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Politik
Ein Jahr Krieg in der Ukraine
In den Apotheken fehlt es besonders an Personal und Strom
Zehntausende tote Soldaten und Zivilisten, zerstörte Städte und Dörfer, Millionen Männer, Frauen, Kinder und Ältere auf der Flucht, ständige Raketen- und Drohnenangriffe im gesamten Land und zerstörte Kraftwerke und Versorgungsleitungen – der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf sein Nachbarland die Ukraine hat Spuren hinterlassen. Und auch nach 365 Tagen Krieg in Europa ist kein Ende in Sicht.
Der Krieg hat auch Spuren im Gesundheitswesen des Landes hinterlassen. Bereits rund sechs Wochen nach Kriegsbeginn hatte die Apothekerkammer der Ukraine, die All Ukrainian Pharmaceutical Chamber (AUPC), gemeldet, dass mehr als 4000 Apotheken des Landes schließen mussten [1]. Aktuelle Zahlen liegen nicht vor, es dürften aber in den vergangenen Monaten noch deutlich mehr geworden sein. „Der von der Russischen Föderation entfesselte Krieg hat dem ukrainischen Gesundheitssystem erheblichen Schaden zugefügt“, sagt Anastasiia Padchenko, Gynäkologin und Geburtshelferin am Kiewer Perinatalzentrum. „Die Besatzer schädigten 1160 medizinische Infrastruktureinrichtungen und weitere 160 wurden vollständig zerstört. Die Weltbank schätzt, dass der Gesundheitssektor Verluste von mehr als einer Milliarde US-Dollar erlitten hat.“
Viele Fachkräfte kämpfen jetzt oder mussten fliehen
Außerdem fehle es an allen Ecken und Enden an Fachpersonal. „30.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens schlossen sich den Streitkräften der Ukraine (AFU) an oder meldeten sich als Freiwillige und rund 2300 medizinische Fachkräfte gingen ins Ausland“, zählt Padchenko auf. Das macht sich auch in den verbleibenden Apotheken des Landes bemerkbar. „Da viele Menschen in die westlichen Regionen oder ins Ausland abwandern, gibt es einen Mangel an Personal, und diejenigen, die bereits im Ruhestand sind, werden oft gebeten, zu arbeiten“, berichtet Liudmyla Bilosh, Apothekerin in der Apotheke Nr. 1 (Blagodiya) in der Hauptstadt der Ukraine Kiew. Schwierigkeiten gebe es auch bei Stromausfällen oder Luftangriffen, sagt sie. „Wir sind gezwungen, die Apotheke bei Luftangriffen oder Stromausfällen zu schließen.“ Es sei nicht immer möglich, einen Generator zu installieren, der dieses Problem lösen würde, ergänzt Iryna Kraevska vom Großhandel ProPharma in Kiew.
Mangel an qualifiziertem Personal, aber auch eine zunehmende Arbeitsbelastung der medizinischen Einrichtungen in den zentralen und westlichen Regionen aufgrund der Binnenmigration gibt auch Olena Delaynyk, Leiterin der Abteilung für Palliativmedizin des Kiewer Konsultations- und Diagnosezentrums, als große Probleme für die Gesundheitsversorgung an. Ferner die Probleme mit der Stromversorgung, die für die Notfallversorgung entscheidend sein könnten. Die Notsituation des Krieges an sich brächte es aber auch mit sich, dass die finanziellen Mittel für medizinische Leistungen zurückgingen, „da das Einkommen der Bevölkerung sinkt und die finanzielle Belastung steigt, was zu einer katastrophalen finanziellen Unsicherheit der Patienten führt“, sagt Padchenko. Und: „Während des Krieges gehen die Menschen nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen, sondern warten bis zur letzten Minute, weil sie Angst haben, das System zu belasten, und das System sich auf andere Prioritäten konzentriert. Dies führt dazu, dass Krankheiten erst in späteren Stadien entdeckt werden. Dies bedeutet eine längere und teurere Behandlung, die nicht immer wirksam ist“, sagt sie.
