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Arzneimitteltherapiesicherheit

Eine für alles und alle?

Fixkombinationen stoßen in die Lücke des ursprünglichen Polypill-Konzepts

Die gesamte Medikation in nur einer Tablette verpresst – das klingt übersichtlich. Der Traum von der kardioprotektiven Polypille, die zu allen Patienten passt und sogar in der Primärprävention zum Einsatz kommen könnte, wurde zwar bisher noch nicht realisiert, dafür kommt in regelmäßigen Abständen ein neues Kombipräparat auf den Markt. Eine bessere Adhärenz gilt als erwiesen, aber verspricht diese auch ein besseres Outcome? | Von Rika Rausch

Mehrere Wirkstoffe in einer Tablette zu kombinieren ist in vielen Indikationen Standard, beispielsweise in der hormonellen Verhütung, der HIV- und Parkinson-Therapie sowie in der Antibiose. Auch in der Behandlung der Hypertonie sind Fixkombinationen inzwischen fester Bestandteil des Medikationsplans. Mit der Minimierung der Tablettenlast erhofft man sich eine erhöhte Adhärenz. Lange Zeit unklar war jedoch, ob sich diese auch in einer besseren Wirksamkeit niederschlägt.

Polypille – was ist gemeint?

Fixkombination oder Polypille – gibt es da terminologisch einen Unterschied? Als Kombinationspräparate (Composita) werden allgemein Medikamente bezeichnet, die mehrere Wirkstoffe enthalten. Der Begriff Polypille wird hauptsächlich im Kontext von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gebraucht. In der Regel werden darin niedrigdosierte Blutdruck- und Lipidsenker mit oder ohne Blutverdünner zur Prävention von kardiovaskulären Ereignissen kombiniert. Häufig handelt es sich um einen ACE-Hemmer oder einen AT2-Antagonisten, ein Sartan und Acetylsalicylsäure (ASS).

Als „Krönung der Fixkombination“ gilt die von Nichola Wald im Jahr 2003 vorgeschlagene kardioprotektive Polypille [1]. Das Präparat sollte ein Statin, drei Antihypertensiva (z. B. Thiaziddiuretikum, Beta-Blocker und ACE-Hemmer) jeweils in halber Standarddosierung sowie 75 mg ASS und 0,8 mg Folsäure enthalten und damit drei kardiovaskuläre Risikofaktoren (LDL-Cholesterol-Werte, Bluthochdruck und Homocystein) adressieren. Wald et al. postulierten eine größere Effektivität als bei separater Pharmakotherapie. Zudem sollte diese Polypille nicht nur Risikopatienten vorbehalten sein, sondern unabhängig von den Ausgangswerten und individuellen Risiken bei allen Menschen ab 55 Jahren zum Einsatz kommen. Die Forscher errechneten einen Gewinn von elf Jahren Lebenszeit. Bisher hat aber kein pharmazeutischer Hersteller eine solche Polypille auf den Markt gebracht.

Adhärenz-Frage geklärt in 2013

Im Jahr 2013 verglich die UMPIRE-Studie als erst klinische Studie überhaupt den Einsatz einer Polypille gegenüber einer konventionellen Medikation bei kardiovaskulären Hochrisikopatienten [2]. Eingeschlossen wurden 2004 Probanden mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen bzw. einem geschätzten kardiovaskulären Risiko von mindestens 15%. Die Hälfte von ihnen erhielt eine individuelle Behandlung in Form von Einzeltabletten mit unterschiedlichen Dosierungen der Wirkstoffe, die andere Hälfte eines von zwei Kombinationspräparaten, bestehend aus 75 mg ASS, 40 mg Simvastatin, 10 mg Lisinopril und 50 mg Atenolol oder 12,5 mg Hydrochlorothiazid (HCT). Die Gruppe, die die Fixkombination erhielt, zeigte nach 15 Monaten eine um ein Drittel höhere Therapieadhärenz, die auch mit deutlich verbesserten Blutdruck- und Lipidwerten korrelierte. Es zeigten sich keine signifikanten Unterschiede in der Anzahl unerwünschter Nebenwirkungen und kardiovaskulärer Ereignisse.

