Onkologie

Wenn die Chemotherapie ans Herz geht

Kardioprotektion vor, während und nach der Tumorbehandlung

Neue Therapiemöglichkeiten, ein Anstieg an Langzeitüberlebenden und der demografiebedingte Zuwachs neuer Tumorpatienten machen Prävention und Therapie kardiovaskulärer Nebenwirkungen immer wichtiger, da diese die Langzeitmortalität und -morbidität erhöhen. Im multimodalen onkologischen Behandlungskonzept übernimmt die Kardioonkologie die Risikobewertung, Prävention und Früherkennung individueller und therapiebedingter Toxizitäten. Der Apotheker kann sein Wissen zur Arzneimitteltherapie, Compliance und Lebensstilberatung einbringen.

Strahlen- und Chemotherapie haben ihren festen Platz in der Behandlung von Tumorerkrankungen und tragen teilweise zu einem verlängerten Gesamtüberleben bei. Dieser Benefit kann allerdings mit Spätfolgen verknüpft sein. So werden etwa beim Hodgkin-Lymphom Fünf-Jahres-Überlebensraten von 80% erreicht, gleichzeitig steigt die kardiologische Mortalität um mehr als 10%. Ein weiteres Beispiel zeigt ebenfalls die Kehrseite einer potenziell lebensverlängernden Chemotherapie: Brustkrebspatientinnen weisen nach einer Anthracyclin- und/oder Trastuzumab-Therapie ein erhöhtes Risiko für eine Herzinsuffizienz auf. Und so erstaunt es nicht, dass durch Tumortherapien ausgelöste oder verstärkte kardiovaskuläre Erkrankungen zwischenzeitlich auf Platz zwei der Ursachen für Langzeit-Morbidität und -mortalität von Krebsüberlebenden liegen [2]. Daher müssen vor Beginn einer onkologischen Therapie patientenindividuelle und therapiebedingte Risikofaktoren erfasst (s. Kasten „Die Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie“) und bewertet sowie primärpräventive Maßnahmen ergriffen werden. Während der Therapie stehen Überwachung und Sekundärprävention im Mittelpunkt. Dem schließen sich die weitere Überwachung und eine Langzeit-Beobachtung an.

Die Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie

Die im September 2022 von der European Society of Cardiology (ESC) herausgegebene Leitlinie zur Kardio-Onkologie unterstützt die Ärzte onkologischer Patienten vor, während und nach der Krebsbehandlung in kardiologischen Fragen. Sie beschreibt die kardialen Risiken einzelner Therapien und gibt Empfehlungen zur Vor- und Nachsorge. Man findet genaue Vorgaben zur kardialen Risikostratifizierung, zum kardiovaskulären Monitoring und zu Behandlungsmöglichkeiten beim Auftreten einer Tumortherapie-assoziierten kardiovaskulären Toxizität (CTR-CVT; cancer therapy-related cardiovascular toxicity) [1].

Risiko im Vorfeld ermitteln

Bei der Ermittlung des patientenindividuellen Risikos werden klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Hypertonie, Rauchen, Hyperlipidämie, Alter, Diabetes und Übergewicht sowie genetische Prädispositionen erfasst. Dazu kommen die Einstufung von Vorschäden wie Myokarditis, Arrhythmien, Thromboembolien, Herzinsuffizienz, Atherosklerose, bereits erfolgte Tumortherapien (z. B. Behandlung mit Anthracyclinen oder Radiotherapien des Thorax) sowie linksventrikuläre Funktionseinschränkungen. Zusätzlich werden kardiale Biomarker wie das B-Typ-natriuretische Peptid (BNP) und sein biologisch inaktives Signalpeptid (NT-proBNP) bestimmt. Die Voruntersuchungen werden durch ein Echokardiogramm ergänzt und die linksventrikuläre Auswurffraktion, Herzfrequenz, QTc-Zeit und Blutdruck festgehalten. Eine transthorakale Echokardiografie wird für alle Krebspatienten mit kardialem Hoch­risiko vor Beginn der Tumortherapie empfohlen [1, 3]. Ebenfalls im Vorfeld einer Krebstherapie sollte das kardiotoxische Risiko der durchzuführenden Therapie eingeschätzt werden. Dazu kann der HFA-ICOS-Score der Heart Failure Association und der International Cardio-Oncology Society [4] herangezogen werden. Unter Berücksichtigung der durchzuführenden Therapie, der Vorgeschichte, der kardialen Anamnese sowie individueller Risiken kann das vermutete kardiale Risiko einer bestimmten Tumortherapie eingeschätzt werden. Daran orientieren sich die Aufklärung des Patienten, das Monitoring und das weitere Vorgehen.

