Foto: damedias/AdobeStock

Arzneimittel und Therapie

Das Meer als Arzneimittellieferant

Welche marinen Naturstoffe wir nutzen und noch nutzen könnten

Die Ozeane sind bisher nur zu einem Bruchteil erforscht. Regelmäßig identifizieren Forscher neue Arten und neue Naturstoffe aus den verschiedenen Meeresorganismen, die auch großes Potenzial als Arzneimittel haben. Die Liste der zugelassenen Wirkstoffe ist bis dato kurz, doch nach Meinung von Wissenschaftlern steckt noch großes Potenzial in den Meeren. Mit dem kürzlich verabschiedeten UN-Abkommen zum Schutz der Hochsee schützt man so auch noch unentdeckte Heilmittel der Zukunft. Welche Arzneistoffe aus dem Meer schon genutzt werden und welche Forscher zu finden erwarten, lesen Sie in diesem Beitrag. | Von Volker Budinger

71% unseres blauen Planeten sind von Wasser bedeckt – und doch ist es eine Tatsache, dass die Menschheit mehr über die Oberfläche des Mondes und des Mars, gar über den Weltraum selbst weiß, als über die Ozeane und besonders die Tiefsee. Das liegt unter anderem daran, dass das Meer bei all seiner Lebensfülle ein für Landlebewesen wie den Menschen eher feindlicher Lebensraum ist. Die maximale Tauchtiefe für Sporttaucher liegt gerade einmal bei 40 m. Nur Ausnahmesportler schaffen Tiefen bis zum bisherigen Apnoe-Tauchrekord von 214 m oder gar 332 m mit Geräten [1]. Wer noch tiefer tauchen möchte, benötigt metallene Druck­anzüge oder gar tiefseetaugliche Tauchboote.

Leben allerdings gibt es wohl in allen Bereichen des Meeres. Das meiste sicherlich in der Lichtzone, dem Epipelagial bis zu 200 m Tiefe. Aber auch die Dämmerzone, das Mesopelagial bis zu 1000 m Tiefe, wimmelt noch von Leben – und in der Dunkelheit der Tiefsee von 1000 m bis zur bislang tiefsten bekannten Stelle von 11.034 m ist Leben zu finden. Umso besser, dass nun mit dem über 15 Jahre ausgehandelten und kürzlich verabschiedeten UN-Abkommen zum Schutz der Hochsee [2] eine Grundlage zum Schutz der Biodiversität der Meere geschaffen wurde (s. Kasten „UN-Abkommen zum Schutz der Hochsee“). Und das kommt schließlich auch der Menschheit wieder zugute – etwa in Form von pharmazeutisch verwendbaren Wirkstoffen aus dem Meer.

UN-Abkommen zum Schutz der Hochsee

Nach über 15 Jahren Verhandlungen haben die Vereinten Nationen am 4. März 2023 das sogenannte Hochsee­abkommen verabschiedet. In diesem völkerrechtlichen Vertrag, der Teil des UN-Seerechtsübereinkommens UNCLOS (United Nations Convention on the Law of the Sea) ist, wird ein rechtlicher Rahmen festgelegt, um Meeresschutzgebiete in der Hochsee einzurichten. Die Hochsee ist der Bereich der Weltmeere, der nicht zur sogenannten „ausschließlichen Wirtschaftszone“ eines Landes gehört, sie stellt also internationales Gewässer dar. Rund zwei Drittel der Weltmeere zählen in diesen Bereich und waren aus Umweltschutzsicht bislang weitgehend rechtsfreier Raum. Nun sollen mindestens 30% dieses Bereichs geschützt werden, um dem Artensterben vorzubeugen und auch, um die „genetischen Ressourcen der Hohen See“ gerecht aufzuteilen. Das Abkommen muss nun noch von mindestens 60 Unterzeichnerstaaten in deren Parlamenten ratifiziert werden. Der Wortlaut des Abkommens-Textes findet sich auf der Website der Vereinten Nationen (www.un.org/bbnj/content/home).

Unter anderem sieht das Abkommen vor, dass Gewinne aus der Nutzung der genetischen Ressourcen des Meeres – wie etwa insbesondere zur Entwicklung neuer Arzneimittel – gerechter zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden aufgeteilt werden sollen. Dazu soll es eine Fondslösung geben, in den die Industrie- und Schwellenländer zunächst einen Pauschalbetrag einzahlen sollen. Später sollen dann prozentuale Gewinn-­Anteile in den Fonds einfließen, von denen Unter­nehmen, die mit der entsprechenden Nutzung mariner Organismen und deren Ressourcen Gewinne machen.

