Arzneimittel und Therapie

MS-Patienten sicher impfen

Krankheitsmodifizierende Therapie kann Immunantwort beeinflussen

Bei Patienten mit multipler Sklerose (MS) können viele Fragen aufkommen, wenn es um das Thema Impfen geht. Beispielsweise, ob Impfungen Schübe triggern können oder unter Immunsuppression überhaupt schützen. Europäische Experten gaben dazu kürzlich Antworten.

Ein europäisches Konsenspapier zur Impfung von MS-Patienten soll Impfempfehlungen für dieses Patienten­kollektiv europaweit vereinheitlichen [1]. Basis bilden sieben Fragen zu Impfungen, die eine Expertengruppe des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) und der European Academy of Neurology (EAN) beantwortet hat. Es geht um die speziellen Patientengruppen Kinder, Schwangere, ältere Menschen sowie Reisende, und wie wirksam und sicher welche Impfstoffe bei Patienten mit multipler Sklerose sind.

Keine zusätzlichen Schübe und keine stärkere Behinderung

Den Ergebnissen von 15 Studien zufolge erhöhen gängige Schutzimpfungen, z. B. gegen Influenza, Hepatitis B oder Tetanus, weder das Schubrisiko noch lassen sie die Behinderung fortschreiten. Einer 2001 im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichten Studie zufolge lag das relative Risiko für einen Schub zwei Monate nach jeglicher Impfung bei 0,71 (95%-Konfidenzintervall = 0,40 bis 1,26), woraus die Studienautoren folgerten, dass eine Impfung das kurzzeitige Risiko für einen Schub nicht erhöht [2].

Insgesamt überwiegt der Expertengruppe zufolge der Nutzen von Schutzimpfungen deren Risiken, und sie hält inaktivierte Vakzine auch für MS-­Patienten mit krankheitsmodifi­zierenden Arzneimitteln für sicher.

Foto: Animaflora PicsStock/AdobeStock

Lücken im Impfpass sollten möglichst vor Beginn einer krankheitsmodifizierenden Therapie geschlossen werden.

Lebendimpfstoffe je nach Art der MS-Therapie möglich

Differenzierter betrachten muss man eine krankheitsmodifizierende Therapie, wenn Lebendimpfstoffe gegeben werden sollen. So können dem Kon­senspapier zufolge nur MS-Patienten ohne krankheitsmodifizierende Therapie oder solche, die mit Interferonen oder Glatirameracetat behandelt werden, attenuierte Lebendimpfstoffe sicher erhalten. Folgende Wirkstoffe erhöhen durch ihre starke Immun­suppression jedoch das Risiko für Impfstoff-bezogene Infektionen, weswegen unter ihnen keine Lebend­impfstoffe verabreicht werden sollten:

  • Dimethylfumarat (z. B. Tecfidera®)
  • Teriflunomid (z. B. Aubagio®)
  • Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor­-Modulatoren wie Fingolimod (z. B. Gi­lenya®), Ozanimod (Zeposia®), Ponesimod (Ponvory®) und Siponimod (Mayzent®)
  • Natalizumab (Tysabri®)
  • Cladribin (Mavenclad®)
  • Alemtuzumab (Lemtrada®)
  • CD20-Antikörper wie Ocrelizumab (Ocrevus®) und Ofatumumab (Kesimpta®)

Bei fehlendem Impfschutz gegen Masern und/oder Varizellen raten die Experten nach Exposition zu einer Postexpositionsprophylaxe mit Immunglobulinen.

Wirken Impfungen bei Immunsuppression überhaupt?

Wie gut eine Impfung die Patienten schützt, hängt von ihrer Behandlung ab: Ohne krankheitsmodifizierende Therapie und unter Interferonen oder Glatirameracetat schütze eine Impfung vergleichbar gut wie bei gesunden Menschen, liest man im Konsensus­papier. Einen zuverlässigen Impfschutz erreiche man auch unter Dimethyl­fumarat, Teriflunomid und Natalizumab, obwohl die Antikörperantwort auf die Impfung verringert sein kann. Hin­gegen reduzieren CD20-Antikörper sowie Sphingosin-1-­Phosphat-Rezeptor-Modulatoren neben der Antikörperantwort auch den Impfschutz, sodass die Patienten zusätzlich andere Infektionsschutzmaßnahmen anwenden sollten. Nur wenige Daten fanden die Wissenschaftler zu Alemtuzumab und Cladribin, wobei sie bei diesen hochwirk­samen Arzneistoffen ebenfalls mit einem verringerten Impfschutz rechnen.

Wie wird geimpft?

