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Innovative Therapie

Medizinische Software gegen Krebs und Infektionen

Welche mRNA-basierten Therapien in der Pipeline sind

Für ihre kühne Pionierarbeit auf dem Feld der messenger-RNA (mRNA), die die Basis für die rapide Entwicklung der Corona-Impfstoffe legte, erhielten Katalin Karikó und Drew Weissman den diesjährigen Medizin-Nobelpreis. Die modifizierten mRNAs, die sie etablierten, haben sich als extrem vielfältig und flexibel einsetzbar erwiesen. Auch die relativ einfache und skalierbare Herstellung verschafft ihnen prinzipielle Vorteile gegenüber klassischen Therapieansätzen. In den nächsten Jahren ist mit dem breiten Einsatz mRNA-basierter Medizin zu rechnen. Den Anfang machen weitere Impfstoffe, zunächst gegen Grippe und RSV. In wenigen Jahren sollen mRNA-basierte Immuntherapien gegen Krebs zur Verfügung stehen. | Von Ralf Schlenger 

Der „plötzliche“ Erfolg der messenger-RNA-Impfstoffe in den Pandemiejahren verschaffte einer Arzneimittelklasse den Durchbruch, an der im Grunde seit Dekaden geforscht wird. Schon in den 1990er-Jahren sahen Forschende in Arznei­stoffen auf Basis der Ribonukleinsäuren (RNA) die Chance, bislang unheilbare Krankheiten zu behandeln. Tatsächlich ist die Idee, messenger-RNA als Medikament zu nutzen, viel älter als die Corona-Impfstoffe. Als Wegbereiterin gilt die ungarische Biochemikerin Katalin Karikó, die in den 1990er-Jahren zusammen mit dem Immunologen Drew Weissman an der University of Pennsylvania an Ribonukleinsäure-vermittelten Mechanismen forschte. Zu der Zeit galt die instabile und hoch immunogene messenger-RNA als therapeutisch wertlos. „Karikó und Weissman fanden heraus, dass man künstlich hergestellte mRNA, welche anstatt von Uridin (U) den modifizierten Baustein Pseudouridin (ψ) enthält, in dendritische Zellen einbringen kann, ohne dass die eingebrachte RNA eine starke angeborene Immunantwort auslöst“, erklärt der Biochemiker Professor Claus Kuhn, der an der Universität Bayreuth zu RNA forscht. „Das modifizierte Uridin wird nicht von Toll-like receptors (TLR3, TLR7 und TLR8) erkannt, welche für das Auslösen einer angeborenen Immunantwort unerlässlich sind.“ Des Weiteren konnten Karikó und Weissman zeigen, dass mit Pseudouridin modifizierte mRNA effizient in Proteine übersetzt werden kann. Die In-vitro-Basenmodifikation der mRNA machte das Botenmolekül also stabiler, weniger immunogen und verbesserte darüber hinaus seine Translationskapazität in den Ribosomen [1]. Die wegweisenden Arbeiten von Karikó und Weissman wurden in mehreren wissenschaftlichen Veröffentlichungen beschrieben [2, 3] – aber ihre Tragweite blieb zunächst unerkannt. Die Pioniere schwammen gegen den Mainstream, kämpften jahrzehntelang um Anerkennung und finanzielle Unterstützung. Einer, der das Potenzial der RNA für die Biomedizin erkannte, war der Stammzellforscher Derrick Rossi, Professor an der Harvard-Universität. Er gründete 2010 in Boston die Firma Moderna, die zehn Jahre später nach Biontech das zweite mRNA-Vakzin gegen COVID-19 auf den Markt brachte. Unabhängig davon war schon im Jahr 2000 in Tübingen die Firma CureVac mit der Ambition an den Start gegangen, mRNA-basierte Therapeutika und Impfstoffe zu entwickeln. Ingmar Hoerr und seine Mitgründer wiesen unter anderem nach, dass Mäuse, denen man RNA als Bauplan für ein Modell-Antigen spritzte, sowohl Antikörper als auch zytotoxische T-Zellen gegen dieses Protein bildeten [4]. Später umwarben Pharmafirmen die Forschungspioniere. So holten Ugur Şahin und Özlem Türeci, die Biontech-Gründer, Katalin Karikó 2013 als Senior-Vizepräsidentin in das Unternehmen. Den Posten gab sie Ende September 2022 auf zugunsten einer Professur an ihrer Heimat-Universität Szeged in Ungarn. Am 2. Oktober dieses Jahres erhielt Katalin Karikó zu gleichen Teilen mit Drew Weissman den diesjährigen Nobelpreis für Physiologie und Medizin – ausdrücklich für jene Arbeiten, die für die Entwicklung von hochwirksamen mRNA-Impfstoffen gegen COVID-19 den Boden bereitet haben.

