Kongresse

Geistige Wässer, Mother’s Little Helper und Zauberpilze

Arzneimittel und Sucht auf der Pharmaziehistorischen Biennale

Die Biennale der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (DGGP), die vom 21. bis 24. April in Nürnberg stattfand, widmete sich einem topaktuellen Thema: „Arzneimittel und Sucht – Geschichte und Ausblick“. Der Bogen wurde dabei thematisch gespannt von Psilocybin bis zur modernen Unterhaltungsmusik, als Referenten konnten nicht nur engagierte Pharmaziehistoriker, sondern auch ein Bestseller­autor gewonnen werden.

Die Eröffnung der Biennale fand in einem würdigen Rahmen statt: Im historischen Rathaussaal der Stadt Nürnberg wurden die Teilnehmer vom dritten Bürgermeister Christian Vogel, vom Präsidenten der Bundesapothekerkammer Thomas Benkert, von der Präsidentin der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft Prof. Dr. Dagmar Fischer sowie dem DGGP-­Präsidenten Prof. Dr. Ulrich Meyer herzlich begrüßt.

Der erste Vortrag befasste sich mit der Apothekengeschichte Nürnbergs. Berichte über einen ersten Apothekereid stammen aus dem Jahr 1350, ab 1443 wurde dieser jährlich abgelegt, berichtete Dr. Christiane Engel, die den Kongress vor Ort mit Unterstützung ihrer Berliner Kollegin Rotraud Mörschner organisiert hatte. Im Jahr 1546 wurde mit dem Dispensatorium des Wittenberger Medizinprofessors Valerius Cordus in Deutschland das erste Arzneibuch eingeführt, 1632 wurde mit dem Collegium Pharmaceuticum Norimbergense eine erste pharmazeutische Vereinigung gegründet. Bereits im 15. Jahrhundert sind erste Apotheken in Nürnberg nachweisbar, so die Mohren-Apotheke (1442) und die Spital-Apotheke zum Heiligen Geist (1486). Im 16. Jahrhundert kamen drei weitere Apotheken dazu. Zu Jahresbeginn 2023 gab es in Nürnberg 113 Apotheken. Besondere Verdienste erwarb sich Apotheker Hermann Peters, indem er ab 1883 mit der Pharmazie­historischen Abteilung im Germanischen Nationalmuseum die Pharmaziegeschichte auch für Laien erlebbar machte. Anhand von eindrucksvollen Fotografien zeigte Engel, welche verheerenden Auswirkungen die Bombardements im Zweiten Weltkrieg auf die Nürnberger Apotheken hatten und wie die Inhaber versuchten, den Betrieb aufrechtzuerhalten beziehungsweise später wieder aufzunehmen.

Foto: DAZ/cha

Neu gewähltals Präsidentin der DGGP wurde Dr. Susanne Landgraf und als Vizepräsident Dr. Bernhard Müller.

Geistige Wässer

Auch heute noch finden sich „Geistige Wässer für wunde Leiber und Seelen“ in jeder Apotheke – auch wenn sie an Bedeutung deutlich verloren haben. Dr. Ursula Lang schilderte in ihrem Vortrag, wie verschiedene Literaturgattungen wie Destillierbücher, z. B. der Liber de arte Distillandi de compositis von Hieronymus Brunschwig aus dem Jahr 1512, aber auch Kurztraktate und Hausarzneibücher zur Verbreitung der Destillierkunst beitrugen. Entstanden war das Brennereigewerbe bereits im Mittelalter, mit der Nutzung von stärkehaltigen Ackerfrüchten erfolgte ab Ende des 18. Jahrhunderts eine starke Ausbreitung des Branntweingewerbes. Das blieb nicht ohne Folgen: Bereits 1802 warnte Christoph Wilhelm Hufeland in „Ueber die Vergiftung durch Branntwein“ vor der Trunksucht. Große Bedeutung erlangte vor allem der Melissengeist, namhafte Hersteller waren insbesondere verschiedene Karmeliterklöster. Auch Apotheker waren an der Verbesserung des Verfahrens und der Qualität beteiligt. In verschiedenen Arzneibüchern des 18. und 19. Jahrhunderts wurde Spiritus Melissae unter anderem als Mittel gegen Schlaganfall und Lähmungen sowie bei gynäkologischen Indikationen empfohlen. Alkoholhaltige Tonika wie Amol, Doppelherz und Frauengold wurden ab den 1950er-Jahren stark beworben – das Suchtpotenzial fand dabei lange keine Erwähnung.

