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Experten zum Todesfall BIA 10-2474
Paradigma der ersten Studien am Menschen grundlegend infrage gestellt
Die tragischen Ereignisse bei der Phase-1-Studie in Rennes hätten kaum verhindert werden können, sagt Frankreichs Verband von Auftragsforschern und klinischen Pharmakologen. Während eine unabhängige Aufklärung weiter aussteht, entlasten sie Biotrial – und erwarten allgemeine Veränderungen.
Als der französische „Club Phase 1“ seine diesjährige Jahrestagung plante, konnte der Verband von Mitgliedern aus Pharmafirmen und Auftragsforschungsinstituten noch nicht ahnen, um welches Thema sie sich drehen würde. Angesichts der Internationalisierung der klinischen Forschung sollten die Vorträge zum ersten Mal auf Englisch gehalten werden, und die Mitglieder wollten sich im „Haus der Chemie“ zwischen Nationalversammlung und Invalidendom für eine anstehende Namensänderung des Verbands einsetzen.
Denn der Verband, der die frühe klinische Entwicklung von Arzneimitteln in Frankreich voranbringen will, hat vor, sich zukünftig breiter als bisher der klinischen Pharmakologie zu widmen. Doch durch die tragischen Ereignisse bei der klinischen Studie mit dem FAAH-Hemmer BIA 10-2474 kam es anders. „Es war ein Gewitter – für uns und die ganze Gemeinschaft“, sagt Verbandspräsident Jean-Louis Pinquier, der in einem Satz auch des verstorbenen Probanden gedachte.
So wurde das Programm umgeschmissen, das Thema BIA 10-2474 wurde an den Schluss gesetzt: Ein runder Tisch sollte die tragischen Ereignisse bei der klinischen Studie mit dem FAAH-Hemmer des portugiesischen Herstellers Bial erstmals diskutieren.
Sichtbar betroffen war Pinquiers Stellvertreter Alain Patat, der mit oft regungsloser Mimik zuhörte und deutlich zurückhaltender auftrat, als es für einen Vizepräsidenten zu erwarten wäre. Denn er ist gleichzeitig medizinischer Direktor des Auftragsforschungsunternehmens Biotrial, das die fatale Studie in Rennes durchführte. Und auch am Anfang gab es eine Programmänderung: Die Vertreterin der französischen Arzneimittelbehörde ANSM hatte ihre Teilnahme kurzfristig und ohne Angabe von Gründen abgesagt.
Waren die Zwischenfälle vorhersehbar?
Eine entscheidende Frage der Tagung war, ob der Tod des Probanden und die schweren Nebenwirkungen bei vier weiteren Teilnehmern hätten verhindert werden können – durch ein strengeres Studiendesign, Warnzeichen aus Tierversuchen oder von früheren Probandengruppen, oder einen früheren Stopp der Studie. „Aus den Daten, die wir hatten, war es unvorhersehbar“, sagt Patat von Biotrial gegenüber DAZ.online. Er weist auch darauf hin, dass die Kontrollgremien nichts zu bemängeln hatten: „Wir haben alle Richtlinien eingehalten.“
Auch wenn der eigentlich für Ende März angekündigte Abschlussbericht der Untersuchungskommission der ANSM bislang noch aussteht, zeichnet sich ab, dass BIA 10-2474 zu unspezifisch war und so zu den verhängnisvollen Nebenwirkungen führte. Dabei war die Dosis in der Probandengruppe mit den Zwischenfällen ungefähr zehnmal höher, als es für eine komplette Hemmung der Fettsäureamid-Hydrolase (FAAH) nötig gewesen wäre, auf die die Substanz wirken sollte. „Sie war bei sehr kleinen Dosis wirksam“, sagt Patat. „Aber damals lagen uns die Daten nicht vor.“
Bei welchen Nebenwirkungen wird gestoppt?
Angesichts der schweren Zwischenfälle sieht der Pharmakologe Christian Funck-Brentano von der Universität Pierre und Marie Curie in Paris hier Handlungsbedarf: Die Logik einer ersten Studie am Menschen sei es traditionell, die Dosis soweit zu erhöhen, bis es erste Nebenwirkungen gäbe. „Normalerweise sind sie sehr leicht, dann hört man auf“, sagt er. „Doch in dieser Studie war es der Tod.“
Zukünftig sollten erste Studien am Menschen angesichts der bei BIA 10-2474 relativ spät auftretenden Nebenwirkungen schneller gestoppt werden, sagte Funck-Brentano. Außerdem sei es extrem wichtig, dass die Pharmakodynamik zumindest im Nachhinein genau aufgeklärt wird. „Ich hoffe, dass Bial daran arbeitet“, sagt er.
Seiner Einschätzung nach waren weder die verstorbenen Versuchstiere noch die zwei Probanden in einer früheren Probandengruppe mit Kopfschmerzen und Sehproblemen auffällig. „Dies ist ein einmaliges Beispiel, wo alles richtig gemacht und technisch gut organisiert wurde”, so Funck-Brentano. „Dies ändert für mich das Paradigma von ersten Studien am Menschen“, sagt er – und erinnert gleichzeitig an die allgemein geringe Zahl von Zwischenfällen bei Phase-1-Studien. Außerdem sei er nicht überzeugt, dass steigender Regulierungsdruck die Anzahl an Unfällen tatsächlich reduzieren würde.
