittel in ihrer zugelassenen Indikation (unter anderem HIV) benötigen.

Arzneimittel nicht vernichten

Interessant ist eine weitere Maßnahme, mit der die Arzneimittelversorgung in Pandemiezeiten gesichert werden soll: Es wird empfohlen, von der geplanten Vernichtung bestimmter Arzneimittel vorerst abzusehen. So werden gewöhnlich Fertigarzneimittel, die zwar qualitativ einwandfrei sind, aber wegen einer fehlenden oder nicht ausreichenden Umsetzung regulatorischer Anforderungen nicht freigegeben werden, vernichtet. Diese Vernichtungs-Pipeline soll gestoppt werden: „Die Arzneimittel sollen für den Fall eines Versorgungsmangels verfügbar bleiben. Im Falle einer Bekanntgabe eines Versorgungsmangels nach § 79 Absatz 5 AMG könnten diese Arzneimittel ggf. für den Verkehr freigegeben werden.“ Diesen Weg hat Jens Spahn für potenziell bei COVID-19 wirksamen Arzneimitteln bereits ermöglicht. 

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„Notfall-Paragraf“ § 79 Absatz 5 AMG

Weg frei für potenziell wirksame Arzneimittel gegen COVID-19

Unter anderem wurde angeregt, dass Arzneimittel, deren Packungen nicht den Anforderungen der Fälschungsschutzrichtlinie entsprechen, bei einem Versorgungsmangel für den Klinikbereich nutzbar gemacht werden könnten, sofern dort ein Bedarf besteht.

Warum bedingt die Corona-Pandemie Lieferengpässe?

Die Experten beim Sonder-Jour Fixe zu coronabedingten Lieferengpässen haben auch die besonderen Herausforderungen zusammengetragen, die eine bedarfsgerechte Versorgung mit Arzneimitteln in den kommenden Monaten komplizieren. Dazu zählt, die Sicherstellung der Produktion in von SARS-CoV-2 betroffenen Regionen, aber auch das Aufrechterhalten oder Ausbauen der Arbeits- und Produktionsfähigkeit in den pharmazeutischen Unternehmen, Betrieben, Apotheken und Arztpraxen in Deutschland. Hauptaugenmerk liegt bei der Produktion vor allem auf der GMP-konformen Herstellung von Schutzbekleidung. Derzeit erschweren auch logistische Hürden den grenzübergreifenden Handel mit Ausgangsstoffen, Wirkstoffen und Arzneimitteln, was einer angemessenen flächendeckenden Verteilung von Arzneimitteln entgegenwirkt. Nicht vergessen darf man Regeln der freien Marktwirtschaft, die Preise von knapper Ware in die Höhe treiben. Aufgrund der weltweiten Corona-Pandemie gebe es bereits heute große Preissteigerungen bei Wirkstoffen aber auch beim Transport, beobachten die Jour Fixe-Teilnehmer. Spürbar ist zudem eine erhöhte Nachfrage und Bevorratung durch Privatpersonen.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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