Dämpfer im Jahr 2014

Im Jahr 2014 ließ das Interesse an der Polypille stark nach, nicht zuletzt deshalb, weil Zweifel an ihrem Nutzen lauter wurden. In einer Metaanalyse der Cochrane Collaboration wurden neun Publikationen zum Thema ausgewertet [3]. Im Ergebnis ergab sich durch eine Polypille zwar eine effektivere Senkung von Blutdruck und Cholesterol-Spiegel sowie eine bessere Compliance, auf der anderen Seite aber auch eine höhere Mortalität und eine leichte Zunahme von Neben­wirkungen und kardiovaskulären Ereignissen.

Die Autoren bescheinigten den bis dahin verfügbaren Studien eine eher schlechte Qualität. Auffallend war die höhere Rate an unerwünschten Wirkungen, die sich im Nachhinein aber auch mit der besseren Adhärenz erklären ließe. Im Jahr 2017 untersuchte man die bis 2016 gewonnene Evidenz erneut auf die Auswirkungen von Fixkombinationen auf die Prävention von Herzinfarkt und Schlaganfall [4]. Fazit: Eine Kombinationstherapie in fester Dosierung kann den Blutdruck und den Cholesterol-Spiegel geringfügig senken, der Nutzen hinsichtlich Gesamtmortalität sowie tödliche und nicht tödliche Herzinfarkte und Schlaganfälle bleibt aber ungewiss.

Teilerfolg im Jahr 2019

Das Gießkannenprinzip einer kardiovaskulären Polypille zur Primärprävention könnte zumindest in Ländern mit einer schlechten Gesundheitsversorgung funktionieren, so das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2019 [5]. In der iranischen Golestan-Provinz wurden etwa 7000 Dorfbewohner im Alter von 50 bis 75 Jahren rekrutiert, von denen fast 90% keine Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Vorgeschichte hatten. Die Interventionsgruppe wurde mit nicht-pharmakologischen präventiven Maßnahmen sowie einer Tablette mit 81 mg ASS, 20 mg Atorvastatin, 12,5 mg HCT sowie 5 mg Enalapril (bei Reizhusten alternativ Valsartan 40 mg) behandelt, die Kontrollgruppe nur nicht-pharmakologisch, aber ohne Placebo. Nach fünf Jahren waren bei den 3421 Personen, die die „Polypille“ eingenommen hatten, deutlich seltener schwerwiegende Herz-Kreislauf-Komplikationen aufgetreten als bei den Kontrollen (adjustierte Hazard Ratio [HR] 0,66; 95%-Konfidenzintervall 0,55 bis 0,80). Wider Erwarten war nach 60 Monaten zwischen den Gruppen kein signifikanter Unterschied im systolischen oder diastolischen Blutdruck zu erkennen. Auch der LDL-Cholesterol-Spiegel war unter der Fixkombination nur unwesentlich niedriger. Die Studienautoren machen deshalb insbesondere ASS für den positiven Effekt der Polypille verantwortlich.

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Apotheker sollten Fixkombinationen in der Medikationsanalyse besondere Aufmerksamkeit widmen. Es gilt die Dosierung und die Sinnhaftigkeit des Einnahmezeitpunktes zu prüfen. Ebenso sollte die Nierenfunktion neben dem Vorteil der höheren Adhärenz nicht aus dem Blickfeld geraten.

Weiterer Aufwind im Jahr 2021

Die Beweisführung ging weiter und ließ im Jahr 2021 die Erkenntnis zu, dass Polypillen tatsächlich das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse senken können. Eine doppelblinde, randomisierte Studie untersuchte das Potenzial bei 5713 Personen mit moderatem bis hohem Risiko (gemessen am Interheart-Risk-Score) ohne Herzerkrankung in der Vorgeschichte [6]. Die Probanden erhielten randomisiert täglich entweder eine Polypille (40 mg Simvastatin, 100 mg Atenolol, 25 g Hydrochlorothiazid und 10 mg Ramipril), eine magensaftresistent überzogene Tablette mit 75 mg ASS oder eine Polypille plus ASS. Jeder Studienarm wurde gegen Placebo getestet. Über den Beobachtungszeitraum von 4,6 Jahren senkte die Polypille im Vergleich zu Placebo den systolischen Blutdruck um durchschnittlich 5,8 mmHg sowie den LDL-Cholesterol-Spiegel um 19 mg/dl. Am Ende konnte die Kombination plus ASS am meisten kardiovaskuläre Ereignisse verhindern. Dabei war die Polypille gut verträglich. Allerdings wurden Probanden, die die Medikation in einer Einschleichphase vorab nicht vertragen hatten, von vorn­herein ausgeschlossen.