Die außergewöhnlich schnelle Impfstoffentwicklung gegen SARS-CoV-2 war jedoch noch auf weitere Innovationen angewiesen: zum einen auf die Möglichkeit, mRNAs chemisch weiter zu stabilisieren (durch sogenannte Kappenstrukturen, s. Abb.). Zum anderen war die Entwicklung von „lipid nanoparticle“-Formulierungen unerlässlich, um mRNAs sicher an ihren Zielort, die dendritischen Zellen unseres Immunsystems, zu transportieren.
 

Abb.: mRNA kommt aus dem Reagenzglas A: Alle mRNA-basierten Therapeutika und Impfstoffe sind chemisch ähnlich, und alle werden durch sogenannte In-vitro-Transkription hergestellt. Das zellfreie enzymatische Verfahren benötigt eine DNA-Matrize, eine RNA-Polymerase und Nucleosidtriphosphat-Bausteine. Als Matrize dient einzelsträngige DNA des gewünschten Genabschnitts.B: Im fertigen RNA-Konstrukt codiert der offene Leserahmen für das gewünschte Protein, im Falle eines Corona-Impfstoffs z. B. für das Spikeprotein von SARS-CoV-2. Die Sequenz des Leserahmens kann durch Austausch einzelner Nukleotide stabilisiert sein, z. B. gegen modifiziertes Uridin. Die 5‘-Kappenstruktur mit einem modifizierten Guanosin (7-Methylguanosin) schützt die RNA vor dem Abbau durch Nukleasen sowie vor Abwehrreaktionen der Zelle und ist für den Start der Translation wichtig. Die 5‘- und 3‘-untranslatierten Regionen erhöhen die Halbwertszeit und Stabilität der mRNA und somit die Proteinexpression. Der Poly-A-Schwanz schützt die mRNA vor enzymatischem Abbau. Entgegen der allgemeinen Annahme ist RNA in vitro übrigens sehr stabil und gut handhabbar. Im menschlichen Gewebe wird sie rasch von Nukleasen abgebaut.

mRNA-Impfungen auf dem Vormarsch

Ermutigt vom Erfolg der mRNA-Corona-Impfstoffe, haben Pharmafirmen aktuell über 250 weitere klinische Studien mit mRNAs in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Grundsätzlich haben mRNA-Impfstoffe gegenüber früheren Vakzinen mehrere Vorteile [5]:

  • Im Gegensatz zu DNA- und auf DNA-Viren basierenden Impfstoffen müssen mRNA-Vakzine nicht in den Zellkern vordringen, um in ein Protein umgewandelt zu werden. Daher besteht kein Risiko einer Integration der RNA in das zelluläre Genom und damit verbundener möglicher Spätfolgen.
  • mRNA-Impfstoffe können zügig am Computer designt, variiert und im Labor synthetisiert werden.
  • Das Verfahren ist gut skalierbar und ermöglicht eine schnelle und kostengünstige Produktion.
  • Ist der pharmazeutische Prozess einmal etabliert, kann er für jede beliebige Sequenz, die ein beliebiges Protein codiert, verwendet werden (das ist nicht der Fall bei Impfstoffen, die auf Peptiden, Proteinen, Nanopartikeln oder Viren basieren).
  • Mit der langwierigen Herstellung via Zellkultur oder Hühnerei entfällt auch die Gefahr entsprechender Verunreinigungen und Unverträglichkeiten.
  • Es werden keine Adjuvanzien benötigt.
  • Es können – gleich konventionellen Totimpfstoffen – mehrere Antigene in einer einzigen Formulierung codiert werden (ein Beispiel sind die für die Omikron-Varianten von SARS-CoV-2 angepassten Impfstoffe).