Risikoerfassung vor einer potenziell kardiotoxischen Therapie

Patienten-assoziierte Risiken

  • Alter
  • kardiovaskuläre Risikofaktoren (arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie)
  • Genetik
  • Nicotinabusus
  • bestehende kardiovaskuläre Vorerkrankungen
  • Abnormalitäten bei kardialen Biomarkern (Troponin, NT-proBNP)
  • pathologisches EKG, pathologische Echokardiografie)
  • bereits erfolgte Therapien mit kardiotoxischen Substanzen

therapiebedingte Risiken

  • Substanzklasse (klassenspezifisches Risikoprofil, Art der kardiovaskulären Nebenwirkungen, individuelles Präparat)
  • kumulative Dosis
  • Applikationsart
  • Kombinationstherapie oder sequenzielle Gabe
  • begleitende Strahlentherapie
  • kardioprotektive Begleitmedikation (z. B. ACE-Hemmer, AT1-Antagonisten, Betablocker, Dexrazoxan

Primärprävention

Um die kardiovaskuläre Toxizität einer Tumortherapie zu verringern, können primärpräventive Maßnahmen ergriffen werden. Darunter fallen etwa die Gabe von ACE-Hemmern, Angiotensin-Rezeptor-Blockern, Betablockern oder Statinen bei Patienten mit hohem kardialem Risiko. So haben mehrere Studien die kardioprotektive Wirksamkeit von Angiotensin-Hemmern, Angiotensin-Rezeptor-Blockern und Betablockern bei Brustkrebspatientinnen unter einer Anthracyclin-haltigen Therapie (teilweise mit Trastuzumab) untersucht und fanden ein verringertes Risiko für eine linksventrikuläre Dysfunktion. Statine werden von den ESC-Leitlinien für die Primärprävention bei Krebspatienten mit hohem und sehr hohem Risiko einer Tumortherapie-assoziierten kardiovaskulären Toxizität empfohlen. Was die kardiotoxischen „Klassiker“ Anthracycline anbelangt, die mit einem erhöhten Risiko für linksventrikuläre Dysfunktionen und Herzinsuffizienz assoziiert sind, so werden mehrere Strategien empfohlen, so etwa das Einhalten der kumulativen Höchstdosis, längere Infusionszeiten, liposomale Formulierungen und die Gabe von Dexrazoxan [5]. Einer Metaanalyse zufolge konnte Dexrazoxan bei Erwachsenen unter einer Anthracyclin-Therapie das Auftreten einer klinisch bestätigten Herzinsuffizienz verringern oder verhindern. Eine aktuelle Studie, in der Anthracycline bei Lymphompatienten eingesetzt wurden, deutet darauf hin, dass Atorvastatin vor einer Verschlechterung der Herzfunktion schützen kann [6].

Monitoring während der Tumortherapie

Bildgebende Verfahren und die Bestimmung kardialer Parameter sind Basiselemente des allgemeinen Monitorings. Die weiteren Schritte richten sich nach der gewählten Tumortherapie. So führt die ESC-Leitlinie explizite Monitoringprotokolle und darauf basierende Empfehlungen für zahlreiche Wirkstoffgruppen auf. Darunter fallen unter anderem Protokolle für die Überwachung unter einer endokrinen Therapie oder unter Inhibitoren der Cyclin-abhängigen Kinasen 4/6 – also einer oralen Therapie mit besonderem Beratungsbedarf in der Apotheke (s. Tab. 1). Des Weiteren finden sich Handlungsempfehlungen beim Auf­treten kardialer Toxizitäten unter der Therapie [1].

Tab.: Kardiale Toxizitäten ausgewählter Wirkstoffgruppen [1]
Wirkstoffgruppe
Wirkstoffe (Beispiele)
mögliche kardiale Schäden (Auswahl)
Anthracycline
Doxorubicin, Epirubicin
Linksventrikuläre Dysfunktion,
konsekutive manifeste Herzinsuffizienz, ventrikuläre Arrhythmien
HER2-Inhibitoren
Trastuzumab, Pertuzumab
linksventrikuläre Dysfunktion,
konsekutive manifeste Herzinsuffizienz, systemische Hypertension
VEGF-Inhibitoren
Bevacizumab
arterielle Hypertonie
BRA- und MEK-Inhibitoren
Dabrafenib, Vemurafenib
linksventrikuläre Dysfunktion, arterielle Hypertonie
Proteasom-Inhibitoren
Carfilzomib
arterielle Hypertonie, Herzinsuffizienz, myokardiale Ischämie, Infarkt
Immuncheckpoint-Inhibitoren
Pembrolizumab, Atezolizumab
immunvermittelte Myokarditis, Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, akutes Koronarsyndrom, plötzlicher Herztod

Monitoring nach abgeschlossener Therapie

Ein Monitoring nach abgeschlossener Behandlung soll mögliche kardiale Schäden möglichst frühzeitig erkennen. Es wird geraten, bei asymptomatischen Patienten mit einem hohen oder sehr hohen Risiko drei Monate sowie ein Jahr nach Abschluss der Krebstherapie kardiale Biomarker festzuhalten und ein EKG durchzuführen. Für Patienten nach einer Anthracyclin- und/oder Trastuzumab-Behandlung wird ein spezielles Vorgehen vorgeschlagen (s. Kasten „Brustkrebsnachsorge“). Für andere Therapien wird meist ein Follow-up alle sechs bis zwölf Monate empfohlen. Dieses umfasst je nach Risikoeinschätzung die klinische Untersuchung, EKG, Echokardiografie und Biomarkerbestimmung. Ferner sollen kardiale Risikofaktoren (z. B. Cholesterol) regelmäßig erfasst werden. Erwachsene, die im Kindes- oder Jugendalter an einem Tumor erkrankt waren, sollten lebenslang nachkontrolliert werden.

