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Ein von Rachegelüsten getriebener Fakultätskollege, der sich bei der Vergabe von Forschungsgeldern benachteiligt fühlte, jubelt dem Gerichtsmediziner Boerne im Tatort aus Münster ein mit Botulinum-Toxin vergiftetes Häppchen unter. Boerne sollte neurologische Symptome spüren wie die an ALS erkrankte Frau des Kollegen. Wie realistisch ist das?
Diesmal hätte es im Tatort aus Münster fast Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne erwischt. Die Symptome, die er nach dem Verzehr eines mit Botulinumtoxin vergifteten Häppchens zeigte, nämlich Sprechstörungen sowie Lähmung der Augen und Nackenmuskulatur, waren realistisch. Sie sind neben gastrointestinalen Symptomen typisch für Botulismus. Unbehandelt wäre es in der Folge vermutlich zu einer Lähmung der Atemmuskulatur gekommen. Allerdings kamen die Vergiftungserscheinungen viel zu bald. Die Anzeichen treten eigentlich erst nach zwölf bis 36 Stunden auf, bei geringen Mengen sogar erst nach mehrere Tagen – im Tatort war es im Laufe desselben Abends während der Feierstunde. Aber wie kam Boerne überhaupt zu dem tödlichen Gift?
Sein Fakultätskollege Professor Götz, ebenfalls Mediziner an der Uni Münster, forscht an der Nervenerkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) – seine Frau leidet an dieser bislang unheilbaren Krankheit. Sie nimmt sich zu Beginn des Tatorts das Leben. Götz hat die Illusion, er hätte sie retten können, wenn ihm das notwendige Geld zur Verfügung gestanden hätte. Doch die Millionen bekommt nicht er, sondern sein Kollege Boerne für seine Forschung an Mumien.
Lang gehegte Rachephantasien
Götz, der gegenüber seiner Psychologin schon lange Rachephantasien gegenüber Boerne äußert, vergiftet ein Häppchen mit Botulinumtoxin – ausgerechnet bei der Feierstunde für das Forschungsprojekt. Boerne solle spüren, wie es sich anfühlt, ALS zu haben und sterben, so der perfide Plan. Natürlich geht er nicht auf. Boerne hat, wie er selbst sagt, die Situation zu jeder Zeit im Griff. Tatsächlich wird er in letzter Minute durch seinen Kollegen Kommissar Thiel gerettet und intensivmedizinisch behandelt.
Ähneln sich ALS und Botulismus?
Hinsichtlich der neurologischen Symptome, wie Schluck und Sprechstörungen, können sich die ALS und eine Vergiftung mit Botulinumtoxin tatsächlich ansatzweise ähnlich sein. Die Form der ALS, die mit diesen Symptomen beginnt, ein sogenannter bulbärer Beginn, ist jedoch die seltenere Variante. Häufiger äußert sich die Erkrankung zuerst durch schmerzlose Lähmungen der Arme und Beine. Sie führen zu „Ungeschicklichkeiten“: Die Patienten stolpern oder lassen Stifte fallen.
Trotz unter Umständen ähnlichen Symptome ist der Pathomechanismus ein völlig anderer. ALS ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Der Auslöser ist unbekannt. Pathophysiologisch liegt der ALS eine Proteinopathie zugrunde: Das heißt, dass es zur pathologischen Anhäufung oder zum vorzeitigen Abbau von fehlgefalteten Proteinen in motorischen Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark kommt, die letztendlich zu einer Neurodegeneration führen. Der Verlauf der ALS ist bei jedem Patienten unterschiedlich. Die individuellen Beschwerden werden wesentlich von der zuerst befallenen Muskelregion bestimmt.
Völlig unterschiedlicher Mechanismus
Der Pathomechanismus einer Vergiftung mit Botulinumtoxin hingegen ist gut erforscht. Die Symptome beruhen auf einer Hemmung der exozytotischen Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin an den präsynaptischen Nervenendigungen. Die Reizweiterleitung zwischen Nerven und Muskeln wird unterbrochen. Die neurologischen Symptome beginnen meistens mit Lähmungen der Augenmuskeln. Die muskellähmende Wirkung macht man sich gezielt bei zahlreichen medizinischen Indikationen zunutze, zum Beispiel bei spastischen Lähmungen, Hyperhidrosis oder in der Schönheitschirurgie. Auch zu der im Tatort erwähnten Anwendung gegen Depressionen gibt es Untersuchungen. Dabei scheint die durch Botoxinjektion in die Stirn entspannte Mimik sich positiv auf die depressive Symptomatik auszuwirken.