Nicht zu unterschätzen ist auch, dass die „Nische“ der Impfstoffforschung und -entwicklung für Pharmafirmen durch RNA-Technologie wieder attraktiver geworden ist. Infektionskrankheiten, für die keine oder nur eine suboptimale Impfprävention besteht, könnten künftig eher adressiert werden. Nachteilig ist, dass RNA-Impfstoffe aufgrund ihrer chemischen Labilität tiefgekühlt gelagert werden müssen. Aber: „Letztlich ist eine Lagerungstemperatur von minus 70 °C nur notwendig wenn der Impfstoff über viele Jahre aufbewahrt werden soll“, sagt Katalin Karikò in einem Interview im Deutschen Ärzteblatt [6]. Ein anderer Aspekt: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die genetischen Impfstoffe bei vielen Menschen Ängste und Widerstände hervorrufen – etwa den Verdacht, mRNA würde das Erbgut dauerhaft verändern. Gegen Impfstoffe aus Abermillionen infizierter, bebrüteter Hühnereier, die mit Chemikalien extrahiert werden, bestehen weniger Vorbehalte; mehr als 90% des Grippeimpfstoffs weltweit wird auf diese Weise produziert.

Kommt der universelle Grippeimpfstoff?

Grippevakzine auf Basis der mRNA-Technologie sind derzeit bei den Firmen CureVac/GSK, Sanofi, Pfizer/Biontech und Moderna in verschiedenen Testphasen. Biontech’s Kandidat BNT161 mit modifizierter mRNA gegen zwei Influenza-A- und zwei -B-Stämme befindet sich in Phase III (NCT05540522). Moderna hat fünf Grippeimpfstoff-Kandidaten in der Pipeline. Am weitesten gediehen, in Phase III der klinischen Prüfung, ist die tetravalente Vakzine mRNA-1010. Jedoch fielen vorläufige Daten aus der Zulassungsstudie gemischt aus: Nur die Immunantworten gegen Influenza-A-Stämme waren besser oder genauso gut wie nach der Impfung mit einem regulären Grippeimpfstoff [7]. Eine angepasste Formulierung von mRNA-1010 habe jedoch höhere Serokonversionsraten als der Komparator auch bei den B-Stämmen gezeigt, ließ die Firma jüngst verlauten [8]. Bei der Firma CureVac, die mit GSK kooperiert, stehen drei Grippeimpfstoff-Kandidaten noch in der klinischen Phase I.

Den Ansatz einer Universal-Grippeimpfung auf Basis der mRNA-Technologie verfolgt unter anderem das Vaccine Research Center des US-National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID). Der Kandidat namens H1ssF-3928 mRNA-LNP zielt auf das Membranprotein Hämagglutinin ab, das alle Grippeviren besitzen. Während der „Kopf“ dieses Proteins zwischen den Subtypen variiert, verändert sich sein „Körper“ nur langsam und bleibt über die verschiedenen Varianten relativ konstant. Die Forschenden hoffen, den Schlüssel für einen lang anhaltenden und effektiven Impfschutz gegen Grippe gefunden zu haben. Vor Kurzem startete eine Dosisfindungsstudie mit 50 Probanden und Probandinnen [9].

Nachdem die RNA-Technologie es erlaubt, mehrere Antigene in einen Impfstoff zu verpacken, wird auch dies versucht: An der University of Pennsylvania entwickelte man eine Vakzine mit mRNA-Molekülen, die für die Hämagglutinin-Antigene aller 20 bekannten Subtypen der Influenza-A- und -B-Viren codieren. Im Tierversuch induzierte der multivalente Impfstoff eine über vier Monate anhaltende Antikörperbildung, welche die Tiere vor einer tödlich verlaufenden Infektion schützte [10].