Menschen müssen entscheiden, ob sie heizen, essen oder Arzneimittel kaufen wollen
Dass die wirtschaftlichen Folgen des russischen Überfalls den Menschen – und damit auch den Apotheken – zu schaffen macht, das berichtet auch Markus Bremers, Sprecher der „Notapotheke der Welt“ Action Medeor. Das Hilfswerk engagiert sich auf vielfältige Art in der Ukraine. „Die Apothekerinnen und Apotheker spüren die sozialen Probleme der Menschen. Viele haben ihre Jobs verloren und damit auch ihre soziale Sicherung. Dadurch, dass gleichzeitig die Lebenshaltungskosten in der Ukraine extrem gestiegen sind, sind viele Menschen in soziale Not geraten. Viele Menschen müssen entscheiden, ob sie heizen, Lebensmittel kaufen oder Arzneimittel kaufen – alles zusammen geht nicht. Zudem müssen aufgrund der großen Binnenflucht in vielen Städten nun viel mehr Menschen medizinisch versorgt werden als vorher. Auch dies führt zu Problemen“, sagt Bremers. In Odessa unterstützt die Action Medeor daher eine Sozialapotheke, die Medikamente kostenfrei an Bedürftige ausgibt. „Die Arzneien für Odessa werden lokal beschafft und mit Spenden finanziert, die Ausgabe erfolgt in enger Kooperation mit lokalen Apotheken. Wir kooperieren mit ihnen sehr eng, um die lokalen Wirtschaftsprozesse nicht zu stören und um alle Qualitätsanforderungen einzuhalten“, erklärt Bremers. Für das Personal in der Sozialapotheke Odessa organisiere man mittlerweile auch psychologische Unterstützung.
Indes berichten die Apotheker, dass die Versorgung mit Arzneimitteln mittlerweile keine Probleme mehr darstellen – abgesehen von den gleichen Lieferschwierigkeiten, die auch in Deutschland Apotheken und Patienten zu schaffen machen. „Bis etwa Mai, Juni 2022 gab es Probleme mit der Versorgung mit Medikamenten. Jetzt erhalten wir alle entsprechend der Bestellung und können die Wünsche der Patienten, die zu uns kommen, erfüllen“, sagt etwa die Kiewer Apothekerin Liudmyla Bilosh. „Es gibt keine Schwierigkeiten mit der Versorgung an sich, es kommt vor, dass Medikamente nicht verfügbar sind und die Kunden in den Apotheken auf der Suche nach einem Medikament umherlaufen. Die Versorgungsunterbrechungen sind jedoch ein vorübergehendes Phänomen“, sagt auch Apothekerin Khrystyna Chervinka, die in der Westukraine in Lviv die Apotheker „Nr. 4“ der D. S. Apothekenkette betreibt.
„Die Vertriebsunternehmen sind nun in der Lage, den Apotheken alles, was sie benötigen, im Rahmen der eingehenden Bestellungen zu liefern“, sagt auch Großhändlerin Kraevska. Direkte Versorgungskanäle zu allen Regionen, einschließlich der Frontlinie, habe man wiederhergestellt, soweit dies aus Sicherheitsgründen möglich sei. Anders natürlich sehe die Situation im Osten der Ukraine aus, wo die unmittelbaren Kämpfe toben. „In den Gebieten, in denen Kampfhandlungen stattfinden, sind die Apothekenketten in der Regel zerstört und es gibt praktisch keine Zivilbevölkerung“, sagt sie.
