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Lieferengpässe
Resilienz für Lieferketten
Wissenschaftliches Projekt EThICS-EU soll Arzneimittelversorgung verbessern
Deutschland, die einstige „Apotheke der Welt“, zeichnete sich dadurch aus, dass man Wirkstoffe entdeckte, entwickelte, erforschte und erfolgreich in die industrielle Massenproduktion der finalen Arzneiformen überführen konnte. Somit wurde die Herstellung der Arzneimittel in den Apotheken zurückgedrängt, die Rezeptur- und Defekturherstellung verlor zunehmend an Bedeutung, und die Apotheken wurden über die Zeit überwiegend zu Handelsunternehmen.
In den 1970ern entstanden erste Nachahmer-Unternehmen, die sich preisgünstige Wirkstoffe von Spezialchemie-Anbietern auf dem Weltmarkt beschafften und sich dann auf die Herstellung der Arzneiformen und die Vermarktung der Fertigarzneimittel fokussierten. Der Schwerpunkt dieser Generikaanbieter lag und liegt nicht auf der Forschung und Entwicklung, sondern auf Effizienz und Kosteneinsparungen in Beschaffung, Produktion und Logistik sowie erfolgreichen Marketing- und Vertriebsmaßnahmen. Insbesondere aufgrund der Kosteneinsparungen und den damit verbundenen niedrigeren Preisen konnten die Generikaanbieter – nach den im Jahr 1989 eingeführten Festbeträgen – bedeutende Marktanteile erobern. Die zunächst eher als qualitativ minderwertig betrachteten generischen Kopien gewannen ab den 1990er-Jahren durch den zunehmenden Kostendruck im Gesundheitswesen und die wettbewerbsorientierten Strukturreformen der Gesetzgebung immer mehr an Bedeutung. Man entdeckte die Generika zunehmend als effektives Mittel, um die Kosten der Arzneimittelversorgung weiter zu senken. Zentral waren hierbei die Rabattverträge, mittels derer die Wettbewerbsintensität massiv erhöht wurde. Mit der höheren Wettbewerbsintensität ging eine Marktkonsolidierung und -konzentration einher. Der Druck, in diesem margenschwachen Bereich Effizienzpotenziale zu erschließen, nahm erheblich zu und hat die Verlagerung der Lieferketten in Niedriglohnländer befördert und auch dort häufig zur Konzentrierung der Produktion geführt.
Der heutige deutsche Fertigarzneimittelmarkt setzt sich aus rund 80% Generika und 20% patentierten Arzneimitteln zusammen, wobei die Generika gerade einmal einen Anteil von 20% an den Arzneimittelausgaben haben. Aktuell liegt die Versorgung mit nahezu allen generikafähigen Wirkstoffen in den Händen der Generikaanbieter. Die forschende Industrie wurde aus diesem Marktsegment verdrängt, und ein Großteil der Wirkstoffe stammt aus Asien. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) nennt folgende Regionen als Ursprung der heutigen Wirkstoffe: Asien 68% (23,7% China, 37,3% Indien), 24% Europa sowie 5% Vereinigte Staaten (Abweichung rundungsbedingt). Ein genaues Bild über die Versorgungslandschaft für kritische Hilfsstoffe gibt es nicht.
Die Mär von der Rückverlagerung
Bei Generikaanbietern handelt es sich zumeist um jüngere Unternehmen, die sich nicht mit der gesamten Wertschöpfungskette für Arzneimittel beschäftigen mussten, sondern bewusst die Wirkstoffe zu möglichst günstigen Preisen am Weltmarkt einkaufen. Profitiert haben hiervon asiatische, vornehmlich chinesische Produzenten – aufgrund ihrer erheblichen Skaleneffekte und oft nur geringer Margenerwartungen bieten sie zumeist den niedrigsten Preis. Aus diesem einfachen Grund nehmen Lieferketten dort so häufig ihren Ursprung.
Die so oft postulierte Rückverlagerung der Lieferketten erscheint unter diesen Bedingungen unrealistisch. Es fehlt einerseits an finanziellen Anreizen, aber auch an Produktionsanlagen. Zudem bedürfen Synthesevorstufen häufig einer Chemie, die wir in Europa und Deutschland verloren haben und das nicht selten aufgrund strenger Umweltauflagen (z. B. die Halogenchemie zur Paracetamol-Synthese findet nur in China statt). Produktionsprozesse wie dieser sind in Europa nicht mehr eins zu eins umsetzbar, sondern erfordern innovative Methoden. Derartige Anstrengungen bzw. Investitionen schrecken Chemieunternehmen ab, und die Millionen-Investitionen erscheinen derzeit ohne finanzielle Anreize von staatlicher Seite kaum möglich zu sein.