Auffallend war, dass Teilnehmer mit dem höchsten Blutdruck und Diabetiker nicht von der Polypille profitierten, da sie offenkundig nicht ausreichend behandelt wurden. In den westlichen Industrienationen führte diese Studie nicht zum Durchbruch des Polypill-Konzepts.

Ein Beispiel des Scheiterns

Im Jahr 2015 kam die erste Polypille mit drei unterschiedlichen therapeutischen Wirkansätzen auf den deutschen Markt: das Präparat Sincronium® von Hexal. Mit der Blutdruck­senkung durch Ramipril (2,5 mg, 5 mg bzw. 10 mg), der Cholesterol-Senkung durch Atorvastatin (20 mg) und der Thrombozytenaggregationshemmung durch ASS (100 mg) sollte das Kombinationspräparat in der Sekundärprophylaxe bei Erwachsenen eingesetzt werden, die zuvor mit den Einzelwirkstoffen gut eingestellt waren. Laut einer Mitteilung des Herstellers verbesserte sich die Adhärenz relativ um 22% im Vergleich zu den Einzeltherapien. Kritik gab es aus der Fachwelt unter anderem wegen der starren Atorvastatin-Dosis, der Missachtung unterschiedlicher Einnahmezeitpunkte von ACE-Hemmer (morgens) und Statin (abends) sowie der fehlenden Möglichkeit, ASS magensaftresistent zu verabreichen. Nicht wenige Experten räumten der Polypille damals keine großen Chancen ein [7].

Weiterhin machte der GKV-Spitzenverband dem Präparat Sincronium® das Leben schwer. Im August 2015 teilte er der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mit, dass er die Verordnung „in der Regel als unwirtschaftlich“ betrachtet und die Krankenkassen entsprechend informiert hat [8]. So war der Preis mit Tagestherapiekosten von ca. 93 Cent dreimal so hoch wie die der Monopräparate. Einer frühen Nutzenbewertung musste sich das Präparat nicht unterziehen. Die Angst der Ärzte vor Regressen dürfte dennoch mit dazu geführt haben, dass Sincronium® Ende September 2017 wieder vom Markt genommen wurde. Hexal plant derzeit keine weiteren Polypillen, aber weitere Fixkombinationen.

Fixkombis mittlerweile etabliert

Fixkombinationen sind aus dem Alltag von Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht mehr wegzudenken. Das einfache Einnahmeschema wird von Behandler und Behandeltem gleichermaßen geschätzt. Generika-Firmen sind schon lange auf den Zug aufgesprungen und ließen die Kombinationen Gegenstand von Rabattverträgen werden.

Das Unternehmen Apontis Pharma hat sich ganz auf das Konzept „Single Pill“ spezialisiert [9]. Derzeit hat es zehn Fixkombinationen zur Behandlung von Hypertonie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Biramlo®, Iltria®, Tonotec®) im Portfolio. Zehn weitere Markteinführungen sind bis zum Jahr 2026 geplant. Zuletzt kam das Präparat RosuASS mit Rosuvastatin/ASS in den Stärken 5 mg/100 mg, 10 mg/100 mg und 20 mg/100 mg hinzu. Man stützt sich auf die START-Studie, nach der sich unter Anwendung einer Single Pill unter anderem eine signifikant höhere Therapietreue, weniger kardiovaskuläre Ereignisse, eine geringere Gesamtmortalität, eine geringere Anzahl an Hausarztbesuchen sowie geringere Gesamtkosten pro Patient ergaben. Es handelt sich dabei um eine retrospektive Beobachtungs­studie mit den Daten von fast 60.000 AOK Plus-Versicherten.