Großes Potenzial sekundärer Metabolite aus marinen Organismen und deren Mikrobiom

„Es gibt ein großes Potenzial an Naturstoffen aus dem Meer, die sich unter Umständen als Arzneimittel nutzen lassen könnten“, sagt etwa Prof. Dr. Peter Schupp, Professor für Umweltbiochemie am Institut für Chemie und Biologie des Meeres der Universität Oldenburg. Die Arbeitsgruppe des pharmazeutischen und Meeresbiologen beschäftigt sich insbesondere mit den sekundären Metaboliten der Meeresbewohner. Mehr als 30.000 Verbindungen haben Forscher weltweit allein in den vergangenen rund 20 Jahren entdeckt, die etwa antimikrobiell, zytostatisch, fungizid oder antiviral wirken – von Stoffen ganz abgesehen, die sich auch etwa in der Kosmetik, Lebensmittelproduktion oder der Herstellung von Kunststoffen einsetzen lassen. Das Potenzial dieser Stoffe zu erforschen, ist dabei eine durchaus aufwendige Arbeit. „Die Organismen produzieren diese Stoffe ja nicht, um uns einen Gefallen zu tun, sondern verteidigen sich damit etwa gegen Fraßfeinde, Konkurrenten oder pathogene Bakterien“, erklärt Schupp.

Dazu kommt, dass viele Stoffe, die in Organismen gefunden werden, gar nicht ursprünglich aus diesen stammen. Ein Beispiel ist der Antitumorwirkstoff Kahalalid F, der aus der Meeresschnecke Elysia rufescens isoliert wurde. Diese akkumuliert den Wirkstoff lediglich, nachdem sie ihn durch Verzehr von Algen der Gattung Bryopsis sp. aufgenommen hat. „Es ist in vielen Fällen auch so, dass das Mikrobiom von Meerestieren der eigentliche Produzent dieser Stoffe ist“, erklärt Schupp. Allerdings produzieren auch viele der Schwämme, Seescheiden oder Meeresschnecken selbst Naturstoffe, die gegen verschiedene Erkrankungen eingesetzt werden können. Und viele davon sind noch unbekannt. „Gerade Korallenriffe, die die höchste Biodiversität unter den marinen Habitaten aufweisen, besitzen auch ein enormes Potenzial für die Entdeckung neuer pharmakologisch aktiver Verbindungen. Sie stellen sozusagen einen Hotspot für die marine Naturstoff-Forschung und die Entwicklung neuer Medikamente aus dem Meer dar“, erläutert Schupp.

Bislang überschaubare Anzahl an zugelassenen marinen Wirkstoffen

Tatsächlich zugelassen oder zumindest in der klinischen Erprobung sind allerdings erst eine noch überschaubare Anzahl an Wirkstoffen marinen Ursprungs. Obwohl bereits die antiken Griechen Heilmittel aus dem Meer einsetzten – auch das Meerwasser an sich – gilt die Erforschung des Meeres als möglicher Ursprung pharmazeutischer Wirkstoffe noch als recht junges Forschungsgebiet. Weniger als einhundert Wirkstoffe haben es in den vergangenen Jahren zur Zu­lassung oder wenigstens zur Erforschung in klinischen Studien geschafft. Das liegt unter anderem daran, dass die Substanzen oft nur in geringen Mengen in den Organismen produziert werden, diese selbst oft schwierig zu kultivieren sind und auch nicht in großer Zahl gefangen werden können und sollen, schon aus Naturschutzgründen. „Da kommt dann die synthetische Chemie ins Spiel“, sagt Schupp. Diese sucht nach Wegen, die zum Teil komplexen organischen Moleküle synthetisch nachzubauen.

