Arzneimittel oder Biozide

Dürfen Apotheken Hautdesinfektionsmittel herstellen?

Stuttgart - 02.03.2020, 14:45 Uhr

Ob ein Mittel als Biozid oder Arzneimittel einzustufen ist, hängt nicht von den enthaltenen Substanzen ab, sondern von der Zweckbestimmung. (c / Foto: Yakobchuk Olena / stock.adobe.com)

Ob ein Mittel als Biozid oder Arzneimittel einzustufen ist, hängt nicht von den enthaltenen Substanzen ab, sondern von der Zweckbestimmung. (c / Foto: Yakobchuk Olena / stock.adobe.com)


Fertigpräparate zur Hautdesinfektion sind derzeit, wenn überhaupt noch, im Internet zu Wucherpreisen zu bekommen. Die Apotheken vor Ort springen in die Bresche und stellen die Mittel für ihre Kunden selbst her. Doch wie so oft im Apothekerleben stellt sich die Frage nach der rechtlichen Grundlage.

Die Panik vor dem Coronavirus hat nicht nur zu Hamsterkäufen bei haltbaren Lebensmitteln, sondern auch bei Schutzmasken und Desinfektionsmitteln geführt. Sterillium und Co. sind deswegen mittlerweile Mangelware. Um die Nachfrage zu bedienen, haben viele Kollegen angefangen, selbst entsprechende Lösungen herzustellen. Doch darf man das überhaupt noch? Gab es da nicht eine Änderung, dass Apotheken verdünnten Isopropylalkohol und Co. nur noch mit entsprechender Zulassung herstellen dürfen? Die Antwort lautet wie so oft „kommt drauf an“. Denn diese Änderung gab es tatsächlich. Dahinter steckt die Biozid-Verordnung, die besagt, dass es für Biozide einer Zulassung bedarf. Unter diese Regelung fallen unter Umständen seit einiger Zeit auch Isopropanol und Ethanol, zum Beispiel wenn sie zur Flächendesinfektion eingesetzt werden.

RP-Tübingen verweist auf Standardzulassungen

Anders ist es bei Isopropanol oder Ethanol zur Anwendung am menschlichen Körper. Für diese Anwendung können die Lösungen auch als Arzneimittel in den Verkehr gebracht werden. Sie unterliegen dann dem Arzneimittelgesetz, es gibt entsprechende Fertigarzneimittel, und sie dürfen unter bestimmten Voraussetzungen auch weiterhin in der Apotheke hergestellt werden. Diese Einschätzung bestätigt auch das Regierungspräsidium Tübingen. Auf Nach Nachfrage von DAZ.online heißt es: „Mittel zur Hautdesinfektion sind Arzneimittel. Jede Apotheke, die über Ethylalkohol oder Isopropylalkohol verfügt, kann daraus 70 prozentige Hautdesinfektionsmittel herstellen. Der Weg über Einzelrezepturen oder Defekturen ist nicht erforderlich, wenn man die bestehenden Standardzulassungen nutzt. Hierzu genügt – soweit bislang diese Standardzulassungen von der Apotheke nicht genutzt wurden – eine einfache Anzeige beim BfArM mit Übersendung einer Kopie an die zuständige Landesbehörde (= die Behörde, die die Apothekenbetriebserlaubnis erteilt hat).“

Biozid oder Arzneimittel – eine Frage der Zweckbestimmung

Ob ein Mittel als Biozid oder Arzneimittel einzustufen ist, hängt nicht von den enthaltenen Substanzen ab, sondern von der Zweckbestimmung. So gilt ein Händedesinfektionsmittel als Arzneimittel, wenn es überwiegend für medizinische Zwecke bestimmt ist. Erfüllt ein Haut- und Händedesinfektionsmittel sowohl die Voraussetzungen eines Arzneimittels als auch die eines Biozides gemäß des Chemikaliengesetzes (§ 3b ChemG), so tritt die Zweifelsregelung (§ 2 Absatz 3a AMG) in Kraft, welche besagt, dass es sich im Zweifelsfall um ein Arzneimittel handelt. Bei Hautdesinfektion zur Infektionsprophylaxe handelt es sich nach Auffassung vieler Experten um ein Arzneimittel, das folglich den Regelungen des Arzneimittelgesetzes unterliegt und unter bestimmten Umständen in der Apotheke hergestellt werden darf.