Die Meinungen gehen auseinander

Der Preis ist nach wie vor das stärkste Argument gegen eine Fixkombination. Noch immer liegen deren Tagestherapiekosten in der Regel deutlich über jenen der Einzelsubstanzen. Nach Meinung von Prof. Dr. med. Thomas Eschenhagen rechtfertigt sich dieser Umstand in den bestehenden Größenordnungen nicht (siehe Kommentar auf S. 38). Der Pharmakologe hält den Einsatz von Kombinationspräparaten für sehr sinnvoll. So empfehlen die US-amerikanische und die europäische Leitlinie zur Behandlung der Hypertonie mittlerweile regelhaft, mit zwei Antihypertensiva in einer Tablette zu beginnen. Eschenhagen ist auch weiterhin vom ursprünglichen Konzept einer kardioprotektiven Polypille überzeugt, allerdings nur, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der Global Health betrachtet, weniger mit Blick auf Deutschland, wo es um die optimale Versorgung einzelner Patienten geht. Für Prof. Dr. med. Kristian Rett ist dagegen bewiesen, dass die Polypille in der Primärprävention keinen Platz hat – anders als in der Sekundärprävention, wobei das jedoch seiner Meinung nach mit dem ursprünglichen Polypill-Konzept nichts zu tun hat (siehe Kommentar unten "Das Polypill-Konzept – gescheitert oder nicht?"). |
 

Literatur

[1] Wald NJ et al. A strategy to reduce cardiovascular disease by more than 80%. BMJ 2003;326(7404):1419

[2] Thom S et al. UMPIRE Collaborative Group. Effects of a fixed-dose combination on medication adherence and risk factors in patients with or at risk of CVD: the UMPIRE randomized clinical trial. JAMA 2013;310:918–929

[3] De Cates AN et al. Fixed-dose combination therapy for the prevention of cardiovascular disease. Cochrane Database Syst Rev 2014;4(4):CD009868,. doi: 10.1002/14651858.CD009868.pub2

[4] Bahiru E et al. Fixed-dose combination therapy for the prevention of atherosclerotic cardiovascular diseases (Review). Cochrane Database of Systematic Reviews 2017;3:Art. No.: CD009868, DOI: 10.1002/14651858.CD009868.pub3

[5] Roshandel G et al. Effectiveness of polypill for primary and secondary prevention of cardiovascular diseases (PolyIran): a pragmatic, cluster-randomised trial. Lancet 2019;394(10199):672-683

[6] Yusuf S et al. Polypill with or without Aspirin in Persons without Cardiovascular Disease. N Engl J Med 2021;384:216-228

[7] Borsch J. Eine gegen (fast) alles: ASS, Atorvastatin und Ramipril als Fixkombination: Fakten und Meinungen zur Polypille. DAZ 2015;29:28

[8] Wirtschaftlichkeit von Sincronium. Kassenärztliche Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern vom 6. April 2016, www.kvmv.de/service/verordnungsinformationen/eintrag/Wirtschaftlichkeit-von-Sincronium/

[9] Apontis Pharma führt eine neue Single Pill zur Sekundärprophylaxe in den Markt ein. Pressemitteilung vom 6. Juli 2022

Autorin

Rika Rausch ist Apothekerin und Journalistin. Seit 2017 arbeitet sie neben ihrer Tätigkeit in einer öffentlichen Apotheke als freie Mitarbeiterin bei der DAZ.

Das Polypill-Konzept – gescheitert oder nicht?

Die Meinungen gehen auseinander


Pluspunkt einfachere Einnahme

Institut für Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie, Universitätsklinikum Hamburg

Die ursprünglich von Wood und Law konzipierte Polypille für alle Menschen über 55 Jahren hat über die 20 Jahre nach ihrer Formulierung eine Evolution erfahren und ist heute deutlich besser beurteilbar. Kern des Polypille-Konzepts waren zwei Forderungen:

  • Kombination verschiedener, nachgewiesenermaßen wirksamer Arzneimittel in einer Tablette und
  • Behandlung aller Menschen ab einem bestimmten Alter.

Die zweite Forderung war von vornherein hoch umstritten und ist auch bis heute nicht gut durch Studien belegt. Praktisch alle großen Studien zur Polypille haben Populationen mit einem mittleren bis hohen Zehn-Jahres-Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingeschlossen oder sogar Patienten nach einem Herzinfarkt untersucht. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass man ein Risiko nur verringern kann, wenn es eines gibt, schaden kann man dagegen immer. Das spricht sehr gegen die pauschale Verordnung einer Polypille an alle Menschen ab einem bestimmten Alter.