Hilfsorganisationen haben geholfen, die Situation zu verbessern
Dass sich die Situation besonders bei der Versorgung mit Arzneimitteln wieder deutlich verbessert hat, daran haben auch die humanitären Hilfsorganisationen einen bedeutenden Anteil. Besonders in dem Bereich der Arzneimittelversorgung sind aus Deutschland unter anderem die Action Medeor in Kooperation mit dem Verein Apotheker helfen (www.apotheker-helfen.de) sowie Apotheker ohne Grenzen (www.apotheker-ohne-grenzen.de) engagiert. „Die Ukraine hatte vor dem Kriegsbeginn 2014 eine vergleichsweise gut funktionierende Medikamentenversorgung vor allem für häufige und chronische Krankheiten. Mit dem ersten Angriff Russlands auf die Krim und den Donbass 2014 begannen die Probleme, denn viele ukrainische Hersteller und Großhändler von Medikamenten haben beziehungsweise hatten ihren Sitz im Osten des Landes. Nach dem Angriff im Februar 2022 brachen etablierte Versorgungsketten dann zeitweilig zusammen“, erklärt Action-Medeor-Sprecher Bremers. Inzwischen seien viele Versorgungswege auch unter Kriegsbedingungen wieder neu etabliert. An der Front sowie dort wo viele Binnenflüchtlinge untergebracht seien, gerate die medizinische Versorgung der Menschen regelmäßig an Grenzen, sagt er. „Außerdem sind die Preise für praktisch alle Güter, inklusive Arzneimittel, auf dem privaten Markt deutlich gestiegen.“
Mittlerweile kooperiere auch der Verein Apotheker helfen mit Action Medeor. „Das heißt, eine Anfrage wird zusammen mit Action Medeor bearbeitet und eine Lieferung finanziert. Der Grund ist die aufgebaute Versorgungsstruktur direkt in der Ukraine“, sagt Andreas Wiegand, Geschäftsführer von Apotheker helfen. In den ersten Wochen und Monaten des Krieges habe man noch direkt aus Deutschland Krankenhäuser und vergleichbare Institutionen mit Arzneimitteln und medizinischen Hilfsgütern versorgt.
Auch Apotheker ohne Grenzen helfen durch das Beschaffen und Entsenden von lebenswichtigen Arzneimitteln an ukrainische Krankenhäuser zusammen mit Partnern, die die Logistik übernehmen, erklärt Margarethe Zinser, Ukraine-Projektkoordinatorin bei Apotheker ohne Grenzen. So habe man seit Beginn des Krieges insgesamt Arzneimittel im Wert von rund 2,5 Millionen Euro in die Ukraine geliefert. „Das sind knapp 200 Lieferungen innerhalb von zwölf Monaten. Transportiert wurden fast ausschließlich Analgetika, Tranexamsäure, Verbandsstoffe, Desinfektionsmittel aber auch Medikation für Chroniker“, sagt sie. Vor allem zu Beginn sei der Bedarf an Arzneimitteln wahnsinnig hoch gewesen.
Hilfe geht über Arzneimittelsendungen hinaus
Action Medeor habe seit dem ersten Hilferuf eines Krankenhauses im ukrainischen Ternopil zu Beginn des Krieges mittlerweile insgesamt rund 450 Tonnen Arzneimittel in die Ukraine geliefert. „In Ternopil haben wir ein Verteilzentrum für medizinische Hilfsgüter errichtet. Inzwischen beliefern wir viele ukrainische Krankenhäuser auch direkt, also ohne die Zwischenstation im Verteilzentrum. Über beide Wege erreichen wir Abnehmer im ganzen Land. Insgesamt haben wir rund 250 Krankenhäuser mit unseren Hilfstransporten erreicht. Zusätzlich haben wir einen guten Kontakt zu staatlichen Stellen, die für die Versorgung von Krankenhäusern verantwortlich sind. Auch diese zentralen staatlichen Großhändler erhalten Spenden von Medikamenten, Verbrauchsmaterial und medizinischem Equipment“, berichtet Bremers.
Die Action Medeor hilft aber auch darüber hinaus: „In Odessa und den umliegenden Regionen kooperieren wir zudem mit verschiedenen lokalen Partnern. Die Projekte gehen hier über die Lieferung von Medikamenten hinaus, umfassen beispielsweise die Beschaffung von Öfen und Heizmaterial, die Instandsetzung von Wohnraum für Geflüchtete, die Ausgabe von Winterkleidung, die Ausgabe von Lebensmitteln, einen Mittagstisch für Kinder, die psychologische, medizinische und pharmazeutische Versorgung der Bevölkerung mit mobilen Kliniken und einer mobilen Apotheke. Diese Hilfen wollen wir auf die Gebiete Mykolajiw und Cherson ausweiten, die ersten Schritte dazu sind bereits gemacht“, sagt Bremers.