Am einfachsten ist es, direkt bei Di­agnosestellung den Impfstatus der Patienten zu prüfen und Impflücken noch vor Beginn einer krankheitsmodifizierenden Therapie zu schließen. Inaktivierte Impfstoffe können zwar auch unter einer solchen Behandlung verabreicht werden – außer während eines Schubes –, idealerweise liegen jedoch zwei Wochen zwischen Impfung und Therapiebeginn. Nach Lebendimpf­stoffen gilt es, vier Wochen (vor Therapie mit Alemtuzumab und Ocrelizumab sechs Wochen) zu warten. Nach Beendigung einer krankheitsmodifizierenden Therapie sollte bei Lebendimpfstoffen (am besten auch bei inaktivierten Vakzinen) ebenfalls ein zeitlicher Abstand – abhängig vom Arzneimittel – eingehalten werden (s. Tab.). Auch zwischen der Gabe von hoch dosierten Glucocorticoiden und einem Lebendimpfstoff ist eine Latenz von vier Wochen ratsam.
 

ArzneimittelWartezeit bis zur Gabe eines Lebendimpfstoffs
Interferone / Glatirameracetatkeine
Dimethylfumaratbis Lymphozytenwerte im Normbereich
Teriflunomiddreieinhalb Monate bis zwei Jahre (unter Anwendung eines Verfahrens zur beschleunigten Elimination: eineinhalb Monate nachdem die Plasmakonzentration des Arzneimittels 0,02 mg/l unterschritten hat)
Fingolimodmehr als zwei Monate
Siponimodvier Wochen
Ozanimoddrei Monate
Ponesimodzwei Wochen
Natalizumabmehr als drei Monate
Alemtuzumabbis Lymphozytenwerte im Normbereich (ungefähr zwölf Monate)
Cladribinbis Lymphozytenwerte im Normbereich (30 bis 90 Wochen nach der letzten Gabe)
Rituximabbis B-Zell-Repletion (mehr als zwölf Monate)
Ocrelizumabbis B-Zell-Repletion (mehr als 18 Monate)
Ofatumumabbis B-Zell-Repletion (ungefähr 40 Wochen)
Glucocorticoide*ein Monat
intravenöse Immunglobulinedrei Monate (cave: Risiko einer abgeschwächten Antwort auf eine Masernimpfung für bis zu ein Jahr)
* bei Dosierungen von Prednison oder eines Äquivalents ≥ 20 mg pro Tag oder ≥ 2 mg/kg Körpergewicht pro Tag (bei einem Körpergewicht < 10 kg) für mehr als zwei aufeinanderfolgende Wochen

Welche Impfungen sollten MS-Patienten erhalten?

Für MS-Patienten gelten primär die gleichen Impfempfehlungen wie für die gesunde Bevölkerung – auch wenn die Patienten noch im Kindesalter, schwanger oder bereits älter sind. Zusätzlich sollten sich Menschen mit multipler Sklerose altersunabhängig jährlich gegen Influenza impfen lassen sowie im Fall einer derzeitigen oder geplanten immunsupprimierenden Therapie oder signifikanten Behinderung ihren Pneumokokkenschutz aktuell halten. Die Experten raten zudem zu einer HPV- (altersunabhängig) und Herpes-zoster-Impfung (ab 18 Jahren) bei stark immunsupprimierender Therapie.

Bei geplanten Reisen können sich MS-Patienten mit oder ohne krankheitsmodifizierender Therapie nach den Reiseimpfempfehlungen mit allen inaktivierten Impfstoffen impfen lassen – gegen Hepatitis A, Hepatitis B, Tollwut, Japanische Enzephalitis, Meningokokken (tetravalent), Cholera, FSME, Polio (IPV) und Typhus (inaktiviert). Lebendimpfstoffe gegen Gelbfieber, Dengue, Windpocken, Masern, Mumps, Röteln und Typhus (oral) sind kontraindiziert. Nach Möglichkeit sollten die Patienten mit den Impfungen zwei bis drei Monate vor Reiseantritt beginnen und Zeit für eventuell erforderliche Boosterimpfungen einplanen. |

Literatur

[1] Otero-Romero S et al. ECTRIMS/EAN consensus on vaccination in people with multiple sclerosis: Improving immunization strategies in the era of highly active immunotherapeutic drugs. Multiple Sclerosis Journal 2023;29(8):904-925, doi:10.1177/13524585231168043

[2] Confavreux C et al. Vaccinations and the risk of relapse in multiple sclerosis. Vaccines in Multiple Sclerosis Study Group. N Engl J Med 2001;344(5):319-326, doi: 10.1056/NEJM200102013440501

Apothekerin Celine Bichay

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