Im Gegensatz dazu sehe ich keine stichhaltigen Argumente gegen die erste Kernforderung. Aus den ursprünglich sechs Substanzen (drei Blutdrucksenker, Statin, Folsäure und Acetylsalicylsäure [ASS]) sind drei bis vier Substanzen geworden (ein bis zwei Blutdrucksenker, Statin, ASS), Vitamine haben sich als unwirksam erwiesen. Die Sorgen vor Nebenwirkungen und Interaktionen haben sich nicht bewahrheitet. Der Vorwurf der „Polypharmazie“ zieht nicht. Das sage ich als Pharmakologe, der eine Disziplin vertritt, die sich nicht zuletzt durch ihren Kampf gegen die Polypharmazie definiert hat und sich dafür einsetzt, dass für alle Arzneimittel und ihre Einzelkomponenten Evidenz für eine pharmakologisch definierbare Wirkung und klinische Wirksamkeit vorliegt. Diese Forderung bleibt gültig, ist aber ganz offensichtlich bei dem umgekehrten Verfahren, nämlich etablierte Arzneimittel in einem zweiten Schritt in einer Tablette zu kombinieren, auch erfüllt.

Es kam auch der Einwand, dass nicht klar sei, ob die einzelnen Komponenten der Polypille tatsächlich additive Wirkungen entfalten („braucht man die Kombination überhaupt?“). Diese Frage ist aber in den letzten 20 Jahren durch die Praxis eingeholt worden. Aktuell nehmen in Deutschland (nur im GKV-Bereich, dazu kommen ca. 10 bis 15% Privatversicherte) 28 Millionen Menschen einen ACE-Hemmer (davon 90% Ramipril), etwa acht Millionen Statine und zwei Millionen Acetylsalicylsäure [Arzneiverordnungsreport 2021], das heißt zwei Millionen Patienten nehmen sehr wahrscheinlich alle drei. Es ist wissenschaftlich unstrittig, dass diese drei Gruppen ganz unterschiedlich wirken. Blutdrucksenkung verhindert die langfristige Mehrbelastung des Herzens und der Blutgefäße, beides eine Folge des hohen Drucks in den Gefäßen. Statine senken Cholesterol-Spiegel, schützen dadurch vor einer Cholesterol-Einlagerung in die Blutgefäße und wirken so gegen die Bildung von „Plaques“, an denen sich Blutpfropfen bilden und z. B. Herzinfarkte und Schlaganfälle auslösen können. Und ASS verringert über eine hemmende Wirkung auf Blutplättchen direkt die Bildung von Blutpfropfen. Dass z. B. ASS in der Polypille zusätzlichen Nutzen hat, ist gerade in einer großen Studie bewiesen worden [Yusuf et al. 2021].

Die Überlegenheit der Polypille gegenüber einer Standardtherapie ist inzwischen in mehreren großen Studien nachgewiesen. Diese kann man zwar alle im Einzelnen kriti­sieren (z. B. [Arzneitelegramm 2022;9:53]), aber die Gleichartigkeit der Ergebnisse stützen einander. Es stellte sich auch heraus, dass der Nutzen in allen Studien nicht so groß war wie von Wood und Law vorhergesagt, aus einer relativen Risikoreduktion von errechneten 80% sind 20 bis 30% geworden. Das ist aber immer noch ein beeindruckendes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die Vergleichsgruppen ja jeweils nach aktuellem Wissensstand und aktuellen Leitlinien behandelt worden sind (z. B. [Castellano et al. 2022]). Jeder, der täglich mehrere Tabletten einnehmen muss, weiß wie schwierig und auch unangenehm das sein kann. Der Nutzen der Polypille lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit schlicht durch die einfachere Einnahme begründen, die zu einer höheren Einnahmetreue führt. Wichtig dabei ist, dass dies nicht nur in Weltgegenden mit schlechterer Versorgung der Bevölkerung gilt [Roshandel et al. 2019, Yusuf et al. 2021] oder in Bevölkerungsgruppen mit bekannt schlechter Compliance [Munoz et al. 2019], sondern auch in westlichen Ländern inklusive Deutschland, wie gerade in der SECURE-Studie [Castellano et al. 2022] nachgewiesen.