Dabei hat die humanitäre Hilfe auch einen interessanten Nebeneffekt für die ukrainischen Mediziner: „Dank der humanitären Hilfe aus den europäischen Ländern und den USA haben wir eine große Anzahl neuer Desinfektionsmittel und -produkte kennengelernt, die zur schnellen Heilung von Verbrennungen und anderen komplexen Verletzungen beitragen, sowie intravenöse Schmerzmittel, die die Lebensqualität der Patienten erheblich verbessern“, sagt Palliativmediziner Delaynyk.
Dass die Hilfe überhaupt ankommen kann, daran haben auch Vereinfachungen der Bürokratie auf beiden Seiten einen Anteil. Seitens der Bundesregierung gibt es etwa eine Allgemeinverfügung, die etwa auch die Ausfuhr von Betäubungsmitteln in die Ukraine oder benachbarte EU-Länder erleichtert [2]. Und auch auf ukrainischer Seite gibt es Erleichterungen: „Es wurde ein vereinfachtes Verfahren zur Erlangung einer neuen Einfuhrlizenz eingeführt, und die Einfuhr von Arzneimitteln in Verpackungen mit englischer Aufschrift zur Verwendung im Krankenhaussektor wurde gestattet. Das Verfahren für die Einfuhr von Arzneimitteln im Rahmen der humanitären Hilfe zur Verwendung im Krankenhausbereich wurde ebenfalls vereinfacht“, sagt Großhändlerin Kraevska.
Und dass man dabei keine Arzneimittel versende, die auch hierzulande aktuell schwer zu bekommen sind, sei dabei selbstverständlich. „Solche Arzneimittel in ein anderes Land zu senden, halten wir für unangebracht, da sie ja ansonsten auch hier der deutschen Bevölkerung in der Versorgung fehlen würden“, erklärt etwa Apotheker-ohne-Grenzen-Projektkoordinatorin Zinser.
Herausforderung Wiederaufbau
Für die Zukunft sehen alle vor allem den Wiederaufbau der Gesundheitsinfrastruktur als Herausforderung an. „Ihr Wiederaufbau wird Jahre dauern und sehr aufwendig sein. Als Hilfswerk werden wir uns an dem Wiederaufbau beteiligen, die Planungen dazu haben bereits begonnen“, sagt Action-Medeor-Sprecher Bremers. „Die Hilfe zur Selbsthilfe durch den Aufbau unabhängiger, nachhaltiger Gesundheitsstrukturen ist ein großer Bestandteil unserer Arbeit in anderen Projekten weltweit. Daher wird Apotheker ohne Grenzen auch dabei in der Ukraine mitwirken“, bekräftigt auch Zinser.
Bis man damit beginnen könne, wollen alle Organisationen ihre Hilfe vor Ort aufrechterhalten. „Niemand kann heute wissen, wie lange der Krieg anhält und welche Bedarfe und Notstände sich daraus für die Arzneimittelversorgung entwickeln. Nur eines ist sicher: Wir von Apotheker helfen wollen und können auch in Zukunft helfen. Wir werden weiterhin regelmäßig den Bedarf vor Ort erheben und zielgerichtet bedienen“, sagt etwa Apotheker-helfen-Geschäftsführer Wiegand. |
So können Sie helfen!
Wer seinen Anteil zur Hilfe für die Ukraine beitragen möchte, kann sich auf der einen Seite ehrenamtlich engagieren – ansonsten, so sagen die Sprecher der Organisationen, seien aber Geldspenden die beste Möglichkeit, die Hilfe vor Ort zu unterstützen. Spenden kann man entweder direkt online auf den Webpräsenzen der Hilfsorganisationen www.medeor.de, www.apotheker-ohne-grenzen.de, oder www.apotheker-helfen.de – oder man findet dort die Kontoverbindung. Außerdem kommen Spenden etwa über das Bündnis Aktion Deutschland hilft (www.aktion-deutschland-hilft.de) ebenfalls an.
Literatur
[1] Call for actions against Russian invasion. All Ukrainian Pharmaceutical Chamber (AUPC), http://farmpalata.com.ua/novyny/call-for-actions-against-russian-invasion/
[2] Unbürokratische Arzneimittel-Lieferungen für die Ukraine. Allgemeinverfügung des Bundesministeriums für Gesundheit, Stand: 6. März 2022, www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/unbuerokratische-arzneimittel-lieferungen-fuer-die-ukraine.html
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