Impfstoffe auch gegen nicht-virale Infektionen

Die Pharmaunternehmen haben weitere Infektionskrankheiten im Blick, gegen die der Körper mithilfe von mRNA-Vakzinen seine eigenen Antigene produzieren könnte. Die Pipelines der bekannten Player sind bislang:

  • Moderna arbeitet an Kombinationsimpfstoffen gegen Grippe und SARS-CoV-2 sowie gegen Grippe/ SARS-CoV-2 und das Respiratorische Synzytialvirus (RSV). Eine Zulassung für den Impfstoff mRNA-1345, der Erwachsene ab 60 Jahren vor einer mit RSV-assoziierten Erkrankung der unteren Atemwege (RSV-LRTD) schützen soll, wurde im Juli bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) und bei Swissmedic beantragt. Welchen medizinischen Nutzen er über die jüngst zugelassenen konventionellen RSV-Impfstoffe hinaus bringen wird, lässt sich noch nicht sagen. Weitere Kandidaten zielen auf Noro-, Epstein-Barr(EBV)-, Herpes-simplex(HSV)-, Varizella-zoster-, humane Immundefizienz-, humane Metapneumo/Parainfluenza-3- und Zikaviren. Am weitesten gediehen (Phase III) sind ein RSV-Impfstoff für ältere Menschen und ein Cytomegalie­virus(CMV)-Impfstoff [11].
  • Biontech forscht unter anderem etwa an T-Zell-Antwort verstärkenden Corona-Impfstoffen, an COVID-19-Influenza-Kombinationsvakzinen, an Impfstoffen gegen Herpes zoster, Herpes-simplex-2, Tuberkulose und Malaria [12].
  • CureVac/GSK haben unter anderem einen Tollwut-mRNA-Impfstoff in der Phase I und solche gegen Lassafieber und Gelbfieber in der präklinischen Entwicklung [13].

„In präklinischen Studien, im Tiermodell, werden Impfstoffe gegen Borrelien oder gegen Yersinia pestis evaluiert, mit vielversprechenden Ergebnissen“, meint Katalin Karikó. Auch ein mRNA-Impfstoff, der die Erregerübertragung nach einem Zeckenstich generell unterbinden soll, wird erforscht [6]. Eine nach Indikationen gegliederte aktuelle Übersicht über weltweit entwickelte mRNA-Vakzine findet sich auf der Website des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller [14].

Die große Hoffnung: Krebsimmuntherapie

Einige der Erreger, gegen die die mRNA-Impfstoffe entwickelt werden, können Krebs an den infizierten Organen verursachen. Neben den Papillomviren (HPV) sind dies Hepatitis-B- und C-Viren (HBV/HCV), das Epstein-Barr-Virus (EBV) und das Bakterium Helicobacter pylori. Bis auf HPV können Folge-Krebserkrankungen bisher nicht durch prophylaktisches Impfen verhindert werden [15]. Dies lenkt den Fokus auf sogenannte therapeutische „Krebsimpfstoffe“. Prof Dr. Steffen Thirstrup, Chief Medical Officer bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), mahnt, im Kontext der RNA-Technologie besser von Immuntherapeutika gegen Krebs (Cancer Immunotherapy) zu sprechen. „Der Begriff Krebsimpfstoff ist missverständlich, denn gemeint sind nicht prophylaktische Impfstoffe, sondern Produkte, die das Immunsystem anregen sollen, den Kampf gegen bereits im Körper vorhandene Tumoren zu unterstützen“, unterstreicht der Kopenhagener Pharmakologe [16].

Warum gibt es nach Jahrzehnten der Forschung mit Nukleinsäuren etliche Therapeutika und Impfstoffe, aber kein Mittel gegen Krebs? Krebs ist wesentlich komplexer als eine virale oder bakterielle Infektion. Bei letzteren treten grundsätzlich körperfremde, singuläre Pathogene in den Körper ein, die das Immunsystem leicht als fremd erkennt. Gegen sie können die RNA-Plattformen maßgeschneiderte und variable Wirkstoffe erzeugen. Ein Tumor hingegen wächst aus körpereigenem Gewebe, dessen Zellen den gesunden in vielen Aspekten noch sehr ähneln. Das Immunsystem erkennt den Tumor nicht unbedingt als fremd, sondern toleriert ihn. Oder es erkennt maligne Strukturen, erreicht sie aber nicht, weil sie zum Beispiel von der Mikroumgebung um den soliden Tumor geschützt werden. Dieses „tumor microenvironment“ besteht aus verschiedenen Zellen und einer extrazellulären Matrix [15]. Innerhalb desselben Tumors sind die Milliarden Zellen teilweise stark differenziert und mutieren ständig, was die Tumorheterogenität steigert. Ein Immuntherapeutikum gegen Krebs muss nicht nur so potent sein, Myriaden von Immunzellen zu generieren. Um es zu codieren, müssen unter der Vielzahl von Zielen im Tumor geeignete, möglichst tumorspezifische Antigene gefunden werden. „Bei dieser zukunftsweisenden Krebstherapie wird das Immunsystem davon überzeugt, gezielt nur karzinogene Zellen in einem Patienten zu erkennen und abzu­töten“, formuliert Professor Claus Kuhn. Hierfür gibt es grundsätzlich zwei Strategien:

  • Tumorassoziierte Antigene (TAA): Einige Tumor­arten exprimieren nicht mutierte tumorassoziierte Strukturen, z. B. das Prostata-spezifische Antigen, gegen das sich mittels mRNA-Technologie gezielt ein Wirkstoff herstellen lässt. Biontech‘s Kandidat BNT112 beispielsweise codiert für fünf spezifische Prostata­krebs-Antigene. Gegen das Melanom wird ein multivalenter Wirkstoff entwickelt, dessen vier fixe Antigene 90% der Patienten teilen („shared antigen approach“). Entsprechende Kombinationen sind gegen HPV16, Kopf- und Hals-Krebs und Lungenkrebs (NSCLC) bei Biontech in frühen klinischen Phasen. Die „Impfung von der Stange“ ist also nicht spezifisch für den Patienten, sondern für die Tumorart. Für diese Tumoren wäre sie, einmal zugelassen, sofort verfügbar, bei wohl begrenzter Ansprechrate.
  • Individualisierte Neoantigen-Therapie (INT): Dieser Ansatz zielt auf 30 und mehr „Neoantigene“, die so einzigartig für den Tumor eines individuellen Patienten sind wie ein Fingerabdruck. Das aufwendige Prozedere verbindet Diagnostik und Therapie (Theranostik): Solide Tumoren werden biopsiert, auch einzelne Bereiche, die spezifisch verändert erscheinen. Zudem werden gesunde Zellen aus Blutproben extrahiert. Die aufbereiteten Proben werden sequenziert. „Aus den Proben identifiziert man sogenannte Neoantigene, also neue Antigene, die sowohl mutmaßlich spezifisch sind für diesen Tumor als auch mutmaßlich hoch immunogen sind“, erklärte Dr. Michael Wenger, Vizepräsident klinische Entwicklung des Unternehmens Biontech bei einer Podiumsdiskussion des Berlin Institute of Health [17]. Die Gensequenzen der selektierten Neoepitope werden in die entsprechende mRNA transkribiert und die stabilisierte mRNA, in Lipoplexe verpackt, dem Patienten zurückgegeben – in der Hoffnung auf eine potente Immunantwort, die die Krebszellen attackiert. „Der gesamte Prozess dauert ursprünglich drei bis vier Monate, derzeit sind wir bei drei bis vier Wochen, die Hoffnung ist, dass es in Zukunft noch deutlich schneller geht“, sagt Wenger.

Fallstricke der Krebsimmuntherapie

Personalisierte Krebstherapeutika müssen sehr schnell hergestellt werden, damit sie dem Patienten rechtzeitig verabreicht werden können. Immunologische Effekte treten aber auch im Erfolgsfall erst mit Verzögerung auf. Fraglich sei stets, ob man tatsächlich geeignete Neoantigene identifiziert hat, räumt Wenger ein. Voraussetzung hierfür sei, dass der Tumor die entsprechenden Gene zum Zeitpunkt der Biopsie angeschaltet haben muss. Dementsprechend sehe man in den derzeit laufenden Phase I- und Phase-I/II-Studien mit jeweils 50 bis 100 Patienten bisweilen überraschend gutes Ansprechen, aber auch Therapieversager. Konkurrent Moderna erzielte derweil einen Erfolg mit seinem Neoantigentherapeutikum mRNA-4157/V940 bei der adjuvanten Therapie des resezierten Hochrisiko-Melanoms im Stadium III/IV: Im Vergleich zur alleinigen Therapie mit dem Anti-PD-1-­Antikörper Pembrolizumab reduzierte die zusätzliche Anwendung des personalisierten Krebsmittels das Risiko von Fernmetastasen oder Tod um 65% [18]. Es handelte sich um eine Phase-IIb-Studie mit 257 Teilnehmenden (NCT03897881).