Brustkrebsnachsorge

Nach einer Anthracyclin-Anti-HER2-Therapie ist folgendes Monitoring erforderlich [8]:

EKG und Echokardiografie

  • nach Therapieabschluss: 6, 12, 24 Monate
  • nach Therapieende: jährlich bis zum fünften Jahr
  • ab dem fünften Jahr: alle fünf Jahre; bei Symptomatik jederzeit

bei kardiovaskulären Risikofaktoren zusätzlich

  • Blutdruck mindestens jährlich messen; Lipidprofil und HbA1c-Werte jährlich bestimmen

modifizierbare Risiken ändern

  • Nicotin-Genuss, Gewichtskontrolle
  • Aufklärung über Risiko­profil; Patientenedukation zum Lebensstil

Kontrolle auch unter endokriner Therapie

Antihormonelle Therapien sind ein fester Bestandteil beim Mamma- und Prostatakarzinom, allerdings sind sie teilweise mit kardiovaskulären Risiken verbunden, so etwa bei einer Androgendeprivation beim Prostatakarzinom [1, 7] und bei einer endokrinen Brustkrebstherapie. Liegt ein Hormonrezeptor-positives Mammakarzinom vor, erfolgt in der Regel eine mehrjährige endokrine Therapie mit Tamoxifen oder einem Aromatase-Hemmer eventuell plus einem Inhibitor der Cyclin-abhängigen Kinasen 4/6. Unter Tamoxifen können die Serumlipide ansteigen, unter Ribociclib kann die QTc-Zeit verlängert werden, und unter Aromatase-Hemmern ist das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Hypercholesterinämie und Hypertension erhöht. Lipidparameter und Blutdruck sollten daher regelmäßig kontrolliert werden. Im Patientengespräch sollte aber hervorgehoben werden, dass der Benefit einer endokrinen Therapie – also das Verhindern eines Rezidivs – potenzielle kardiovaskuläre Nebenwirkungen überwiegt, zumal eine Änderung des Lebensstils diese vermindern kann. Körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, Gewichtsreduktion und Rauchstopp können dazu beitragen. |

Literatur

[1] Lyon AR, et al. ESC Scientific Document Group. 2022 ESC Guidelines on cardio-oncology developed in collaboration with the European Hematology Association (EHA), the European Society for Therapeutic Radiology and Oncology (ESTRO) and the International Cardio-Oncology Society (IC-OS). Eur Heart J 2022;43(41):4229-4361, doi: 10.1093/eurheartj/ehac244. Erratum in: Eur Heart J 2023;44(18):1621, PMID: 36017568

[2] Sturgeon KM et al.: A population-based study of cardiovascular disease mortality risk in US cancer patients. Eur Heart J 2019; 40:3889-3897

[3] Rassaf T et al. Onkologische Kardiologie. Kardiologe 2020;14:267-293, https://doi.org/10.1007

[4] CancerCalc - Clinical tools for oncology professionals. www.cancercalc.com/hfa-icos_cardio_oncology_risk_assessment.php

[5] de Baat EC et al. Dexrazoxane for preventing or reducing cardiotoxicity in adults and children with cancer receiving anthracyclines. Cochrane Database of Systematic Reviews 2022;9:Art. No.: CD014638, doi 10.1002/14651858.CD014638.pub2

[6] Neilan TG et al. Atorvastatin for Anthracycline-Associated Cardiac Dysfunction: The STOP-CA Randomized Clinical Trial. JAMA 2023;330(6):528-536, doi: 10.1001/jama.2023.11887. PMID: 37552303, PMCID: PMC10410476

[7] Okwuosa TM et al. Impact of Hormonal Therapies for Treatment of Hormone-Dependent Cancers (Breast and Prostate) on the Cardiovascular System: Effects and Modifications: A Scientific Statement From the American Heart Association. Circ Genom Precis Med 2021;14(3):e000082, doi: 10.1161/HCG.0000000000000082, Epub 2021 Apr 26. PMID: 33896190

[8] Diagnostik und Therapie früher und fortgeschrittener Mammakarzinome. Herausgegeben von der Kommission Mamma der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie e.V. in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. sowie der Deutschen Krebsgesellschaft e.V., www.ago-online.de/fileadmin/ago-online/downloads/_leitlinien/kommission_mamma/2022/AGO_2022D_Gesamtdatei.pdf

Apothekerin Dr. Petra Jungmayr

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