Zu den bekannten Arzneimitteln aus dem Meer gehört etwa der zuletzt bei der COVID-19-Pandemie eingesetzte antivirale Wirkstoff Remdesivir (Veklury®). Er geht auf einen Fund aus den 1950er-Jahren zurück, als mit der Erfindung des Gerätetauchens auch die Erforschung der Meere allmählich in Gang kam. In dem karibischen Flachwasserschwamm Tectitethya crypta fanden Wissenschaftler die Nukleoside Spongo­uridin und Spongothymidin. Diese Analoga der Nukleoside Uracil und Thymidin unterscheiden sich von denen der Säugetiere durch ihr Zuckerrückgrat, welches statt aus Ribose oder aus Desoxyribose bei den Schwämmen aus Arabinose besteht. Als Arzneimittel eingesetzt, führen diese Analoga in entarteten Krebszellen oder von Viren befallenen Zellen bei der DNA- oder RNA-Replikation zu einem Strangabbruch. Der Wirkstoff Cytarabin oder Ara-C (z. B. Ara-Cell®) wurde daraus als Zytostatikum entwickelt und war 1969 [3] das erste zugelassene marine Arzneimittel. Einige Zyto- und Virostatika bis hin zu Remdesivir wurden daraus entwickelt, darunter das Virostatikum Vidarabin bzw. Ara-A – allerdings nur in der Zeit von 1967 bis 1976 und dann erst wieder seit der Jahrtausendwende.

Peptide, Macrolactone und komplexe Alkaloide

Das Peptid Ziconotid kam als nächstes marines Arzneimittel erst im Jahr 2004 unter dem Handelsnamen Prialt® auf den US-amerikanischen Markt. Ziconotid wird synthetisch hergestellt und wurde ursprünglich aus der marinen Kegelschnecke Conus magnus als Bestandteil von deren Gift isoliert, mit dem das Weichtier Beutetiere lähmt. Der Wirkstoff wird eingesetzt als starkes Schmerzmittel bei schweren chronischen Schmerzen. Es handelt sich dabei um einen N-Typ-Calcium­kanalblocker, der als nichtopioides Analgetikum wirkt.

Foto: imago images/Auscape\UIG
Abb. 1: Der Seehase Dolabella auricularia kann eine Länge von bis zu 40 cm erreichen.

Bis zum Jahr 2019 wurden weltweit sechs Arzneimittel marinen Ursprungs für die Behandlung von Tumorerkrankungen zugelassen:

  • Cytarabin (s. oben)
  • Eribulin-Mesylat, ein Zytostatikum, das gegen metastasierenden Brustkrebs eingesetzt wird. Dabei handelt es sich um ein synthetisches Analogon von Halichondrin B aus dem Meeresschwamm Halichondria okadai (Handelsname Halaven®).
  • Brentuximab-Vedotin, ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat bestehend aus Monomethyl-Auristatin E (Vedotin), das von Dolastatin-10 abgeleitet wurde, und dem monoklonalen CD30-Antikörper Brentuximab. Dola­statin-10 wird von Cynaobakterien gebildet, die in einer Symbiose mit dem Seehasen Dolabella auricularia (s. Abb. 1) leben. Das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat wird gegen Hodgkin-Lymphome, systemische anaplastische großzellige Lymphome sowie kutane T-Zell-Lymphome eingesetzt (Handelsname Adcetris®).
  • Trabectidin, ein Alkaloid aus der Seescheide Ecteinascidia turbinata (s. Abb. 2), das bei Weichteilsarkomen und Ovarialkarzinomen indiziert ist (Handelsname Yondelis®).
  • Plitidepsin, ein Depsipeptid aus der Seescheide Aplidium albicans. Es wird zur Behandlung von Leukämie, Lymphomen und multiplen Myelomen eingesetzt (Handelsname Aplidin®).
  • Polatuzumab-Vedotin, ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat, bei dem Monomethyl-Auristatin E an einen gegen CD76b-gerichteten Antikörper konjugiert ist. Indikationen sind chronische lymphatische Leukämie, B-Zell-Lymphome und Non-Hodgkin-Lymphome (Handelsname PolivyTM).
Foto: imago images/imagebroker
Abb. 2: Die Seescheide Ecteinascidia turbinata, hier zwischen Seegras, ist weit verbreitet und kommt z. B. an der Küste Floridas, im Mittelmeer und im Ostatlantik vor.

Bis Ende 2022 gab es weitere Zulassungen, sodass bis dahin insgesamt 17 Arzneimittel marinen Ursprungs zugelassen waren, darunter zwölf Tumor-Therapeutika [4]. Einige davon sind weitere Antikörper-Wirkstoff-Konjugate mit Mono­methyl-Auristatin E, bei denen der zytotoxische Wirkstoff gezielt zu den Krebszellen dirigiert wird.