Wenger rechnet mit den ersten zugelassenen mRNA-basierten Krebstherapien in vier bis fünf Jahren. Erste Einsatzgebiete könnten adjuvante, perioperative und neoadjuvante Therapien sein. Bei den generellen Aussichten gibt sich der Biontech-Experte unterm Strich gedämpft optimistisch. „Es wäre vermessen zu sagen, wir haben die Lösung für Krebs. Wir werden mit der mRNA-Therapie Krebs nicht heilen, aber wir haben ein weiteres, sehr vielversprechendes Tool, und die Erfahrung bei vielen Krebsarten zeigt, dass es verschiedene Ansätze braucht.“ Ein universelles, prophylaktisches Krebsvakzin, wie von Vielen erhofft, sei nicht am Horizont.

RNA-Technologie: das dritte Standbein

Weitere Ansätze, die mit mRNA-Plattformen verfolgt werden, bestehen in der körpereigenen Herstellung von Proteinen als Proteinersatztherapien oder der Produktion therapeutischer Moleküle, etwa Antikörper und Cytokine. Während die systemische Cytokin-Gabe oft starke Nebenwirkungen hervorruft, könnte die intratumorale Injektion von Nukleosid-modifizierter mRNA, die für Cytokine codiert, zu einer besseren lokalen Wirkung auf Tumore bei einer minimierten Immunogenität führen. „Geeignet sind palpable und auf der Körperoberfläche befindliche Tumore, z. B. Melanome und Kopf-Hals-Tumore“, sagt Katalin Karikó [6].

Unterm Strich lässt sich sagen: Die Pharmazie steht mitten in der Entwicklung eines wichtigen, dritten Standbeins des therapeutischen Arsenals, neben den klassischen chemischen Molekülen und den therapeutischen Antikörpern. Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen sieht die RNA-Forschung in Deutschland mit an der Weltspitze [19]. Forschungsgelder fließen, das Bundesministerium für Bildung und Forschung erwartet individuelle Krebstherapien für die Patienten noch in diesem Jahrzehnt [20]. Die Corona-Pandemie, wenn sie etwas Gutes hat, verhalf der RNA-Technologie in ihren vielen Facetten nach Jahrzehnten der Forschung zum Durchbruch. |

Literatur

[1] Karikó K, Buckstein M, Ni H, Weissman D. Suppression of RNA Recognition by Toll-like Receptors: The impact of nucleoside modification and the evolutionary origin of RNA. Immunity 23, 2005, 165–175

[2] Karikó K, Muramatsu H, Welsh FA, Ludwig J, Kato H, Akira S, Weissman, D. Incorporation of pseudouridine into mRNA yields superior nonimmunogenic vector with increased translational capacity and biological stability. Mol Ther 16, 2008, 1833–1840

[3] Anderson BR, Muramatsu H, Nallagatla SR, Bevilacqua PC, Sansing LH, Weissman D, Karikó K. Incorporation of pseudouridine into mRNA enhances translation by diminishing PKR activation. Nucleic Acids Res 38, 2010, 5884–5892

[4] Hoerr I, Obst R, Rammensee HG, et al. In vivo application of RNA leads to induction of specific cytotoxic T lymphocytes and antibodies. Eur J Immunol 2000, 30(1):1-7

[5] Schiffter-Weinle M, Effertz DA. Corona-Schutzimpfung. Deutscher Apotheker Verlag Stuttgart, 1. Aufl. 2022

[6] Beerheide R, Schulze AK. Medizinreport Interview mit Prof. Dr. Katalin Karikó Universität Szeged und Penn Medicine an der University of Pensylvania: Die Einsatzmöglichkeiten von RNA-Substanzen scheinen vielfältig zu sein. Dtsch Arztebl 2023, 120(39): A-1582 / B-1351

