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Forschung

Wo bleibt die „Pille für den Mann“?

Neue Ansätze in puncto Verhütung

Viele Arzneimittel werden als Tablette eingenommen, aber nur eine Klasse war so prägend, dass sie sich den Titel „die Pille“ verdient hat – orale Kontrazeptiva. Die „Pille“ gab Frauen Freiheit und Autonomie in der Geburtsplanung, trennte Sex von Fortpflanzung und stieß weitreichende gesellschaftliche Umwälzungen an. Möchte hingegen der Mann Verantwortung für die Verhütung und Familienplanung übernehmen, bleibt ihm nur der Griff zum Kondom – oder zum Skalpell, also zur Vasektomie. Eine „Pille für den Mann“, auch wenn sie schon lange erforscht wird, ist auch heute noch in weiter Ferne. Warum ist das so und woran wird derzeit gearbeitet? | Von Tony Daubitz 

Die Bemühungen um eine Antibabypille für den Mann reichen mehr als 40 Jahre zurück. Mit dem Verständnis der männlichen Sexualhormone gingen Versuche einher, diese zu beeinflussen und zur Verhütung auszunutzen. Wird Testosteron als Verhütungsmittel exogen in den Körper eingebracht, vermindert es über die Feedbackschleife zum Hypothalamus und zur Hypophyse die Freisetzung der Gonadotropine Follikelstimulierendes Hormon (FSH) und Luteinisierendes Hormon (LH) und damit die Spermienproduktion und körpereigene Testosteron-Produktion (s. Abb. 1). Ob als kurzkettiger oder langkettiger Ester, als Implantat oder Injektion – die Methode funktioniert, geht aber mit erheb­lichen Nebenwirkungen einher [1]. Das Hormon führt zu Stimmungsveränderungen, Akne, Libidoveränderungen oder abnormen Leberwerten. Man holte sich deshalb Inspiration bei der „Pille“ für die Frau und lotete Kombinationspräparate mit Progestinen aus, welche die Feedback-Inhibition unterstützen, wodurch die Testosteron-Dosierung gesenkt werden konnte.

Abb. 1: Hypothalamus-Hypophysen-Hoden-Achse, vereinfacht nach [18]: Der Hypothalamus setzt pulsatil Gonadotropin-Releasing Hormon (GnRH) frei, welches im Hypophysenvorderlappen die Sekretion von luteinisierendem Hormon (LH) und follikelstimulierendem Hormon (FSH) bewirkt. LH regt die Leydig-Zellen im Hoden zur Testosteron-Produk­tion an. Die Hormonproduktion verläuft selbstlimitierend, da Testosteron über negatives Feedback die Aktivität von Hypothalamus und Hypophyse hemmt. FSH fördert über die Sertoli-Zellen die Spermienproduktion in den Hoden, die zusätzlich von Testosteron stimuliert wird. Sertoli-Zellen können durch die Sekretion von Inhibin gezielt die FSH-Freisetzung herabregeln.

Gescheiterte WHO-Studie

Den vorläufigen Schlusspunkt unter diese Entwicklung setzte 2011 eine von der WHO unterstützte Studie, die die Injektion von 1000 mg Testosteronundecanoat in Kombination mit 200 mg Norethisteronenanthat alle acht Wochen untersuchte [2]. Nach 24 Wochen sank die Spermienproduktion bei 96% der 320 Teilnehmer unter die wichtige Schwelle von einer Million Spermien pro ml Ejakulat, unterhalb derer Schwangerschaften unwahrscheinlich sind. Die Hormonspritze funktionierte ähnlich gut wie die hormonellen Kontrazeptiva für die Frau, der Pearl-Index lag bei 2,18 Schwangerschaften pro 100 Personenjahre. Die Studie scheiterte im Jahr 2011 trotzdem aufgrund von Sicherheitsbedenken. Viele Probanden litten unter Stimmungsschwankungen, depressiven Verstimmungen, Akne, Schmerzen an der Injektionsstelle und veränderter Libido. Angesichts der in 99% der Fälle milden bis moderaten Nebenwirkungen stellten kritische Stimmen im Nachgang die Frage, ob hier nicht mit zweierlei Maß gemessen wurde. Schließlich ist das Nebenwirkungsspektrum der „Antibabypille“ für Frauen ähnlich.