Diese Studie ist besonders wichtig, weil sie ein Argument entkräftet, das häufig von Vertretern der pharmazeutischen Industrie und unseres etablierten Medizinsystems vorgebracht wird – dass die Polypille „nicht optimal“ sei, z. B. in der fixen Wahl einzelner Blutdrucksenker. Das stimmt sicher in Einzelfällen, hat aber weitgehend akademischen Charakter, denn die oben genannte Studie hat ja die Polypille mit der „normalen“ (optimalen?) Therapie nach aktuellen Leitlinien verglichen und war, im Mittel, besser. Ich glaube, dass diese Diskussion eher interessengeleitet ist. Wenn man mit der simplen Polypille bereits eine Mehrheit der Bevölkerung ausreichend gegen Herzinfarkt, Herzschwäche und Schlaganfall schützen kann, gibt es weniger Grund, immer neue Arzneimittel mit geringem zusätzlichen Nutzen, aber sehr hohen Preisen auf den Markt zu bringen. Unser System ist darauf angelegt, einzelne Patienten optimal zu behandeln, versagt aber tendenziell in der Versorgung von Risikopatienten in der Fläche. Es kommt also darauf an, aus welchem Blickwinkel man auf die Polypille schaut. Wenn man mit dem Blick einer High-end-Medizin und der Fachgesellschaften schaut, kann die Polypille eigentlich nur verlieren (obwohl das bislang keine einzige Studie gezeigt hat). Wenn man es aber unter dem Gesichtspunkt der Global Health oder der Perspektive eines nationalen Gesundheitswesens betrachtet, dann wäre die eventuell suboptimale Behandlung von 100% der Risikopopulation in einer Bevölkerung ohne Frage besser als die optimale Behandlung von 10% und Nicht-Behandlung des Rests. Diese Situation herrscht sicher nicht bei uns, aber in großen Teilen der Welt.

Für mich bedeutet dies, die Forderung nach mehr, besseren und kostengünstigeren Kombinationspräparaten, also letztlich Varianten der Polypille, zu wiederholen. Inzwischen empfehlen die US-amerikanischen und europäischen Hypertonie-Leitlinien den regelhaften Beginn mit zwei Antihypertensiva in einer Tablette, aber das wird bislang kaum umgesetzt. Das Marktangebot ist eher schlecht (z. B. keine Kombination von ACE-Hemmer/Angiotensin-II-Rezeptorblocker mit Chlortalidon, dem am besten untersuchten und am gleichmäßigsten wirkenden Diuretikum für den Bluthochdruck), und die Preise sind im Schnitt deutlich höher als die Summe der Einzelkomponenten. So kostet Ramipril allein im Mittel 0,06 Euro/Tag und Amlodipin 0,09 Euro/Tag, die Kombination aber 0,44 Euro/Tag. Es gibt meines Wissens nur eine Kombination im Sinne der Polypille auf dem deutschen Markt, eine Kombination von Ramipril in drei verschiedenen Dosierungen (2,5 mg, 5 mg, 10 mg), Atorvastatin 20 mg oder 40 mg und Acetylsalicylsäure 100 mg. Die Tagestherapiekosten liegen bei 0,61 Euro, während die Summe der Einzelkomponenten (standardisiert auf WHO-definierte Tagesdosen) 0,21 Euro kostet (Atorvastatin 0,12 Euro, Ramipril 0,06 Euro, ASS 0,03 Euro [Arzneiverordnungsreport 2022]). Da die Polypille einen therapeutischen Fortschritt bedeutet, spricht aus meiner Sicht nichts gegen etwas höhere Kosten, nur eben nicht ein Vielfaches. Wenn die übertriebenen Preisdifferenzen verschwänden, hielte ich die Verbreitung der Poly­pille in geeigneten Varianten (z. B. mit zwei Blutdruck­senkern oder auch mit Betablocker nach Infarkt) für eine sehr sinnvolle Entwicklung. |

Literatur

Castellano LM et al. Polypill Strategy in Secondary Cardiovascular Prevention. N Engl J Med 2022;387:967-977, DOI: 10.1056/NEJMoa2208275