Wie schnell dürfen Studien getaktet werden?
Das aus Sicht deutscher Experten sehr dicht getaktete Design der Phase-1-Studie, bei der mehrere Studienteile ineinander verwoben wurden, war sowohl von der zuständigen Behörde ANSM als auch von der Ethikkommission abgenickt worden.
Wenn die Probanden das Mittel mit deutlichem zeitlichem Abstand bekommen hätten, wäre vielleicht nur ein Proband betroffen gewesen. Doch ist offen, welcher Zeitraum ausreichend ist. „Soll ich den nächsten Probanden in drei Tagen, einer Woche oder nach mehreren Monaten dosieren“, fragte die Pharmakologin Isabelle Paty, die beim Pharmaunternehmen Ipsen arbeitet.
Die EMA hat nach dem tragischen Zwischenfall eine grobe Orientierung gegeben. „Weitere Dosisgaben sollten innerhalb jeder Kohorte sequentiell sein, um die Risiken zu verringern“, schreibt die Behörde – die Beobachtungsintervalle sollen gemäß den präklinischen Daten gewählt werden.
„Wir befolgen alle die Richtlinie“, sagte Paty, die auch im Vereinsvorstand tätig ist. Dabei wurde von Biotrial nur in der allerersten Probandengruppe ein Abstand von 24 Stunden eingehalten, spätere Teilnehmer erhielten die Substanz praktisch gleichzeitig. „Wenn sie jeweils eine Woche abwarten, müssen sie die Länge der Studie mit acht multiplizieren“, sagt sie. Das Risiko könne außerdem nie ganz reduziert werden. Doch anders als bisher schlägt Paty vor, flexibler vorzugehen, anstatt die Dosis immer nur zu erhöhen: „Wir sollten erlauben, dieselbe Dosis auch mal zu wiederholen – oder sie wieder zu verringern“, so Paty.
Da auch die Pariser Staatsanwaltschaft ermittelt, wollten die Vertreter von Biotrial nur wenig Neues beisteuern. Philippe Danjou, Seniordirektor für Forschung und Entwicklung, brachte immerhin etwas mehr Licht in die Abläufe in der verhängnisvollen Nacht – und versuchte zu verdeutlichen, dass Biotrial allen Pflichten genüge tat. Die Kopfschmerzen sowie verschwommene Sicht des später verstorbenen Probanden sei am 10. Januar 2016 tagsüber noch relativ mild und „nicht besonders besorgniserregend“ gewesen, sagte er. Abends habe der Proband jedoch auch doppelt gesehen und stärkere Kopfschmerzen gehabt.
Keine Aufklärung per Computer-Tomograph
Danjous Darstellung nach handelte die Uniklinik in Rennes nicht vorsichtig genug: Sie wollte den Probanden wieder zurückschicken, als sich herausstellte, dass in einer CT-Untersuchung nichts Auffälliges zu sehen war. „Das hat der zuständige Arzt von Biotrial abgelehnt“, so Danjou. Daher blieb der Versuchtsteilnehmer in der Klinik. Doch die Diagnose war wohl falsch. „Die CT-Bilder hatten eine schlechte Qualität und viele Artefakte“, sagt er.
Ein Kernspin, der den am nächsten Tag festgestellten Schlaganfall vielleicht hätte erkennen können, würde in der Klinik sonntags nur in Notfällen durchgeführt – in diesem Fall wurde die Notwendigkeit wohl nicht gesehen. Biotrial sei über den massiven Schlaganfall erst am nächsten Morgen um zehn Uhr informiert worden und hätte keinen Anlass gehabt, den restlichen Probanden nicht vorher die nächste Dosis zu verabreichen, so Danjou.
Ein hohes Risiko sei nicht zu erkennen gewesen
„In keiner Weise war es ein Mittel, das als Hochrisiko-Substanz hätte erkannt werden können“, sagt er – und bezeichnete BIA 10-2474 sogar als „me-too“-Substanz, obwohl die anderen bisher untersuchten FAAH-Hemmer alle noch in der Erprobung sind oder schon aufgegeben wurden. Am Ende der für Biotrial entlastenden Diskussionsrunde zeigte er sich jedoch selbstkritisch: „Ich glaube, wir haben die präklinischen Daten nicht ausgereizt“, so Danjou.
Nicht nur die Mitglieder von Club Phase 1 werden die zu erwartende Diskussion um schärfere Regularien für die Zulassung klinischer Studien mit Spannung verfolgen. Erstaunlich ist, dass im Nachbarland die Zulässigkeit einer solchen Studie deutlich anders bewertet wird – so dass wohl einiger internationaler Abstimmungsbedarf besteht. „Wir haben den Eindruck, dass die Abstände zu kurz waren“, erneuerte Jörg Hasford vom deutschen Arbeitskreis medizinischer Ethikkommissionen seine frühere Kritik am eng getakteten Studiendesign.
Er hätte auch erwartet, dass die Studie nach der Krankenhauseinweisung abgebrochen würde. Die Kopfschmerzen seien nicht auffällig, die Sehstörung bei einer sonst gesunden Kohorte jedoch gravierend. „Das ist ein orangenes Licht“, so Hasford. „Dann dürfen sie nicht weitermachen“, sagt er. „Dann ist Schluss“.
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