Gel und Pille statt Spritzen

Ganz aufgegeben ist der hormonelle Wirkansatz trotzdem noch nicht. Ein neues Progestin, Nestoron, wird in Kombination mit Testosteron derzeit im Rahmen einer Phase-IIb-Studie als täglich aufzutragendes transdermales Gel untersucht, was im Unterschied zu den Testosteronestern selbst von den Männern appliziert werden kann [3]. Da das Molekül in vitro keine androgene, estrogene oder glucocorticoide Aktivität aufweist, wird es als besonders nebenwirkungsarmer Kandidat gehandelt und ist in den USA in Kombination mit Ethinylestradiol bereits für Frauen zugelassen (Annovera™) [4].

Natürlich kann man bei den bisher diskutierten hormonellen Ansätzen nicht von einer „Pille für den Mann“ sprechen, die Pharmaka müssen entweder injiziert oder implantiert werden. Viele Männer wünschen sich aber eine Medikation, die sie nur einmal täglich einnehmen müssten. Zwei hormonelle Kandidaten haben bereits Phase-I-Studien absolviert, die Androgene Dimethandrolonundecanoat (DMAU) und 11β-Methyl-19-nortestosteron-17β-dodecylcarbonat (MNTDC) [5, 6]. Bei beiden handelt es sich um Prodrugs, die im Körper erst noch in die aktive Form überführt werden müssen. Durch die chemischen Derivatisierungen wirken die Moleküle nicht nur am Androgen-Rezeptor, sondern üben zusätzlich eine gestagene Wirkung aus. Für DMAU schloss sich 2018 eine Phase-IIa-Studie an [7]. Ergebnisse wurden eigentlich schon 2020 erwartet. Bis jetzt haben die Initiatoren der Studie aber keine Daten veröffentlicht. Derweil wird Dimethandrolonundecanoat aber auch als Implantat untersucht.

Nichts für Eilige

Generell benötigt die hormonelle Verhütung – unabhängig von der Methode – eine gewisse Anlaufzeit. Im Schnitt dauert es 72 Tage, bis die Spermienproduktion ausreichend reduziert ist [1]. Würde sich ein Paar unter einer solchen Kontrazeption doch entscheiden, ein Kind zu zeugen, benötigt die Wiederherstellung der Zeugungsfähigkeit dann wiederum bis zu zehn Monate [1]. Gleichzeitig wirken die Präparate nicht bei allen Männern, bei manchen kommt es außerdem unter Kontrazeption zum Spermien-Rebound, das heißt die Spermienproduktion wird trotz Hormonbehandlung wieder hochgefahren. Für solche Fälle wurden Antagonisten des Gonadotropin-Releasing Hormons (GnRH-Antagonisten) wie Cetrorelix (Cetrotide®) als Add-On zur Testosteron-Therapie getestet [1]. Durchgesetzt hat sich dieser Ansatz aufgrund der Kosten und häufigen Injektionen allerdings nicht.

Zwischenbilanz: Hormonelle Präparate wirken, wenn auch zeitverzögert. Im Wege stehen die Nebenwirkungen. Deshalb konzentrieren sich die Bemühungen mehr und mehr auf nicht-hormonelle Behandlungsansätze. Doch das ist gar nicht so einfach. Während bei Frauen ein Eisprung pro Monat verhindert werden muss, gilt es beim Mann 20 bis 60 Millionen Spermien pro Ejakulat unschädlich zu machen.

Keine Spermien, keine Schwangerschaft

Aufhalten lässt sich die Spermienbildung auf verschiedenen Wegen (s. Abb. 2). Beispielsweise ist Vitamin A für die Spermienproduktion in den Hoden unabdingbar, das weiß man aus Versuchen an Ratten [8]. Der aktive Metabolit Retinsäure wird lokal in den Hodenzellen aus Retinol gebildet und entfaltet seine Wirkung an den kernständigen Retinsäure-Rezeptoren im Gewebe. So hemmte in Versuchen an Mäusen der

für den Alpha-Subtyp des Rezeptors spezifische Wirkstoff YCT-529 die Spermatogenese nach vier Wochen und zeigte keine Nebenwirkungen [9]. Erste Studien am Menschen mit dem Wirkstoff sollen in diesem Jahr anlaufen, so die Firma YourChoice Therapeutics aus den USA. Sicherheitsbedenken werden aber trotzdem erhoben, da die Retinsäure-Rezeptoren in vielen anderen Geweben wichtige Funktionen erfüllen und somit langfristig unerwünschte Wirkungen nicht ausgeschlossen sind.

Abb. 2: Wirkorte der nicht-hormonellen Kontrazeptiva für den Mann.