Schutz der Meere ist auch Schutz künftiger Arzneimittel

Rund 30 Wirkstoffe, von denen ein Großteil ebenfalls auf dem Prinzip der antikörpervermittelten spezifischen Wirkung beruht, sind noch in verschiedenen Phasen der klinischen Erprobung. Unter anderem auch das Gift des Kugelfischs, Tetrodotoxin, das als Halneuron® zurzeit als potenzielles Schmerzmittel gegen Chemotherapie-induzierte neuropathische Schmerzen erprobt wird [5].

Aber auch Wirkstoffe gegen Morbus Alzheimer [6], das Humane Immundefizienz-Virus HIV [7], Malaria [8] und weitere Erkrankungen bzw. Erreger befinden sich in verschiedenen Phasen der Erforschung, ebenso wie neue Antibiotika aus dem Meer. Die Cephalosporine stammen etwa aus einer marinen Schimmelpilzart [9] und das Protein Hydramacin aus Nesseltieren der Gattung Hydra gilt als ein Kandidat unter den antimikrobiellen Wirkstoffen [10].

„Der Schutz der Meere schützt also auch die zukünftige Arzneimittelforschung“, sagt Schupp. Indem man durch das nun verabschiedete UN-Abkommen dem Verlust der marinen Biodiversität entgegenwirken kann, lassen sich auch zukünftig noch unbekannte Wirkstoffe finden. „Wenn wir uns nicht beeilen, dem Verlust der Biodiversität entgegenzuwirken, werden wir wahrscheinlich ein enormes Potenzial an möglichen Arzneimitteln aus dem Meer verlieren“, warnt der Forscher. |

 

Literatur

[1] Rosenberg M. Tiefsee – Wer taucht wie tief? Letzte Aktualisierung: 2. März 2020, Informationen von Planet Wissen, www.planet-wissen.de/natur/meer/tiefsee/pwiewertauchtwietief100.html

[2] Mücke P. UN-Abkommen zum Schutz der Meere: „Historisch und überwältigend“. Nachricht der Tagesschau, 5. März 2023, www.tagesschau.de/ausland/un-hochseeabkommen-101.html

[3] Dyshlovoy SA, Honecker F. Marine Compounds and Cancer: The First Two Decades of XXI Century. Mar Drugs 2019;18(1):20, doi: 10.3390/md18010020

[4] Dyshlovoy SA, Honecker F. Marine Compounds and Cancer: Updates 2022. Mar Drugs 2022;20(12):759, doi: 10.3390/md20120759

[5] Wex Pharmaceuticals Inc. enrolls in Korea as part of the multinational phase 2B clinical trial evaluating the efficacy and safety of Halneuron® in the treatment of chemotherapy-induced neuropathic pain. Nachricht der Wex Pharmaceuticals Incorporation, 21. März 2023

[6] Russo P et al. New Drugs from Marine Organisms in Alzheimer’s Disease. Mar Drugs 2016;14(1):5, doi:10.3390/md14010005

[7] Al-Khayri JM et al. Therapeutic Potential of Marine Bioactive Peptides against Human Immunodeficiency Virus: Recent Evidence, Challenges, and Future Trends. Mar Drugs 2022;20(8):477, doi: 10.3390/md20080477

[8] Althagbi HI et al. Marine-Derived Macrocyclic Alkaloids (MDMAs): Chemical and Biological Diversity. Mar Drugs 2020;18(7):368, doi: 10.3390/md18070368

[9] Silber J, Kramer A, Labes A, Tasdemir D. From Discovery to Production: Biotechnology of Marine Fungi for the Production of New Antibiotics. Mar Drugs 2016;14(7):137, doi: 10.3390/md14070137

[10] Jung S, Dingley AJ, Augustin R et al. Hydramacin-1, structure and antibacterial activity of a protein from the basal metazoan Hydra. J Biol Chem 2009;284(3):1896-905, doi: 10.1074/jbc.M804713200

 

Autor

Volker Budinger, Diplom-Biologe, Freier Redakteur & Texter für Wissenschaft, Umwelt und Gesundheit, Drehbuchautor, Rettungshelfer

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.