Ohne erhebliche regulatorische und finanzielle Anreize ist es kaum vorstellbar, dass Generikaanbieter rein europäische Lieferketten erwägen und in den Aufbau der entsprechenden Kompetenz und der notwendigen Produktionskapazitäten investieren. In Anbetracht der aktuell erzielbaren Margen würden sich diese Investitionen nicht mehr amortisieren.
Intelligente Lösungen gefordert
Die Würzburger Professorin Ulrike Holzgrabe und der Apotheker Uwe Weidenauer beschäftigen sich seit über zehn Jahren mit der Problematik der Lieferengpässe und kamen zu dem Schluss, dass man den Stakeholdern aus Politik und einheimischer und pharmazeutischer Industrie sowie den Kostenträgern eine wissenschaftlich fundierte Anleitung geben sollte, wie das Dilemma gelöst werden kann. Aber man war sich auch einig, dass hier Kompetenzen weit außerhalb der Pharmazie und Chemie benötigt werden. Insofern war es naheliegend, Andrea Szczesny und Richard Pibernik mit in die Initiative einzubinden. Professor Szczesny begleitet den Lehrstuhl für Controlling und Interne Unternehmensrechnung und beschäftigt sich mit Anreizsetzungen im Gesundheitswesen und gesundheitsökonomischen Fragestellungen in der Versorgungsforschung. Professor Pibernik besetzt den Lehrstuhl für Logistik und quantitative Methoden in der Betriebswirtschaftslehre und beschäftigt sich schon lange mit Lieferketten für Arzneimittel. In Projekten, die von den Vereinten Nationen und der Gates Foundation finanziert wurden, hat er zur Versorgung von Entwicklungsländern mit lebenswichtigen Medikamenten geforscht und darüber hinaus bereits Lieferketten erster Wirkstoffe wie beispielsweise Paracetamol und Cefuroxim bis ins kleinste Detail analysiert.
Aus der Gruppe entstand Ende 2022 die interdisziplinär aufgesetzte Initiative EThICS-EU, ein Akronym für „Essential Therapeutics Initiative for Chemicals Sourcing for the European Union“, auf deutsch etwa „Essentielle-Therapeutika-Initiative für die Beschaffung von Chemikalien für die Europäische Union“. Das Programm sei keine Reaktion auf die kurzfristigen Engpässe, insbesondere bei den Fiebersäften, betonte Richard Pibernik unlängst im Bayerischen Rundfunk. Vielmehr werde man sich mit versorgungskritischen bzw. zukünftig erwartet versorgungskritischen Arzneimitteln beschäftigen. „Es geht nicht um einen patriotischen Ansatz, den Welthandel zu umgehen, sondern vielmehr darum verschiedene geeignete Maßnahmen zu identifizieren, um krisenfestere Versorgungsstrukturen im Arzneimittelwesen zu schaffen. Eine davon dürfte sicherlich in einer globalen Diversifizierung der Lieferketten liegen, dies ist allerdings kein kurzfristig umsetzbares Szenario“, betont Andrea Szczesny. Zwischen dem Status Quo und der (Mär der) Rückverlagerung gibt es maßgeschneiderte Maßnahmenbündel für jeden Wirkstoff, die die „richtige“ Versorgungssicherheit zu akzeptablen gesellschaftlichen Kosten gewährleisten. „Solche intelligenten Lösungen wollen wir gemeinsam mit den Experten und Expertinnen aus der Pharmazie identifizieren und dabei helfen, sie umzusetzen“, sagt Pibernik.
Ganzheitliche Betrachtung der Lieferketten
Wichtige erste Erkenntnisse können aus dem Programm bereits abgeleitet werden. Im Vordergrund muss hierbei eine ganzheitliche Betrachtung der Lieferketten für die generischen Arzneimittel stehen.
Die Herstellung von Wirkstoffen erfolgt nicht notwendigerweise in einer einzelnen Produktionsstätte, sondern in Abhängigkeit der Syntheseschritte oft an mehreren Orten. So beziehen Wirkstoffhersteller in Asien, aber auch Europa und den USA, sogenannte kritische Ausgangsmaterialien sowie Vorstufen (engl. building blocks) von großen mitunter nicht-pharmazeutischen Spezialchemieanbietern, um den finalen Wirkstoff herzustellen (s. Abb. 1).