In die Spermienproduktion eingreifen wollen Forscher aber auch auf epigenetischer Ebene. Mit sogenannten Bromo­domänen erkennen Transkriptionsenzyme acetylierte Histone und steuern die Gentranskription. Hodenspezifische Bromo­domänen in Spermien und deren Vorläuferzellen lassen sich mit Substanzen wie JQ1 oder CDD-1102 hemmen, wodurch die Spermatogenese reversibel beeinträchtigt wird [10]. Zusätzlich wurde von chinesischen Forschern ein Phytopharmakon ins Rennen geschickt [11]. Sie isolierten aus der Wilfords Dreiflügelfrucht (Tripterygium wilfordii) das Diterpen Triptonid, welches in die Spermiogenese eingreift und deformierte, nur minimal bewegungsfähige Spermien hinterlässt. Nach drei bis sechs Wochen täglicher oraler Applikation waren männliche Mäuse oder Java-Affen steril.

Ohne Ionenkanäle keine Motilität

Viele weitere Ansätze gründen sich darauf, die Beweglichkeit und Vitalität der fertigen Spermien zu beeinflussen (s. Abb. 2). Beispielsweise mit dem Targeting von Ionenkanälen. Auf der Oberfläche der Spermien befinden sich zahlreiche Ionenkanäle, die für die Vitalität der Spermien sowie deren Motilität und Befruchtungsfähigkeit eine wichtige Rolle spielen. Zu den bekanntesten zählt der CatSper-Kanal (Cation channel of sperm, Kationen-Kanal der Spermien). Das synthetische Estrogen-Analogon RU1968 sowie das Compound HC-056456 hemmten im Tierversuch den Kanal und damit die Motilität der Spermien nach akuter Anwendung [12, 13]. Zusätzlich scheinen die beiden Substanzen in geringerem Ausmaß den nur in Spermien anzutreffenden SLO3-Kaliumkanal zu inhibieren, der die Samenzellen u. a. vorbereitend für die Befruchtung der Eizelle hyperpolarisiert. Der Kaliumkanal wird deshalb ebenfalls als eigenständiges Target untersucht. Eine amerikanische Arbeitsgruppe hat VU0546110 als Inhibitor identifiziert [14]. Diese Substanz müsste womöglich aber von Frauen angewendet werden, bspw. als Vaginalgel, da die Hyperpolarisierung der Spermien erst im weiblichen Körper erfolgt.

Enzyme als Target zur Kurzzeit-Kontrazeption

Einen weiteren Angriffspunkt liefern Enzyme. Die Zellen in Hoden und Nebenhoden (Epididymis) sezernieren den epididymalen Protease-Inhibitor (EPPIN), der an die Oberfläche der Spermien andockt und für deren Motilität und Schutz vor Proteasen eine wichtige Rolle spielt. Nach Infusion des EPPIN-Inhibitors EP055 fiel die Spermienmotilität von Makaken nach sechs Stunden auf 20% des Ausgangswertes, nach 30 Stunden war keine Spermienmotilität mehr zu beobachten [15]. Nach 78 Stunden begannen sich die Spermien aber schon wieder zu erholen und nach vier bis sechs Wochen war die Motilität komplett wiederhergestellt.

Als neues Target rückte dann kürzlich die lösliche Adenylylcyclase in den Fokus. Das Enzym erzeugt aus ATP cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP), das als second messenger fungiert. Spermien benötigen das Enzym, um sich zu bewegen und im weiblichen Genitaltrakt weiter zu reifen. Verschiedene Inhibitoren dieses Enzyms wurden bis jetzt entwickelt. Als am aussichtsreichsten hat sich der Kandidat TDI-11861 erwiesen, wie die kürzlich veröffentlichten präklinischen Ergebnisse nahelegen [16]. Nach bereits einer oralen Dosis bewegten sich die Spermien von Mäusen nicht mehr. Nach Injektion setzte die Wirkung bereits nach 15 Minuten ein und schuf ein steriles Zeitfenster von 2,5 Stunden. Nach drei Stunden kehrte die Beweglichkeit der Spermien langsam zurück, um sich nach 24 Stunden komplett zu normalisieren. Mit dem Compound behandelte Mäuse paarten sich normal, ohne dass es zu Schwangerschaften kam. Solch einen Wirkstoff könnte der Mann „on demand“, vor dem Geschlechtsverkehr, einnehmen, um eine erfolgreiche Kontrazeption sicherzustellen, die am nächsten Tag schon wieder aufgehoben wäre.