Die Situation von Drogenkranken in der Psychiatrie im Zeitraum zwischen 1890 und 1930 stand im Mittelpunkt des Vortrags des Medizinhistorikers Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden vermehrt suchtmachende Substanzen als Heilmittel eingesetzt. In der Folge kam es zu einer Zunahme an Suchtkranken, 1875 wurde von dem Psychiater Eduard Levinstein der Begriff „Morphiumsucht“ geprägt. Eine Rolle spielte dabei auch die Einführung von Heroin, zunächst als Mittel gegen Atemwegserkrankungen, im Jahr 1898. Eine Anlaufstelle für Suchtkranke waren die psychiatrischen Anstalten. Anhand einer Untersuchung von 301 Krankenakten der Hamburger Anstalt Friedrichsberg aus der Zeit von 1900 bis 1930 wurde aufgezeigt, das Heroinismus vor allem in Hafenstädten auftrat, das Heroin wurde von ausländischen Seeleuten ins Land gebracht. Aber auch Apotheker trugen zur Verbreitung der Sucht bei, indem sie Heroin und Kokain an Süchtige abgaben. Zudem erfolgte die Verbreitung in Cafés, Kneipen, Bars oder im Straßenhandel sowie unter Nachbarn. Neben Prostituierten, Seeleuten oder zweitrangigen Künstlern waren auch zahlreiche Personen aus dem Gesundheitswesen unter den Süchtigen.

„Nur ein Freizeit Apotheker“

Mehr als 350 Titel fand Dr. Christiane Staiger bei ihrer systematischen Suche zum Thema „Arzneimittel und Sucht in der Unterhaltungsmusik“, einige davon stellte sie als Hörbeispiele vor. Bereits 1944 sang Harry „The Hipster“ Gibson in „Who Put the Benzedrine in Mrs. Murphy‘s Ovaltine“ über die Wirkung von Amphetaminen. Benzodiaze­pine wurden 1966 von den Rolling Stones als „Mo­ther’s Little Helper“ beschrieben. In dem deutschen Titel „Medizin im Paper“ singt der Rapper Plusmacher, er sei „Kein Krimineller, nur ein Freizeit Apotheker“. Kokain wurde unter anderem von David Bowie 1980 in „Station to Station“, bekannt auch aus der Verfilmung von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, besungen. Im deutschsprachigen Raum ist vor allem der Titel „Kokain“ von Hannes Wader aus dem Jahr 1972 zu nennen. Kritische Töne zum Kokainkonsum finden sich im 1993 veröffentlichten gleichnamigen Titel von Kon­stantin Wecker. Opioide werden unter anderem von Velvet Underground (Heroin, 1967) und Michael Jackson (Morphine, 1997) besungen. Staigers Fazit: Während das „high“-Gefühl bei der Anwendung durch die Musiker, die oftmals ihre eigenen Erfahrungen verarbeiten, im Vordergrund steht, wird viel seltener die Kehrseite einer Suchterkrankung thematisiert.

Foto: Gabriele Beisswanger

Für die Organisation und die reibungslose Durchführung der Biennale bedankte sich der scheidende DGGP-Präsident Prof. Dr. Ulrich Meyer bei Dr. Christiane Engel.

Pervitin für die Soldaten

Ein für eine pharmaziehistorische Biennale eher ungewöhnlicher Referent konnte mit dem Bestsellerautor Norman Ohler gewonnen werden. Nach drei Romanen veröffentlichte dieser 2015 mit „Der totale Rausch“ sein erstes Sachbuch, von dem allein im deutschsprachigen Raum über 80.000 Exemplare verkauft wurden und das in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde. Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Bedeutung des Aufputschmittels Pervitin im Dritten Reich. Ausschlaggebend für dessen Entwicklung war, so Ohlert, dass Jesse Owens bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin mit seinen Erfolgen die Nazis düpierte. Aufgrund des – nie bestätigten – Gerüchts, Owens sei gedopt gewesen, wurde die Firma Temmler damit beauftragt, einen Syntheseweg für Methamphetamin zu finden, 1938 erfolgte die Patentierung. Pervitin schlug, so Ohlert, „ein wie eine Bombe“, wurde zum leicht erhältlichen Stimulans für jedermann – und sogar von der Firma Hildebrand in Pralinen vertrieben. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Pervitin auch von Soldaten einge­nommen – zunächst im Polenfeldzug noch auf eigene Faust. Im Westfeldzug erhielten die Soldaten Pervitin dann auf offizielle Weisung, damit sie den Überraschungsangriff durch die Ardennen ohne Schlaf durchhalten konnten. Zwar wurde Pervitin 1941 zum „Rauschgift“ erklärt, doch die Wehrmacht tangierte das nicht und setzte das Aufputschmittel auch beim Russlandfeldzug ein – allerdings mit gegenteiligem Effekt, da die Soldaten ausgelaugt waren.