„Produzent“ des Giftstoffes ist das Bakterium Clostridium Botulinum, ein Anaerobier, dessen Sporen weit verbreitet und äußerst widerstandsfähig sind. Unter anaeroben Bedingungen keimen sie aus und setzen das Gift frei. Das eine Botulinumtoxin gibt es allerdings nicht. Es ist eine Sammelbezeichnung. Derzeit sind laut RKI sieben Serotypen und mehr als 40 Subtypen bekannt. Für den Menschen toxisch sind die Typen A, B, E, F und H. Botox®, das wahrscheinlich bekannteste Botulinumtoxin-Arzneimittel enthält beispielsweise Typ A. Zu Vergiftungen kommt es meist durch den Verzehr verdorbener Lebensmittel, zum Beispiel aus Konserven. Dosen sind dann in den meisten Fällen aufgebläht.
Botulismus ist selten
In Deutschland werden dem Robert-Koch-Institut jährlich rund 20 Fälle gemeldet. Aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate ist der Botulismus trotzdem ein ernst zu nehmendes gesundheitliches und lebensmittelhygienisches Problem, warnt das Bundesinstitut für Risikobewertung. Eine Sonderform ist der Säuglingsbotulismus nach oraler Aufnahme von Sporen. In den ersten Lebensmonaten kann es zum Auskeimen von Cl. Botulinum und in der Folge zu einer Toxinbildung nach Darmbesiedlung kommen. Aus diesem Grund sollen Kinder unter einem Jahr auf Honig verzichten, da er Sporen enthalten kann. Bei älteren Kindern und Erwachsenen besteht diese Gefahr nicht mehr. Vermutlich wirkt eine stabile Darmflora dem entgegen. Eine weitere Variante ist er Wundbotulismus. Die Erkrankung ist selten, wurde aber in Deutschland, Europa und den USA in den letzten Jahren immer wieder unter Drogenkonsumenten beobachtet. Die Infektion erfolgt über kontaminiertes Heroin.
Schnelle Behandlung rettet Leben
Entscheidend ist beim Botulismus eine schnelle Behandlung. Noch nicht resorbiertes Toxin wird aus dem Gastrointestinaltrakt entfernt, zum Beispiel durch eine Magenspülung. Zirkulierendes Toxin kann mit Antitoxinen inaktiviert werden. Je nach Typ des Botulinumtoxins stehen verschiedene Antitoxine zur Verfügung, zum Beispiel ein trivalentes vom Pferd gegen die Typen A, B und E (Botulismus-Antitoxin Behring). In den USA ist seit einiger Zeit ein Heptavalentes Antitoxin zugelassen, das gegen die Serotypen A bis G wirkt.
Außerdem werden die Symptome behandelt. Die Einführung des Gegengiftes reduzierte die Sterblichkeit bei Botulismus von über 90 Prozent auf 10 bis 15 Prozent. Allerdings verschwinden die Lähmungserscheinungen nicht schlagartig. Daher ist es recht unrealistisch, so schnell wieder völlig fit zu sein wie Professor Boerne im Tatort.
Drei Millionen Euro reichen nicht
Ebenso unrealistisch ist die Vorstellung des Mediziner Götz, mit drei Millionen Euro – um so viel ging es nämlich bei dem Projekt – die Krankheit seiner Frau heilen zu können. Denn im Jahr 2014, als ALS durch die Ice-Bucket-Challenge große mediale Aufmerksamkeit erlangte, wurden weit größere Summen eingesammelt. So kam zum Beispiel allein die amerikanische ALS Association auf 92 Millionen Euro in acht Wochen. Zahlreiche Studien wurden mit dem Geld unterstützt. Es gab zwar Erfolge in der Forschung zu verzeichnen, beispielsweise wurden drei neue Gene entdeckt, die im Zusammenhang mit ALS stehen. Aber eine Heilung ist trotzdem derzeit nicht in Sicht.
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