Samenleiter reversibel verstopfen

Andere Verfahren benötigen gar keinen Wirkstoff. Als Alternative zur Vasektomie, die nur aufwendig wieder umgekehrt werden kann, erproben Forscher reversible Verfahren des Samenleiterverschlusses. Unter dem Namen Risug® (Reversible inhibition of sperm under guidance) formiert sich eine Technologie, bei der der Samenleiter mittels Styrol-Maleinsäureanhydrid-Copolymer verschlossen wird. Das Implantat soll dann mit Lösungsmitteln bei Bedarf wieder herausgespült werden können – was bis jetzt nur im Tierversuch demonstriert wurde [17]. In Indien befindet sich solch ein Risug®-Gel in einer Phase-III-Studie. Auch in den USA wurde ein ähnliches Gel unter dem Namen Vasalgel™ ent­wickelt, wurde aber noch nicht am Menschen untersucht.

Als Fazit lässt sich festhalten: Trotz interessanter nicht-hormoneller Wirkstoffkandidaten darf nicht vergessen werden, dass sich fast alle noch im prä-klinischen Stadium befinden. Selbst falls diese sich in Studien am Menschen bewähren – und sich interessierte Partner in der Industrie finden – dauert es noch Jahre, bis solche Präparate auch in der Apotheke abgegeben werden könnten. |

Literatur

[1] Thirumalai A, Page ST. Male Hormonal Contraception. Annu Rev Med 2020;71:17-31

[2] Behre HM et al. Efficacy and safety of an injectable combination hormonal contraceptive for men. J Clin Endocrinol Metab 2016;101:4779-4788

[3] Study of Daily Application of Nestorone® (NES) and Testosterone (T) Combination Gel for Male Contraception. https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03452111, Abruf: 11. Juni 2023

[4] Sitruk-Ware R, Nath A. The use of newer progestins for contraception. Contraception 2010;82:410-417

[5] Thirumalai A et al. Effects of 28 Days of Oral Dimethandrolone Undecanoate in Healthy Men: A Prototype Male Pill. J Clin Endocrinol Metab 2019;104:423-432

[6] Yuen F et al. Daily Oral Administration of the Novel Androgen 11β-MNTDC Markedly Suppresses Serum Gonadotropins in Healthy Men. J Clin Endocrinol Metab 2020;105:e835-e847

[7] Study of Spermatogenesis Suppression With DMAU Alone or With LNG Versus Placebo Alone in Normal Men. www.clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT03455075?term=dmau&draw=2&rank=2, Stand: August 2019, Abruf: 11. Juni 2023

[8] Norcross NR et al. Male contraceptive development: A medicinal chemistry perspective. Eur J Med Chem 2022;243:114709

[9] A non-hormonal pill could soon expand men’s birth control options. Pressemitteilung der American Chemical Society vom 23. März 2022, www.acs.org/pressroom/newsreleases/2022/march/non-hormonal-pill-could-soon-expand-mens-birth-control-options.html

[10] Matzuck MM et al. Small-molecule inhibition of BRDT for male contraception. Cell 2012;150:673-84

[11] Chang Z et al. Triptonide is a reversible non-hormonal male contraceptive agent in mice and non-human primates. Nat Commun 2021;12:1253

[12] Rennhack A et al. A novel cross-species inhibitor to study the function of CatSper Ca2+ channels in sperm. Br J Pharmacol 2018;175:3144-3161

[13] Curci L et al. Pharmacological Inactivation of CatSper Blocks Sperm Fertilizing Ability Independently of the Capacitation Status of the Cells: Implications for Non-hormonal Contraception. Front Cell Dev Biol 2021;9:686461

[14] Lyon M et al. A selective inhibitor of the sperm-specific potassium channel SLO3 impairs human sperm function. Proc Natl Acad Sci USA 2023;120:e2212338120

[15] O’Rand MG et al. Inhibition of sperm motility in male macaques with EP055, a potential non-hormonal male contraceptive. PLoS One 2018;13:e0195953

[16] Balbach M et al. On-demand male contraception via acute inhibition of soluble adenylyl cyclase. Nat Commun 2023;14:637

[17] Khilwani B et al. Risug® as a male contraceptive: journey from bench to bedside. Basic Clin Androl 2020;30:2

[18] Mutschler E, Schaible HG, Vaupel P. Anatomie Physiologie Pathophysiologie des Menschen. 6. Auflage, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2007

Autor

Dr. Tony Daubitz, Studium der Pharmazie an der Universität Leipzig; Diplomarbeit in Basel an der Hochschule für Life Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) zu antientzündlichen Eigenschaften von Bambus-Extrakten; Promotion am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin zur Pharmakologie von Anionenkanälen.

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