„p-Aminophenol ist beispielsweise ein zentraler Baustein für die Paracetamol-Synthese. Es wird aus p-Chlornitrobenzol hergestellt, welches wiederum aus einer Halogenierungsreaktion entsteht. Dieses kritische Ausgangsmaterial wird aus Umweltgründen seit über zehn Jahren nicht mehr in Europa hergestellt, denn insbesondere Halogenierungen gelten als umweltkritisch. Deshalb kaufen sogar indische Wirkstoffproduzenten p-Aminophenol aus China zu“, wie Ulrike Holzgrabe unlängst in einem Vortrag erklärte. Im Übrigen war dies 2020, am Anfang der Corona-Pandemie, der Grund für den von der indischen Regierung verhängten Exportstopp für Paracetamol. Die indischen Unternehmen waren zwar willig zu produzieren und in die EU zu liefern, allerdings fehlte das kritische Ausgangsmaterial der chinesischen Lieferanten, die im Lockdown nicht ausreichend herstellen konnten.
Unter diesen Aspekten ist die Initiative des französischen Staates zum sogenannten Reshoring, also der Rückverlagerung der Paracetamol-Synthese zum Unternehmen Seqens nach Frankreich äußerst fragwürdig. Diese Initiative wird nicht zu einer resilienten Lieferkette führen. Geplant ist der Zukauf von p-Aminophenol vollständig aus China. Nur der letzte Syntheseschritt der Acetylierung erfolgt in einem hocheffizienten Verfahren, mittels sogenannter Flow-Through-Chemistry. Der geplante 10.000-Tonnen-Ausstoß deckt dabei gerade einmal rund ein Drittel des jährlichen EU-Bedarfs ab. Dass innovative Produktionsverfahren gefunden werden müssen, macht die Sache nicht einfacher.
Lieferengpässe nicht gleich Versorgungsengpässe
Wenn ein Arzneimittel nicht verfügbar ist, kann es gegebenenfalls auch gegen ein anderes Arzneimittel der gleichen Wirkstoffgruppe ausgetauscht werden. Mitunter kommen auch Wirkstoffe mit ähnlicher Wirkung, aber anderem Wirkmechanismus infrage. „Wenn wir in der Apotheke einen Lieferengpass bemerken, ist dies zwar ärgerlich, bedeutet aber nicht zwangsläufig einen Versorgungsengpass. Patienten können trotzdem therapiert werden. Es gehört zu unserer Tätigkeit in der Apotheke, Ärztinnen und Ärzte zu den therapeutischen Alternativen zu beraten, um die Versorgung sicherzustellen“, merkt Uwe Weidenauer an.
Im Rahmen des EThICS-EU-Programms stellt sich allerdings die Frage, ob die Wirkstoff-Alternativen in ausreichenden Mengen vorhanden sind, um eine vollständige Substitution der fehlenden Marktvolumina über längere Zeiträume zu gewährleisten.
Vier Wirkstoffe im Fokus
Im Rahmen von EThiCS-EU werden zunächst vier wichtige Wirkstoffe untersucht, die anhand einer Matrix aus den Dimensionen Versorgungsrisiko und therapeutischer Relevanz klassifiziert wurden (s. Abb. 2).
Hierzu gehört unter anderem Tamoxifen, bei dem es in der jüngeren Vergangenheit zu Liefer- und Versorgungsengpässen gekommen ist. Der Markt für Tamoxifen wird vollkommen von Generikaanbietern beherrscht, die Wirkstoffquellen liegen mehrheitlich in Asien, und die Lage kann nach wie vor als versorgungskritisch betrachtet werden.
Colistin (Polymyxin E), das bei schweren Infektionen mit multiresistenten Bakterien eingesetzt wird, zählt zu den „Last-Line-Medikamenten“ und wurde von der Weltgesundheitsorganisation auch als Reserve-Antibiotikum eingestuft. Es besteht eine vollständige Abhängigkeit von asiatischen Lieferketten.