[7] Moderna Announces Interim Phase 3 Safety and Immunogenicity Results for mRNA-1010, a Seasonal Influenza Vaccine Candidate. Moderna News 16. Februar 2023, https://news.modernatx.com/news/news-details/2023/Moderna-Announces-Interim-Phase-3-Safety-and-Immunogenicity-Results-for-mRNA-1010-a-Seasonal-Influenza-Vaccine-Candidate/default.aspx

[8] Moderna Expands the Field of mRNA Medicine with Positive Clinical Results Across Cancer, Rare Disease, and Infectious Disease. Moderna News 13. September 2023, https://investors.modernatx.com/news/news-details/2023/Moderna-Expands-the-Field-of-mRNA-Medicine-with-Positive-Clinical-Results-Across-Cancer-Rare-Disease-and-Infectious-Disease/default.aspx

[9] Clinical Trial of mRNA Universal Influenza Vaccine Candidate Begins. National Institute of Allergy and Infectious Desease News 15. Mai 2023, www.niaid.nih.gov/news-events/clinical-trial-mrna-universal-influenza-vaccine-candidate-begins

[10] Dingermann Th. Multivalenter Influenza-Impfstoff auf mRNA-Basis. Pharmazeutische Zeitung 28. November 2022, www.pharmazeutische-zeitung.de/multivalenter-influenza-impfstoff-auf-mrna-basis-137029/

[11] Research mRNA pipeline. Moderna Inc, www.modernatx.com/research/product-pipeline

[12] Wegweisende Technologien in verschiedenen Wirkstoffklassen für eine Revolution in der Medizin. Biontech SE, www.BioNTech.com/de/de/home/pipeline-and-products/pipeline.html

[13] mRNA-basierte prophylaktische Impfstoffe in Zusammenarbeit mit GSK/Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Curevac SE, www.curevac.com/pipeline/

[14] mRNA-Impfstoffe für Schutzimpfungen. Die forschenden Pharma-Unternehmen 12. Juni 2023, www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/coronavirus/rna-basierte-impfstoffe-in-entwicklung-und-versorgung

[15] EMA virtual technical media briefing on the RNA technology. Europäische Arzneimittelbehörde 3. Februar 2023, www.ema.europa.eu/en/events/ema-virtual-technical-media-briefing-rna-technology#video-recording-section

[16] Kugler LM, Pelzer M, Löffler MW. Therapeutische Impfungen gegen maligne Tumore. Pharmakon Arzneimittel in Wissenschaft und Praxis 2023;11:138-145

[17] Im Fokus: RNA, Ein neuer Hoffnungsträger in der modernen Medizin. Veranstaltung der Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht des Berlin Institute of Health der Universitätsmedizin Charité am 12. Dezember 2022, www.gentechnologiebericht.de/fileadmin/user_upload/Webseitendateien/Veranstaltungen/2022_RNA_Veranstaltung_Video.mp4

[18] mRNA-4157/V940 in Kombination mit KEYTRUDA® (Pembrolizumab) zeigte bei Patient:innen mit Hochrisiko-Melanom im Stadium III/IV nach vollständiger Resektion eine statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserung des Fernmetastasen-freien Überlebens gegenüber KEYTRUDA®-Monotherapie. Pressemitteilung Moderna/MSD Sharp & Dohme vom 6. Juni 2023

[19] RNA-Land Deutschland. Die forschenden Pharma-Unternehmen Pressemitteilung vom 5. April 2023, www.vfa.de/de/presse/pressemitteilungen/pm-007-2023-rna-land-deutschland.html

[20] Grimm C, Junginger B. Krebs: „Noch in diesem Jahrzehnt könnte der Durchbruch gelingen“. Interview mit Bettina Stark-Watzinger, Münchener Abendzeitung 30. Januar 2023, www.abendzeitung-muenchen.de/politik/ministerin-ueber-krebsforschung-noch-in-diesem-jahrzehnt-koennte-der-durchbruch-gelingen-art-875670

Autor

Ralf Schlenger ist Apotheker und arbeitet als freier Autor und Medizinjournalist in München.

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