Antidepressivum ausZauberpilzen

Eine bereits vor Jahrtausenden ein­gesetzte Rauschdroge auf dem Weg zum modernen Arzneimittel – darüber berichtete Prof. Dr. Ulrike Lindequist in ihrem Vortrag „Psilocybin: vom Halluzinogen aus Zauberpilzen zum (potenziellen) Antidepressivum“. Als rituelle Mittel wurden Psilocybin-haltige Pilze schon vor mehr als 3000 Jahren in Mittelamerika bei heiligen Zeremonien zur Bewusstseinserweiterung eingesetzt, und trotz der Versuche der spanischen Eroberer, die Bräuche und Kulturen der Azteken auszurotten, werden sie heute noch verwendet. Seinen Weg in die westliche Welt fand Psilocybin vor allem durch die Expeditionen des US-amerikanischen Ehepaars Gordon und Valentina Wasson, die im Jahr 1957 in Presseberichten ihre Erfahrungen mit den Pilzen schilderten. In der Folge wurde die Struktur von Psilocybin von Albert Hofmann aufgeklärt, Anfang der 1960er-Jahre brachte Sandoz das synthetisch hergestellte Indocybin zur Behandlung von Zwangsneurosen auf den Markt. Psilocybin, das unter anderem an den Serotoninrezeptoren angreift, löst tagtraumähnliche, stark emotionalisierende und oft wahrnehmungsverändernde Prozesse aus, es werden sowohl Glücksgefühle als auch Horrortrips geschildert. Da es unter der Einnahme von Psilocybin zu tragischen Ereignissen kommen kann, wurde es 1970 von der UN als Schedule I substance klassifiziert. Neben dem weiterhin stattfindenden illegalen Gebrauch, unter anderem als „Magic Mushrooms“, besteht seit den 1990er-/2000er-Jahren ein erneutes wissenschaftliches Interesse an Psilocybin. So zeigen Studien eine Wirkung bei therapieresistenten Depressionen, als weitere Indikationen kommen bipolare Störungen und Alkoholismus sowie die Begleittherapie bei Krebspatienten infrage. Lindequist betonte, dass hier weitere klinische Studien notwendig seien und dass die Anwendung immer in einer therapeutischen Umgebung erfolgen müsse.

Ärzte als Auslöser von Sucht

Ärzte als Auslöser von Sucht haben in der US-Opioidkrise eine tragende Rolle gespielt. Doch die Anfänge liegen schon viel früher, wie Prof. Dr. Axel Helmstädter in seinem Vortrag „Vom Morphinismus zur Opioid-Krise – iatrogene Sucht im 19. und 20. Jahrhundert“ darlegte. Große Dimensionen erreichte die Morphinsucht nach dessen Isolierung durch Friedrich Wilhelm Sertürner. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Morphin, in Tabletten gepresst oder subkutan injiziert, zur förmlichen Modebehandlung. Doch bereits in den 1870er-Jahren gab es erste Warnungen, man dürfe die Spritze nicht den Kranken oder deren Angehörigen überlassen – dabei waren viele Ärzte selbst süchtig. Aktuelles Beispiel für eine iatrogene Drogensucht ist die Opioidkrise in den USA. Oxycodon wurde 1916 erstmals synthetisiert und wenig später unter dem Namen Eukodal von der Firma Merck auf den Markt gebracht. 1930 wurde es als Betäubungsmittel eingestuft und 1990 vom Markt genommen. Wenig später kam Oxycodon in retardierter Form, die die Abhängigkeit verhindern sollte, in den USA als Oxycontin zurück. Der Hersteller Purdue forcierte die Anwendung mit aggressivem Marketing und beeinflusste zudem medizinische Leit­linien. Zur Verbreitung trug aber auch bei, so Helmstädter, dass das Ziel „Schmerzfreiheit“ von wirtschaftlicher Bedeutung für die Kliniken war. So nahmen 2015 mehr als ein Drittel der US-Amerikaner Opioide ein, 450.000 Todesfälle werden bislang auf die Opioid-Krise zurückgeführt.

Neben den Vorträgen wurden – vor allem von Nachwuchswissenschaftlern – 16 Poster vorgestellt und von den Tagungsteilnehmern bewertet. Der erste Preis ging an Stefanie Biermann, aufgrund von Stimmengleichheit wurden drei zweite Preise vergeben an Marcus Unger, Esther Jestädt und Dr. Bernhard Müller.

Die nächste Biennale findet vom 25. bis zum 27. April 2025 in Lüneburg statt. |

Vier Medaillen

Foto: DAZ/cha

Die diesjährigen Preisträger: Dr. Christiane Staiger (Silber), Dr. Gabriele Beisswanger (Bronze), Dr. Ursula Lang (Silber) (v. l.) sowie DGGP-Präsident Prof. Dr. Ulrich Meyer. Nicht im Bild der ebenfalls mit Bronze geehrte Hartmut Kleis.

Bei einer Pharmaziehistorischen Biennale werden traditionsgemäß vier Personen mit der Johannes-Valentin-Medaille ausgezeichnet, wobei die Medaille in Silber für wissenschaftliche Leistungen und die Medaille in Bronze für Verdienste um die DGGP verliehen wird.

Dr. Christine Ahlheim

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