Amoxicillin ist eines der meistgenutzten Breitband-Antibiotika zur Behandlung von bakteriellen Infektionen und gehört in den Apotheken zu den meistverordneten Antibiotika. Europa ist bei Antibiotika abhängig von asiatischen Wirkstoffproduzenten, bereits heute werden über 70% aller generischen Antibiotika in Asien hergestellt, mit steigender Tendenz. Die letzte vollständig integrierte Lieferkette für Betalactam-Antibiotika, somit auch für Amoxicillin, in Tirol ist wegen gestiegener Energiepreise gefährdet, was im schlimmsten Fall auch für diesen Wirkstoff eine vollständige Abhängigkeit von asiatischen Wirkstoffproduzenten bedeuten könnte.
Bei dem vierten Wirkstoff handelt es sich um Lenalidomid, welches in der lebenserhaltenden Therapie des multiplen Myeloms eine entscheidende Rolle spielt. Mit dem Entfall der Schutzrechte 2022 traten zahlreiche Generikaanbieter in den Markt ein, deshalb ist zeitnah von einer vollständigen Abhängigkeit von asiatischen Wirkstoffherstellern auszugehen.
Schrittweises Erarbeiten von Lösungen
Wie oben dargestellt, fehlt es an einem genauen Bild über die Versorgungslandschaft. Ohne Transparenz sind mögliche Ansatzpunkte für eine Erhöhung der Versorgungssicherheit nur schwer identifizierbar. Daher ist der erste Schritt der Forschungsinitiative, zielgerichtet Transparenz zu schaffen. Für die zuvor aufgeführten kritischen Wirkstoffe wird zunächst analysiert, welche Mengen im System vorhanden, welche Reserven üblicherweise gehalten werden und in welchem Maße Substitutionsmöglichkeiten genutzt werden können. Zudem muss ermittelt werden, welche Lieferanten an welchen Stellen der Lieferketten zu kritischen Engpässen führen können. Darauf aufbauend können in einem zweiten Schritt für die ausgewählten Wirkstoffe Stresstests durchgeführt werden. Dazu werden geeignete Szenarien durchgespielt, um abzuschätzen, was passiert, wenn beispielsweise drei der identifizierten fünf kritischen Lieferanten ausfallen. Was ist die „time to survive“, das heißt, wie lange dauert es, bis vorhandene Reserven des Wirkstoffes inklusive möglicher Substitute aufgebraucht sind und es zu erheblichen Verschlechterungen der Versorgungsqualität kommt? Basierend auf diesen Stresstests können in einem dritten Schritt kurz- bis mittelfristige Maßnahmen identifiziert und insbesondere in Bezug auf die damit verbundenen Kosten evaluiert werden. Eine solche Maßnahme könnte etwa die Auswirkung einer Ausweitung der Reichweiten im Großhandel, oder das Aufbauen und Halten (anderer) strategischer Sicherheitsbestände sein. Zeitgleich kann der Blick auch auf mögliche langfristige Maßnahmen ausgeweitet werden. Diese wären dann beispielsweise eine passgenaue Lieferantendiversifizierung oder ein sogenanntes „Nearshoring“, also eine Nahverlagerung hin zu nationalen oder EU-Bezugsquellen.
Mit den gesammelten Ergebnissen und Erfahrungen lässt sich ein Rahmenkonzept zur gesellschaftlich-ökonomischen Bewertung von Arzneimittel-Lieferketten entwickeln, das zusammen mit dem erarbeiteten Pool an Instrumenten und Maßnahmen Entscheidungsträger bei der Risiko-Kosten-Abwägung in Arzneimittel-Lieferketten unterstützt.
Unterstützung wird gesucht
Das Forschungsprogramm befindet sich momentan im Aufbau. Um die geplanten Studien zu realisieren, sollen mehrere Stellen für Postdocs, Doktorandinnen und Doktoranden etabliert werden. Für den bereits existierenden Beirat konnte Steffen Schweizer, ein erfahrener Pharmamanager, gewonnen werden. Zukünftig wird dieses Gremium durch weitere Experten unterstützt. Bereits nach spätestens zwölf Monaten sollen erste Ergebnisse präsentiert werden, um die aussichtsreichsten Optionen für eine Neugestaltung der Lieferketten zu identifizieren und diese detailliert in Bezug auf ihre technische, politische und ökonomische Umsetzbarkeit zu evaluieren.
Der jährliche Finanzierungsbedarf wird auf 500.000 Euro geschätzt. Derzeit kümmert sich das Team intensiv um die finanzielle Unterstützung für die erste Phase des Projekts. Nach einem erfolgreichen Einstieg in das Vorhaben und ersten Erkenntnissen sind große Förderanträge bei Drittmittelgebern auf nationaler und internationaler Ebene geplant. |
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