Rezeptur oder Defektur möglich, aber ...

Grundsätzlich wäre wie bei allen Arzneimitteln auch die Herstellung als Rezeptur oder Defektur möglich. Beides dürfte aber, zumindest wenn man sich streng an die gesetzlichen Vorgaben hält, eher unpraktikabel sein. Denn Rezepturen dürfen bekanntermaßen nur auf Einzelanforderung hergestellt werden, für Defekturen bedarf es den Nachweis einer häufigen ärztlichen oder zahnärztlichen Verschreibung.

Ausnahmegenehmigung möglich

Eine praktikablere Möglichkeit der Defektur wäre allerdings die sogenannte Bulkware. Das ist zwar eine Herstellung auf Vorrat, aber keine Herstellung eines abgabefähigen Fertigarzneimittels. Die Herstellung als Standgefäßware (Bulk) ist die Option, wenn weder eine Standardzulassung vorliegt noch die Voraussetzungen der Hunderter-Regel erfüllt sind. Das Produkt, in diesem Fall die Lösung, wird dann in einem Standgefäß aufbewahrt und bei Bedarf als „Rezeptur“ abgefüllt. Das zwischengelagerte Produkt ist jedoch als fertige Defektur anzusehen und unterliegt damit nach Auffassung der Arbeitsgemeinschaft der Pharmazieräte Deutschlands (APD) der Prüfpflicht gemäß § 8 ApBetrO (APD2013).  Zur Freigabe eignet sich die Bestimmung der relativen Dichte, weil die Dichte unmittelbar mit dem Alkoholgehalt der jeweiligen Zubereitung korreliert. Die Abgabegefäße sind dann nach § 14 ApBetrO zu kennzeichnen. Ein Nachweis der ärztlichen Verordnung ist in diesem Fall nach Ansicht der Pharmazieräte nicht nötig.

Einzelne Kammern sehen das Ganze anscheinend eher pragmatisch. So verweist die Kammer in Baden Württemberg in einem aktuellen Schreiben an die Mitglieder explizit auf die Möglichkeit der Eigenherstellung nach der WHO-Rezeptur. Rechtliche Bedenken macht sie zumindest an dieser Stelle nicht geltend.

Angesicht der aktuellen Knappheit an Desinfektionsmittel ist es allerdings nicht ganz ausgeschlossen, dass „eine zuständige Behörde befristet für eine Dauer von höchstens 180 Tagen“ die Herstellung, Abgabe und Verwendung von nicht zugelassenen Desinfektionsmitteln erlaubt. Dann dürften Apotheken auch Desinfektionsmittel, die gemäß Zweckbestimmung nicht unter das Arzneimittelgesetz, sondern die Biozid-Verordnung fallen, herstellen.



Julia Borsch, Apothekerin, Chefredakteurin DAZ
jborsch@daz.online


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7 Kommentare

Warum sollen wir uns mit Bulk und Defektur so verrenken...

von Andreas P. Schenkel am 03.03.2020 um 21:19 Uhr

... machen wir es doch einfach so: Alle Kollegen sollten den nach diesem Absatz folgenden Rechtstext copy&pasten, hübsch formatieren, Ort-Datum druntersetzen, ausdrucken und unterschreiben. Dann in den Rechtsangelegenheiten-Ordner abheften. Und dann sofort mit der Biozid-Herstellung anfangen. Jetzt sind wir dran, das ist unsere Zeit, das ist unsere Bewährungsprobe. Packen wir es an!
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Die Herstellung und Abgabe der WHO-Handdesinfektions-Standard-Bioziden sowie Propanol- und Ethanol-basierte Biozide zur Flächendesinfektion ist für Apotheken zulässig während eines Lieferausfalls von industriell bereitgestellten Bioziden zu Zeiten von bedrohlichen Endemien, Epidemien und Pandemien.

Begründung:

A) Aufgrund § 1 Abs. 1 ApoG haben die Apotheken einen hoheitlichen Auftrag zur Bereitstellung von Bioziden an die Bevölkerung, die analog den in der Rechtsnorm aufgeführten Arzneimitteln der Gesunderhaltung der Bevölkerung dienen.

B) Die "Verordnung (EU) Nr. 528/2012" (im Folgenden "Biozidverordnung") erklärt im Erwägungsgrund 1 Biozidverordnung, dass "Biozidprodukte" notwendig seien zur Bekämpfung von schädlichen Organismen.