Ludwig W-D, Mühlbauer B, Seifert R. Arzneiverordnungs-Report 2021. Springer Verlag GmbH 2022

Ludwig W-D, Mühlbauer B, Seifert R. Arzneiverordnungs-Report 2022. Springer Verlag GmbH 2023

Munoz D et al. Polypill for Cardiovascular Disease Prevention in an Underserved Population. N Engl J Med 2019;381:1114-1123, DOI: 10.1056/NEJMoa1815359

NN. Therapiekritik: Polypille Iltria zur kardiovaskulären Sekundärprophylaxe: Vorteil belegt? Arzneitelegramm 2022;9(53):71-72

Roshandel G et al. 2019, Effectiveness of polypill for primary and secondary prevention of cardiovascular diseases (PolyIran): a pragmatic, cluster-randomised trial. Lancet 2019;394(10199):672-683, doi: 10.1016/S0140-6736(19)31791-X

Yusuf S et al. International Polycap Study 3 Investigators. Polypill with or without aspirin in persons without cardiovascular disease. N Engl J Med 2021;384:216-228

 

Wiederauferstehung in der Sekundärprävention

Prof. Dr. Kristian Rett Endokrinologikum München

Wald und Law haben vor 20 Jahren eine kardioprotektive „Polypille“ zur bevölkerungsweiten Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei über 55-Jährigen vorgeschlagen [1], eine Einheitstherapie ohne Risiko­kategorisierung und -adjustierung. Die Polypille versagt in der Primärprävention: statt patientenrelevante Endpunkte zu reduzieren, führt das Konzept zu Unter-, Über-, und Fehlversorgung [2 – 5]. In der Sekundärprävention machen Wirkstoffkombinationen in einer einzigen Tablette dagegen durchaus Sinn. So nahm in der SECURE-Studie bei im Mittel 76-jährigen Hochrisikopatienten (kürzlicher Myokardinfarkt, hoher Anteil an Männern und Rauchern bzw. Ex-Rauchern) das Risiko für kardiovaskulären Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall mit einem Kombipräparat deutlich ab [6]. SECURE hat den Hochrisiko-Therapiestandard in einer Tablette untersucht. Das hat mit dem ursprünglichen Polypill-Konzept nichts zu tun. 1. war die Risikokategorie klar definiert, 2. war jeder Einzelwirkstoff medizinisch angezeigt, 3. waren die Kombi-Wirkstoffe variabel dosierbar. Der Haupteffekt der vereinfachten Hochrisiko-Standardtherapie dürfte auf eine verbesserte Therapietreue zurück­gehen, außerdem werden Hürden bei der ärzt­lichen Verschreibung abgebaut. |

Literatur

[1] Wald NJ, Law MR. A strategy to reduce cardiovascular disease by more than 80%. BMJ 2003;326:1419

[2] de Cates AN, Farr MR, Wright N et al. Fixed-dose combination therapy for the prevention of cardiovascular disease. Cochrane Database Syst Rev 2014;4

[3] Lonn EM, Bosch J, Lopez-Jaramillo P et al. HOPE-3 Investigators. Blood-pressure lowering in intermediate-risk persons without cardiovascular disease. N Engl J Med 2016;374:2009–2020

[4] Roshandel G, Khoshnia M, Poustchi H et al. Effectiveness of polypill for primary and secondary prevention of cardiovascular diseases (PolyIran): a pragmatic, cluster-randomised trial. Lancet 2019;394:672–683

[5] Yusuf S, Joseph P, Dans A et al. International Polycap Study 3 Investigators. Polypill with or without aspirin in persons without cardiovascular disease. N Engl J Med 2021;384:216-228

[6] Castellano JM, Pocock, SJ, Bhatt DL et al. Polypill Strategy in Secondary Cardiovascular Prevention. N Engl J Med 2022;387:967-977

1 Kommentar

Tippfehler

von IJ am 01.02.2023 um 9:59 Uhr

"Häufig handelt es sich um einen ACE-Hemmer oder einen AT2-Antagonisten, ein Sartan und Acetylsalicylsäure (ASS)." gemeint ist doch bestimmt "ein Statin und Acetylsalicylsäure (ASS)"

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