Pandemie

Chinas Waterloo

SARS-CoV-2 wütet wie nie zuvor – doch besondere Mutationsgefahr besteht nicht

Drei Jahre mit Lockdowns, Massentests und Zwangsquarantäne haben in China das Pandemiegeschehen nicht bezwungen, sondern nur verschoben. Mit dem abrupten Ende der Null-COVID-Politik im Dezember 2022 schnellten in der kaum immunen Bevölkerung die Infektions- und Sterblichkeitsraten in katastrophale Höhen. Was bedeutet das für den Rest der Welt? Nach internationalem Druck hat China in größerer Zahl SARS-CoV-2-Sequenzen zur Verfügung gestellt. Bislang deutet nichts auf das Auftreten neuer besorgniserregender Varianten aus China hin.

Verkehrte Welt: Während in Europa die Corona-Pandemie langsam ausläuft, hat sie im Reich der Mitte an Fahrt aufgenommen. In der nur gering immunen Bevölkerung Chinas werde die Lockerung nicht-pharmazeutischer Maßnahmen in den kommenden Wochen zu einer hohen Zahl von SARS-CoV-2-Infektionen und erheblichem Druck auf die Gesundheitsdienste in China führen, ließ das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) am 3. Januar verlauten [1]. Amtlich bestätigt wurde die Prognose vor zwei Wochen vom China CDC, dem chinesischen Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten. Laut dessen epidemiologischem Update zur COVID-19-Situation vom 25. Januar hat die Zahl der COVID-19-Fälle auf dem chinesischen Festland im Dezember einen Rekordstand seit Beginn der Pandemie erreicht [2].

Anfang Dezember wurden noch um die 22.000 Fälle täglich gemeldet; nach dem 7. Dezember 2022 – als die chinesische Regierung angesichts der landesweiten Proteste die strikte Null-COVID-Strategie aufhob –, kam es zu einem explosiven Anstieg. Am 23. Dezember 2022 wurden knapp sieben Millionen positive Tests täglich erreicht. Dem Peak folgte ein ebenso steiles Abfallen der Inzidenzen, laut der chinesischen Behörden mit den gleichen Trends in städtischen und ländlichen Gebieten. Mit etwa zweiwöchigem Nachlauf zu den Inzidenzraten soll die tägliche Opferzahl Mitte Januar im mittleren vierstelligen Bereich gelegen haben [3]. Es wurde eine Überlastung der Krankenhäuser und Krematorien berichtet.

Nach wie vor fehle es an zuverlässigen Daten über COVID-19-Fälle, Krankenhauseinweisungen, Todesfälle sowie die Kapazität und Belegung von Intensivstationen in China, hält das ECDC fest. Unsicherheitsfaktoren sind, dass die chinesische Regierung die offizielle Veröffentlichung täglicher Corona-Daten nach fast drei Jahren ohne Begründung eingestellt hat, und dass ab 8. Dezember 2022 auch die Testvorschriften gelockert wurden. Trotzdem stiegen die Fallzahlen, auch die offiziellen, extrem an.

60.000 Tote – oder 600.000?

In China sind 25 Millionen Menschen über 60 Jahre nach Angaben in Staatsmedien völlig ungeschützt. Das entspricht nur 1,7% der Bevölkerung von rund 1,4 Mrd. Menschen. Von den 240 Millionen Chinesen über 60 Jahre sollen immerhin rund 75% geboostert sein (17,1%). Bei den Älteren über 80 seien es aber nur rund 40% [4]. Laut der Nationalen Gesundheitskommis­sion Chinas sind seit dem 8. Dezember 2022 rund 60.000 Menschen an oder mit einer Corona-Infektion gestorben. Dabei werden nur diejenigen erfasst, die in Krankenhäusern an Atemversagen oder einer starken Verschlechterung einer Grunderkrankung sterben, die als direkt durch COVID-19 verursacht gilt – eine enge Definition, die laut Experten viele COVID-19-bedingte Todesfälle ausschließt.