C) Die Biozidverordnung fordert in den dem Erwägungsgrund 1 nachfolgenden Erwägungsgründen ein hohes Schutzniveau der Biozidprodukte für Menschen und Tiere ein mit besonderem Augenmerk auf den Arbeitsschutz. Durch die Verwendung der beiden WHO-Standards für Handdesinfektionseinreibungen und der seit sehr langer Zeit etablierten Flächendesinfektionsmittel kann die Anwendungssicherheit und die Wirksicherheit mit einer äußerst großen Wahrscheinlichkeit aus vorausgesetzt gelten.

D) Durch neuartige Krankheitserreger werden in der Bevölkerung insbesondere krankheitsanfällige Subpopulationen in ihrer Gesundheit bedroht. Die Bereitstellung von Bioziden an diese dient deren unmittelbaren Gesundheitsschutz. Die Bereitstellung von Bioziden an weitere Personen dient der Eindämmung der Infektionsgefahr und kann die Ausbreitung der Infektion verlangsamen, sodass neue Therapieoptionen für gefährdete Personen erprobt und etabliert werden können.

E) Artikel 55 Biozidverordnung definiert Ausnahmeregelungen von der Zulassungspflicht. Diese Regelungen sind jedoch nur geschaffen für Biozidprodukte, die so beschaffen sind, dass sie regulär nach den Voraussetzungen der Biozidverordnung nicht zugelassen werden können. Die WHO-Händedesinektionsmittel und Flächendesinfektionsmittel sind jedoch so beschaffen und haben alle Eigenschaften, die eine Zulassung gemäß Biozidverordnung ermöglichen würden. Dementsprechend wurde eine Situation von Lieferausfällen der industriell bereitgestellten Biozide vom Normgeber der Biozidverordnung nicht vorgesehen. Es handelt sich somit um eine ungeplante Regelungslücke, die durch den Normgeber nicht gewollt sein kann. Kein Nationalstaat und keine supranationale Konföderation kann wollen, dass die gesundheitlichen Schutzinteressen der Bevölkerung aufgrund formaler Vorgaben nicht garantiert werden können. Demnach ist eine Biozid-Herstellung durch lokale Herstellung wie von der WHO vorgesehen und durch Standards gefördert in Ausnahmesituationen im Einklang mit der Biozidverordnung, selbst wenn diese Regelung nicht ausdrücklich in der Norm festgelgt worden ist. Insbesondere die Existenz von Ausnahmeregelungen in der Biozidverordnung, welche unter bestimmten Umständen die Verwendung von Zubereitungen und Inhaltsstoffen zulassen, die ansonsten nicht zulassungsfähig wären, legt nahe, dass Zubereitungen, die ohne weiteres als zulassungsfähig gelten können, erst recht in Ausnahmesituationen bereitgestellt werden dürfen.

F) Die Interessensabwägung zwischen formalen Erfordernissen für die Biozid-Bereitstellung und dem Schutz der Bevölkerungsgesundheit lässt nur den Schluss zu, dass die Apotheken in dieser besonderen Situation einer gefährlichen Infektionsausbreitung besonders sichere Biozide, nach weltweiten gültigen Standards gefertigt, bereitstellen und dispensieren dürfen.


Weitere Erkenntnisse:

1) Da die Biozide keine Arzneimittel sind, ist die Verwendung von zertifikatsfreien Rohstoffen stets möglich. Arzneibuch-Eingangsprüfungen müssen nicht durchgeführt werden, Fachverstand reicht aus.

2) Die zu führenden Aufzeichnungen während der Herstellung sind auf ein Maß reduzierbar, die aus fachlicher Sicht im eigenen Ermessen ausreichend für Rückverfolgbarkeit und Qualitätssicherung sind.

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Es gibt keinen (GMP-)Isoprop. mehr!

von Thomas Ruprecht am 03.03.2020 um 11:21 Uhr

Über das Luxusproblem der fehlenden Handdesinfektion sind wir doch schon hinaus! - Wir bekommen über den Großhandel seit letzter woche KEINEN (weder zertifizierten, noch sonstigen) Isoprop. mehr! Direkt über Hedinger, Caelo und Co. hab ichs jetzt noch nicht versucht, - ABER: Es nähert sich der Zeitpunkt an dem wir keine Rezepturen mehr nach BAK-Standard herstellen können! - Muss man dann die Rezeptur verweigern? - Darf ich mir den "alten" Desinfektionsspiritus herstellen? (Ist ja aus dem NRF geflogen wegen u.A. "... ausreichend Fertigprodukte." Seit diese d~#*liche Biozidverordnung gilt, haben wir den 5l Kanister Isoprop (den wir frührer zur Flächendesinfektion nahmen) nicht mehr an Lager. Seit der Mindestbestellmenge für (St.fr.) EtOH, hat den auch keiner mehr da! - Herzlichen Glückwunsch! - Der Apotheker hat sich selbst zum Schubladenzieher degradiert!

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Wo bleibt Spahn, DoMo und die AOK?

von Chris am 03.03.2020 um 11:09 Uhr

Es ist so merkwürdig still geworden ...
Liegt das daran, dass Max Müller zu Bayer wechselt? Wie sieht denn der Beitrag von DoMo hier aus?
Und die AOK? Verstummt - oder schon in Quarantäne?
Herr Spahn - braucht wenn´s akut wird etwas länger ...
Die ABDA? Vergessen Sie es - informieren Sie sich lieber beim NHS in UK.
Angesicht der aktuellen Knappheit an Desinfektionsmittel ist es allerdings nicht ganz ausgeschlossen, dass „eine zuständige Behörde befristet für eine Dauer von höchstens 180 Tagen“ die Herstellung, Abgabe und Verwendung von nicht zugelassenen Desinfektionsmitteln erlaubt ...
Welche Behörde soll das eigentlich sein? Und wann wird man oder frau dort aktiv?
Nicht nur an Ihren Taten soll man Sie messen - sondern auch daran was Sie nicht tun!
Wehe es sagt noch einmal einer was gegen das Apothekenlabor und die Rezeptur/Defektur. Hier können wir jetzt punkten (und daran erinnern wenn mal wieder alles in Frage gestellt wird!)

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wenn es brennt

von norbert brand am 03.03.2020 um 8:06 Uhr

wenn es brennt und die Apotheken als Fachleute für die AM-Herstellung in die Bresche springen könnten, merkt man plötzlich, daß sich unser Berufsstand nahezu seine gesamte Herstellungskompetenz auf rechtlichem Weg hat nehmen lassen. Wie man geschlafen hat, als im AMG §4 der Begriff "Fertigarzneimittel" definiert wurde; weil man immer noch schläft und sich weiterhin von Wettbewerbsgerichten diktieren läßt, was "Herstellen" in seinen wesentlichen und unwesentlichen Herstellungsschritten eigentlich ist. Ach ja, und die Behörden: jetzt, wo es brennt, wird man auf einmal "pragmatisch" und verständnisvoll, während man ansonsten, wenn es nicht "brennt", vielen Apotheken die rechtliche Unzulässigkeit ihrer Husten- oder Magentropfen-Defektur vorhält??

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Einfach desinfizieren

von Thomas Kerlag am 03.03.2020 um 7:21 Uhr

...nach Auffassung vieler Experten handelt es sich um ein Arzneimittel...
Liebe Güte. Mit Ethanol kann man Mikroorganismen wie Bakterien und Viren ineaktivieren. Punkt. Wegen solcher Sätze ist der Apotheker ein Intensivpatient. Oder zumindest ängstlich agitiert

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AW: Einfach desinfizieren

von Thomas Kerlag am 03.03.2020 um 7:25 Uhr

Und bevor diese "Experten" in den Windeln lagen, hat man schon mit Alkohol desinfiziert

Desinfektionsmittel

von Mr. T am 02.03.2020 um 23:32 Uhr

Sicher kann das alles rechtlich beleuchtet werden. Interessiert einen Kunden herzlich wenig. Und beim Apotheker kann er durchaus darauf vertrauen, dass er etwas Vernünftiges bekommt. Und vielleicht hilft es , die Ausbreitung des Virus zu erschweren. Ehe die Behörden dabei zum Laufen kommen, hat der Virus sein Werk getan. Krass gesagt: Apotheker hat es rechtlich richtig gemacht, Patient tot. Wie sagte ein Virologe singemäß letztens im Fernsehen? Wir sind nicht vorbereitet. Es kommt auf Flexibilität an. In diesem Sinne.

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