Abb.: Prognosen der Entwicklung in China. Das Szenario 1 zeigt die Entstehung von zwei kleineren Wellen über einen Zeitraum von vier Wochen hinweg. Im Gegensatz dazu führt das Szenario 2 zu einer großen Welle bei der Sterblichkeit. [Datendienst airfinity]

Dementsprechend liegen die hiesigen Schätzungen weit über den Angaben aus dem Reich der Mitte: Der in London ansässige Datenverarbeiter Air­finity ging Mitte Januar von rund 32.200 COVID-19-Opfern pro Tag in China aus. Seit Anfang Dezember soll es über 600.000 Tote gegeben haben. Getrieben von Reisen zum chinesischen Neujahrsfest ab dem 22. Januar wird ein neuerlicher Peak mit 4,8 Millionen Infektionen täglich erwartet. Die englischen Datenspezialisten gehen davon aus, dass die Kliniken in China zumindest regional völlig überlastet sein werden und es im Februar und März zu einer oder zwei Wellen mit 25.000 bis 35.000 Toten jeden Tag kommen wird [5]. Zum Vergleich: Die ECDC berichtet für die dritte Woche dieses Jahres rund 200 COVID-19-Todesfälle pro Tag – in 26 EU-Ländern zusammen.

Was bedeutet das für Europa?

Nach internationalem Druck hat China damit begonnen, SARS-CoV-2-Sequenzen in größerer Zahl in der Genom­datenbank GISAID EpiCoV zu hinter­legen [6]. Vom 1. Dezember 2022 bis zum 27. Januar 2023 hat China 8295 Sequenzen dort eingetragen, wovon nur 5604 Proben tatsächlich aus genau diesem Zeitraum stammen. Die Sequenzen gehörten hauptsächlich zu den Omikron-Linien BA.5.2 (65%), BF.7 (30%), BQ.1 (1,6%), BA.2.75 Sublinien einschließlich BN.1, CH.1.1 und andere (0,7%) sowie XBB (0,3%) (s. Tabelle).

Tab. 1: Vergleich der geschätzten Verteilung von besorgniserregenden (VOC) oder interessierenden (VOI) Omikron-Varianten zwischen China und Ländern der EU. Die Angaben für China stammen aus der Genomdatenbank GISAID EpiCoV und beziehen sich auf den Zeitraum 1. Dezember 2022 bis 27. Januar 2023 [6]. Die Angaben für die EU beziehen sich auf die ersten beiden Wochen des Jahres 2023. Sie wurden vom ECDC aus den neun EU-Ländern mit einem angemessenen Sequenzierungs- oder Genotypisierungsvolumen zusammengestellt. Dies sind die Länder Österreich, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, Lettland, Luxemburg, Niederlande und Schweden [9].
Variante
China
EU
Durchschnitt
Spanne
BA.5.2
65%
17,8%
11,3 bis 76,9% (BA.5)
BF.7
30%
BQ.1
1,6%
56,7%
48,4 bis 76,0%
BA.2.75 Sublinien
0,7%
15,6%
6,6 bis 27,8%
XBB
0,3%
2,7%
1,4 bis 5,6%
BA.2
1,2%
0,3 bis 15,3%
BA.4
0,2%
0,1 bis 0,9%

Die gute Nachricht: Die derzeit in China zirkulierenden Varianten sind bereits in der Europäischen Union (EU) bzw. im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Umlauf. Es wurde keine neue Variante entdeckt. Angesichts der höheren Bevölkerungsimmunität im Raum der Europäischen Union kommt die ECDC zu dem Schluss, dass der aktuelle Anstieg der Fälle dieser Varianten in China keinen signifikanten Einfluss auf die epidemiologische Situation von COVID-19 in der EU haben wird. Mit Stand vom 27. Januar 2023 gibt es keine Daten, die auf das Auftreten neuer besorgniserregender Varianten in China hindeuten. Das ECDC wird seine Bewertungen überprüfen, sobald neue Informationen verfügbar sind [2]. Da China im Vergleich zum Rest der Welt keine hohe Bevölkerungsimmunität hat, insbesondere nicht an natürlichen Infektionen, sei die Entwicklung einer Immunflucht-Variante in China nicht besonders wahrscheinlich, urteilt Prof. Dr. Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf [7]. „Natürlich ist es möglich, dass eine neue, besorgniserregendere Variante entsteht, aber die könnte auch aus anderen Teilen der Welt kommen, aus denen wir wenig Sequenzen erhalten.“

In Deutschland, wie auch in China und weltweit, dominiert weiterhin die Omikron(= B.1.1.529)-Sublinie BA.5 [6]. Zur Terminologie entsprechend der Pangolin-Nomenklatur: Ab der vierten Sublinie nach einem Buchstaben wird der neuen Sublinie der nächste Buchstabe im Alphabet zugewiesen. So stellt beispielsweise BE.1 einen Alias für BA.5.3.1.1 und BF.1 einen Alias für BA.5.2.1.1 dar [8]. XBB ist eine Rekombination von zwei Omikron-Untervarianten. XBB.1.5 ist wohl ansteckender als andere Omikron-Untervarianten, führt aber wohl nicht zu schwereren Verläufen. Die Variante ist in den USA rapide auf dem Vormarsch, hierzulande ist eine schnelle Ausbreitung bisher kaum zu beobachten (s. Tabelle).

Nach der Lockerung der Reisebeschränkungen durch die chinesische Regierung hat das Robert Koch-Institut China seit dem 9. Januar 2023 als drohendes Virusvariantengebiet eingestuft. Der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes forderte eine EU-weite Testpflicht für Einreisende aus China. Einigen konnte man sich in der EU auf eine „dringende Empfehlung“ der Ratspräsidentschaft an alle EU-Länder, die Deutschland am 9. Januar umsetzte: Reisende aus China sollen vor einem Abflug nach Deutschland mindestens einen negativen Antigenschnelltest bei der Airline vorweisen müssen, der maximal 48 Stunden alt ist. Zudem sollen Reisende nach der Landung auf Behördenanforderung stichprobenartig getestet werden können. Deutschland will außerdem, wie andere Länder, das Abwasser von Flugzeugen aus China auf mögliche neue Coronavirus-Varianten untersuchen [10]. In Frankreich sind künftig auch PCR-Tests nach der Ankunft vorgeschrieben. „Da aus China selbst kaum sichere Informationen zu den dort zirkulierenden Varianten oder dem Infektionsgeschehen allgemein verfügbar sind, macht die Sequenzierung von Reisenden aus China wie auch die Sequenzierung vom Abwasser der Flugzeuge in meinen Augen durchaus Sinn“, sagt Professor Eckerle. Bislang sei unter den verfügbaren Sequenzen aber nichts Ungewöhnliches oder Überraschendes zu entdecken. Es sei und bleibe aber wichtig, dauerhaft verlässliche Sequenzierungsdaten zu erhalten – nicht nur aus China, sondern aus jedem Land. „Wenn mehrere Länder solche Programme aufsetzten und sich gut koordinieren, kann man mit relativ wenig Investition eine gute Übersicht über die globale Viruszirkulation bekommen.“ Hingegen hält die Virologin Einreisebeschränkungen, Quarantäne oder Isolation von infizierten Reiserückkehrern aus China weder für sinnvoll noch für angemessen – wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen [8]. |

 

Literatur

 [1] Impact of surge in China COVID-19 cases on epidemiological situation in EU/EEA. European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), News 3. Januar 2023, www.ecdc.europa.eu/en/news-events/impact-surge-china-covid-19-cases

 [2] ECDC Communicable Disease Threats Report Week 4, 23. – 29. Januar 2023, www.ecdc.europa.eu/en/publications-data/communicable-disease-threats-report-23-29-january-2023-week-4

 [3] WHO Coronavirus (COVID-19) Dashboard /China. https://covid19.who.int/region/wpro/country/cn

 [4] Experten erwarten 3,7 Millionen neue Infektionen pro Tag in China. JournalMed News Gesundheitspolitik, 13. Januar 2023, www.journalmed.de/gesundheitspolitik/lesen/experten-neue-infektionen-china

 [5] China to see one longer, more severe COVID wave as Lunar Festival fuels outbreak. Airfinity 17. Januar 2023, www.airfinity.com/articles/china-to-see-one-longer-more-severe-covid-wave-as-lunar-festival-fuels

 [6] GISAID hCoV-19 Variants Dashboard https://gisaid.org/hcov-19-variants-dashboard/

 [7] Testpflicht für Reisende aus China? – Rapid Reaction. Science Media Center Germany, 4. Januar 2023

 [8] SARS-CoV-2: Virologische Basisdaten sowie Virusvarianten. RKI: www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Virologische_Basisdaten.html;jsessionid=35407EDABF57A565EF03D69828D0700B.internet061?nn=13490888#doc14716546bodyText10

 [9] ECDC: Country overview report: week 3 2023. https://covid19-country-overviews.ecdc.europa.eu/index.html

[10] Bundesregierung: Änderung der Coronavirus-Einreiseverordnung/Corona-Testpflicht für Einreisende aus China. 7. Januar 2023, www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/corona-einreiseverordnung-2027946
 

Apotheker Ralf Schlenger

 

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